Religionswissenschaft
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionswissenschaft.100076
1. Überblick
Die Religionswissenschaft versteht sich als eine kulturwissenschaftlich arbeitende Disziplin, die Religion und Religionen als empirische Gegenstände in historischer und systematischer Hinsicht untersucht (Hock, 2002a, 7; Stausberg, 2012b, 1). Innerhalb der Religionswissenschaft können verschiedene Teildisziplinen unterschieden werden, die je nach Ansatz und Forschungsgegenstand verschiedene Methoden heranziehen (Kurth/Lehmann, 2011; Stausberg/Engler, 2011). Aus der speziellen Entwicklungsgeschichte des Faches heraus resultiert die herkömmliche Unterscheidung zwischen historischer und systematischer Religionswissenschaft, die sich auch heute noch in der Benennung zahlreicher religionswissenschaftlicher Lehrstühle an den Universitäten im deutschsprachigen Raum widerspiegelt. In dieser klassischen Arbeitsteilung beschäftigt sich die historische Religionswissenschaft mit den konkreten geschichtlichen Formen von Religion und Religionen bzw. deren Erschließung aus dem überlieferten Quellenmaterial (z.B. Texten, Gegenständen etc.), während die systematische Religionswissenschaft allgemeine und methodische Querschnittsfragen stellt und an der religionswissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung arbeitet (zu einschlägigen Methoden vgl. die Artikel → Empirie
Die zunehmende Ausdifferenzierung der Religionswissenschaft in den letzten Jahrzehnten hat allerdings dazu geführt, dass dieses Modell nicht mehr überall auf die Vielfalt religionsbezogener Forschungen anwendbar ist, da sich diese weiter entwickelt haben und inzwischen eine Reihe religionswissenschaftlicher Ansätze und Subdisziplinen umfassen, die ihre je eigenen Fragestellungen und Methodiken verfolgen. Stellvertretend für diese Ansätze seien die Religionsästhetik, die sich mit den sinnlich wahrnehmbaren Aspekten von Religionen beschäftigt (Mohn, 2004; Pezzoli-Olgiati, 2012), die Religionsökonomie, die wirtschaftliche und verhaltensökonomische Aspekte von Religion untersucht (Koch, 2011), oder die stark interdisziplinär ausgerichteten Ritual-Studien, die die rituelle Praxis von Religionsgemeinschaften erforschen (Brosius/Michaels/Schrode, 2013), angeführt. Auch die Erforschung von genderspezifischen und postkolonialen Fragestellungen ist in der Religionswissenschaft inzwischen weit verbreitet (Castro Varela do Mar/Dhawan, 2005; Franke/Maske, 2012; 2007; Nehring, 2012a).
Die neuere Religionswissenschaft versteht sich zumeist als Teil der Kulturwissenschaften (Kippenberg/Stuckrad, 2003, 11-15). Dabei handelt es sich um eine Bezeichnung, die gegenwärtig zunehmend die ältere akademische Bezeichnung Geisteswissenschaft ablöst. Im weitesten Sinne kann unter Kulturwissenschaft die wissenschaftliche Beschäftigung mit allen Formen und Hervorbringungen menschlicher Kultur betrachtet werden (Böhme, 2000). Im engeren Sinne jedoch verweist die Bezeichnung Kulturwissenschaften auf eine fächerübergreifende Strömung innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich auf einen grundlegenden Perspektivwechsel, den sogenannten cultural turn beruft (Bromley/Göttlich/Winter, 1999; Hall, 1999; Lackner/Werner, 1999). Dieser neue, im angloamerikanischen Bereich als cultural studies, im Deutschen oft auch als Kulturstudien bezeichnete disziplinübergreifende Forschungsansatz, richtet seinen Fokus auf Kultur als komplexes Feld sozialer Handlungen und kommunikativer Artikulationen, in dem verschiedene Konstruktions- und Aneignungsprozesse im sogenannten „magischen Dreieck“ von Kultur, Macht und Identität stattfinden (Marchart, 2003, 10). Kulturelle, d.h. auch religiöse Bedeutungen und Werte, werden nicht als unveränderliche oder universale Referenzpunkte unterschiedlicher menschlicher Gemeinschaften angesehen, sondern als historisch gewordene Größen, die stetigen Veränderungen und globalen Aushandlungsprozessen unterliegen. Auch ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Religionswissenschaft ist daher notwendigerweise ein historisches Unterfangen, das die geschichtliche Transformation von diskursiven Praktiken in den Mittelpunkt der Untersuchungen stellt (Bergunder, 2011). Dies ermöglicht der Religionswissenschaft auch neue Perspektiven auf ihren Forschungsgegenstand Religion, indem sie ihr Interesse nicht mehr nur auf religiöse Hochkultur (z.B. dominante Institutionen, religiöse Stifterfiguren und kanonische Texte) richtet, sondern auch andere Untersuchungsgegenstände, wie etwa Formen religiöser Alltags- und Gegenwartskultur, Migrations-, Transkulturations- und Hybridisierungsprozesse sowie religiöse Minderheiten, zu ihrem Gegenstand macht (Hock, 2002b). Ebenso können globale Aushandlungsprozesse um religiöse Bedeutungen und Werte in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion rücken.
Religionswissenschaft als Disziplin ist notwendig auf eine Bestimmung ihres Gegenstands, mit dem sie sich beschäftigt, angewiesen (Bergunder, 2011; Gladigow, 1988). Doch hier stößt die Religionswissenschaft wie alle gegenstandsbezogenen Wissenschaften bereits auf ihr wichtigstes Problem: Was ist Religion? Anders als es unser alltagssprachlicher Gebrauch des Wortes Religion impliziert, ist bei Weitem nicht immer klar, was unter Religion zu verstehen ist und wie sich etwas, das als Religion bezeichnet wird, von anderen Allgemeinbegriffen wie z.B. Kultur abgrenzen lässt. Zahlreiche gegenwärtige gesellschaftliche Debatten sind anschauliche Beispiele für die definitorische Unschärfe des Religionsbegriffs: Handelt es sich bei Scientology um eine Religionsgemeinschaft, der der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt werden muss, oder um ein Wirtschaftsunternehmen? Ist das Tragen eines Kopftuches durch Musliminnen ein religiöser Akt oder bloß eine kulturelle Konvention, die nichts mit dem Islam zu tun hat? Welche Rolle spielt Religion als Faktor in kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit und der Gegenwart? Gerade die verstärkte Wahrnehmung des Islams in der westlichen Öffentlichkeit und die vielbeschworene Rückkehr der Religion in Form eines religiösen Fundamentalismus nach dem Ende der säkularen Moderne sind Indizien dafür, wie hochgradig politisiert unsere Wahrnehmung von Religion in der Öffentlichkeit ist (Haustein, 2011; Lehmann, 2004; Nehring, 2006). Ein kurzer analytischer Blick auf diese Debatten zeigt allerdings recht schnell, dass sich in gesellschaftlichen Diskursen verschiedene Verständnisse und Zuschreibungen von Religion oft überlagern und der zunächst so selbsterklärend scheinende Begriff Religion längst nicht so eindeutig definierbar ist. Vielmehr zeigt sich, dass gesellschaftliche Debatten über Religion häufig gerade um die Deutungshoheit darüber kreisen, was als Religion zu betrachten ist und was nicht als Religion gilt. Öffentliche Kommunikation über Religion beinhaltet daher immer auch Aushandlungsprozesse über die Legitimität und Macht von als religiös artikulierten Positionen, denn die Abgrenzung von Religion als einem Teilbereich im Gegenüber zu anderen, als nicht-religiös verstandenen Teilbereichen ist ein wichtiges Merkmal moderner Gesellschaften, besonders im westlichen Kontext. Zudem wird in analytischer Perspektive auch deutlich, dass der Religionsbegriff – genau wie andere Allgemeinbegriffe, die in der öffentlichen Kommunikation über Religion eine Rolle spielen (Kultur, Moderne, Säkularisierung etc.) – immer auch kontextuell und geschichtlich geprägt ist und deshalb als kontingent und wandelbar angesehen werden muss (Asad, 1993; Fitzgerald, 2000). Die Bestimmung dessen, was in gesellschaftlichen Debatten als Religion bezeichnet wird, hängt also wesentlich von dem Religionsverständnis ab, das den verschiedenen Positionen in diesen Diskursen zugrundeliegt.
Das Problem des Religionsbegriffs und die Frage, wie Religion definiert werden kann, wird in der Religionswissenschaft als Frage nach der Gegenstandsbestimmung breit diskutiert und bildet den Kernbereich religionswissenschaftlich-theoretischer Reflexion. Auch innerhalb der Religionswissenschaft existiert jedoch kein Konsens darüber, wie Religion genau zu definieren ist. Daher spiegelt die fachliche Binnendebatte über den Begriff Religion zugleich auch die konstitutive Unabschließbarkeit aller gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse über Religion wider, mit denen die Religionswissenschaft eng verzahnt ist. Die Religionswissenschaft als kulturwissenschaftliche Disziplin bietet nun in diesem Kontext keinen normativen oder theologischen Zugang zu Religion an sich, sondern untersucht Religion in ihren verschiedenen empirisch vorfindlichen Formen, die immer in unterschiedliche kulturelle, soziale und politische Zusammenhänge eingebunden sind. Sie betrachtet Religion in diesem Sinne nicht als feststehende Größe, d.h. als Phänomen, das eine universale Geltung und empirische Wirklichkeit besitzt und daher eindeutig beschreibbar ist (z.B. durch eine sogenannte Realdefinition), sondern als eine diskursive Kategorie, die in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen geformt und beständig verändert wird (Schiffauer, 2000, 148-151; Stuckrad, 2003, 266). Als Diskurse werden in diesem Zusammenhang „wirklichkeits- bzw. wahrheitskonstitutive, machtdurchdrungene Formationen“ (Stausberg, 2012b, 15) verstanden, die sprachliche und nicht-sprachliche Artikulationen bzw. Handlungen umfassen und ein Feld sozialer Identitäten konstituieren. Auch die Religionswissenschaft und die wissenschaftliche Rede von Religion selbst sind Teil dieses diskursiven Transformationsprozesses, denn nicht selten wirkt wissenschaftliche Forschung unmittelbar zurück auf ihre spezifischen Forschungsfelder ebenso wie auch ganz allgemein auf gesellschaftliche Debatten über Religion.
2. Der Religionsbegriff in der Religionswissenschaft
Die hier kurz skizzierten Probleme der Bestimmung von Religion könnten zu dem Schluss führen, dass eine universale Definition von Religion nicht notwendig ist, weil sie entweder nicht allgemein genug oder umfassend genug wäre. Es existiert schlicht kein konsensfähiger Allgemeinbegriff von Religion, der so global und kulturübergreifend ist, dass er die Vielzahl und Heterogenität der verschiedenen lebensweltlichen, als Religion bezeichneten Phänomene umfasst. In der Religionswissenschaft und den angrenzenden Disziplinen existiert daher eine große Bandbreite an Vorschlägen zur Definition von Religion, die mit je ganz verschiedenen Zugängen zu Religion/Religionen als Forschungsgegenstand verbunden ist (Drehsen/Gräb/Weyel, 2005; Figl, 2003; Hock, 2002a, 10-21). Dabei lassen sich zwei Haupttypen des Religionsbegriffs unterscheiden, die sowohl die Geschichte der Religionswissenschaft als Disziplin geprägt haben als auch in gegenwärtigen Formen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion noch immer weiterwirken.
Der sogenannte substantialistische (oder essentialistische) Religionsbegriff bestimmt Religion über essentielle Merkmale oder zentrale Inhalte. Hierzu zählt die Bestimmung von Religion als „Erfahrung“ oder „Glaube“ an etwas Bestimmtes, zum Beispiel übernatürliche Kräfte, das Heilige, Götter, Geister etc. Substantialistische Definitionen haben gemeinsam, dass in ihnen versucht wird, das allen Religionen Gemeinsame in einem stark verallgemeinerten, formalen Sinn wiederzugeben, um das „Wesen“ (d.h. die Substanz oder Essenz) der Religion an sich herauszuarbeiten. Mit einem substantialistischen Religionsbegriff wird vor allem die Religionsphänomenologie um Rudolf Otto (1869-1937) in Verbindung gebracht, eine religionswissenschaftliche Strömung, die vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die Religionswissenschaft in Deutschland stark bestimmt hat und von der liberalen Theologie im Anschluss an Schleiermacher beeinflusst war (Michaels, 1997; Sharpe, 2003).
Der zweite typische Ansatz, Religion zu beschreiben, ist der sogenannte funktionalistische Ansatz, bei dem Religion nicht über ihre Inhalte, sondern über ihre Funktion für die Gesellschaft bestimmt wird. Dieser vor allem in der Religionssoziologie verbreitete Ansatz geht vor allem zurück auf den französischen Religionssoziologen Émile Durkheim (1858-1917), der die gemeinschafts- bzw. sinnstiftende Funktion von Religion in den Vordergrund rückte (Pickel, 2011, 75-86). Funktionalistische Definitionen haben daher häufig eine große Reichweite, was aber auch beinhaltet, dass sie auf andere gesellschaftliche Teilbereiche ebenso anwendbar sind. Häufig werden funktionalistische Definitionen daher auch ergänzt mit substantialistischen Elementen, um sie als Definition von Religion zu spezifizieren (Pollack, 1995).
Eine allgemeine Bestimmung von Religion, die auf inhaltlichen, vergleichenden oder funktionalen Definitionskriterien bzw. einer Kombination dieser Elemente beruht, ist jedoch in der Religionswissenschaft als Grundlage problematisch geworden. Einerseits liegt dies darin begründet, dass die jeweilige empirische Plausibilität der genannten Kriterien nicht ausreichend begründbar ist (Wiebe, 2000). Andererseits ist hier die eingangs genannte Kontextgebundenheit des Religionsbegriffs anzuführen, die ebenfalls gegen die Aufstellung allgemeiner Kriterien spricht. Verschiedentlich ist daher gefordert worden, den Religionsbegriff ganz aufzugeben und Religion nur noch als Teilaspekt von „Kultur“ zu untersuchen (Sabatucci, 1988). Der Verzicht auf den Religionsbegriff bzw. eine eigene explizite wissenschaftliche Gegenstandsbestimmung ist aber letztlich keine praktikable Lösung für die Religionswissenschaft, weil eine wissenschaftliche Rede von bzw. über Religion/Religionen, die auf diesem Verzicht basierte, letztlich ein alltagssprachliches Religionsverständnis voraussetzen würde, das weitgehend unreflektiert bliebe (Bergunder, 2011, 16ff.; Pollack, 1995, 165). Für die Religionswissenschaft bleibt es daher eine wichtige Aufgabe, zum Zwecke der Selbstreflexion und der methodischen Vorgehensweise die Frage nach der Definition von „Religion“ nicht aufzugeben, sondern immer neu zu stellen (Stausberg, 2012c, 38).
Diese neue Frage nach der Operationalisierung des Religionsbegriffs ist in der religionswissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte eng an die Aufarbeitung der Geschichte des Religionsbegriffs geknüpft worden (Smith, 1998). Die Kontextgebundenheit des Religionsbegriffs bedeutet in dieser Perspektive, dass der Begriff Religion zumindest bis in das 19. Jahrhundert hinein ein Produkt der europäisch-christlichen Religionsgeschichte ist und insofern eine christlich-theologische Prägung aufweist (Asad, 1993). Der Religionsbegriff wird daher gelegentlich auch als eine „europäische Erfindung“ bezeichnet (Haußig/Scherer, 2003). Hieraus ergibt sich zuweilen die Frage, inwiefern der Begriff Religion auf nicht-westliche und nicht-christliche Kontexte überhaupt anwendbar ist (Schalk u.a., 2013). Postkoloniale Zugänge zur Religionswissenschaft heben daher hervor, dass die entscheidende diskursive Prägung des modernen Religionsbegriffs das Produkt eines globalen Verbreitungsprozesses ist, der im Zuge von Kolonialismus und Mission ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt und in Europa ebenso wie in den kolonisierten Gebieten den Begriff Religion als Teil des kolonialen Herrschaftswissens etabliert (King, 2005). Der (ehemals) europäisch-christlich geprägte Begriff Religion wurde so zur Referenz einer Vielzahl von aufeinander bezogenen religiösen Identitätsbildungsprozessen auf globaler und lokaler Ebene, in deren Folge sich z.B. das heute gebräuchliche Muster der verschiedenen Weltreligionen herausbildete. Als ein signifikantes historisches Ereignis kann in dieser Hinsicht das erste Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 gelten, auf dem zum ersten Mal Vertreter verschiedener religiöser Gemeinschaften zusammenkamen, die sich explizit als Repräsentanten verschiedener Weltreligionen verstanden (Auffarth, 2009). Die Globalisierung des Religionsbegriffs lässt sich, ausgehend von diesen Dynamiken, für eine Vielzahl unterschiedlicher Kontexte in Asien, Afrika etc. nachweisen, wie zahlreiche Detailstudien belegen (Heuser, 2005; Meyer, 2014; Nehring, 2012b; Schröder, 2009). Ebenso kann die Verwissenschaftlichung des Religionsbegriffs in der Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Religionswissenschaft als spezifische Reaktion auf diesen Globalisierungsprozess verstanden werden (Chidester, 1996; Ludwig/Adogame/Berner/Bochinger, 2004; Masuzawa, 2005). Die Übertragung des Religionsbegriffs auf außerwestliche und nichtmoderne Kontexte lässt sich daher in historischer Perspektive als Teil von „Verflechtungsgeschichte(n)“ (entangled histories) verstehen (Conrad/Randeria, 2002, 39ff.; Conrad/Eckert/Freitag, 2007), die in synchroner und diachroner Perspektive zugleich den methodischen Ausgangspunkt für die Frage nach Religion in all ihren Formen bildet.
3. Religionswissenschaft und Theologie
Religionswissenschaft im Aufwind – so lautete vor einigen Jahren das Thema der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft. Der programmatische Titel war zugleich gedacht als Zeitansage, die auf den Aufschwung der religionswissenschaftlichen Forschungen insbesondere im letzten Jahrzehnt aufmerksam machen sollte. In der Tat konnte sich die Religionswissenschaft in den letzten Jahren als selbständige und von der Theologie unabhängige kulturwissenschaftliche Disziplin an vielen deutschen Universitäten etablieren, was insgesamt zu einem bemerkenswerten Aufschwung religionsbezogener Forschungen und Studiengänge geführt hat. Derzeit ist die Etablierung einer selbständigen Religionswissenschaft ein noch immer fortdauernder Prozess, der zuweilen ein gewisses Konfliktpotential im Gegenüber zur Theologie beinhaltet. Neben der Tendenz zur institutionellen Loslösung einzelner religionswissenschaftlicher Lehrstühle aus den theologischen Fakultäten beinhaltet dies vor allem die Frage nach der wissenschaftstheoretischen und methodischen Ausrichtung der Religionswissenschaft. Insbesondere im angelsächsischen Bereich wird seit einigen Jahren eine kontroverse Debatte geführt, in der bisweilen nicht nur die Loslösung der Religionswissenschaft von der Theologie, sondern sogar die Auflösung der Religionswissenschaft und ihre Überführung in die Kulturwissenschaft gefordert wird (Fitzgerald, 2000).
Historisch betrachtet ist die Religionswissenschaft mit der Theologie eng verbunden, denn sie hat sich in enger Verbindung und kritischer Abgrenzung zur Theologie entwickelt (Kippenberg, 1997). Das Verhältnis zwischen beiden ist daher noch immer umstritten und oft auch von gegenseitiger Infragestellung bzw. fehlender inhaltlicher Wahrnehmung gekennzeichnet. Zuweilen wird aus dem Bereich der Theologie heraus die Religionswissenschaft infrage gestellt, indem entweder die Theologie selbst als eigentliche Religionswissenschaft gesehen wird (Herms, 1998) oder der Religionswissenschaft eine fehlende Reflexion ihrer eigenen Normativität im Umgang mit ihrem Forschungsgegenstand vorgeworfen wird (Graf, 2004). Umgekehrt verkürzt sich die religionswissenschaftliche Kritik an der Theologie häufig auf deren institutionelle Sonderstellung an den Universitäten und die vermeintlich fehlende kritische Reflexion ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit. Jedoch kann mit Bochinger festgehalten werden, dass gegenseitige Infragestellungen wenig fruchtbar sind, nicht nur weil sie die Wissenschaftslandschaft verzerrend darstellen (Bochinger, 2008a, 2; Bochinger, 2008b), sondern auch, weil sie zu wenig danach fragen, in welcher Hinsicht beide Disziplinen Religion thematisieren: Religionswissenschaft und Theologie verfolgen verschiedene Fragestellungen, auch wenn sie – zumindest in Bezug auf die Formen des Christentums – dieselben Phänomene thematisieren: „Nicht was sie thematisieren, sondern wie und in welchem Sinn sie es tun, unterscheidet Theologie und Religionswissenschaft. In beiden ist (z.B.) von Religion die Rede, aber anders als die Religionswissenschaften versteht Theologie Religion(en) im Licht eines bestimmten Verständnisses von Gott und Gottes Wirken. Religion wird in beiden Disziplinen also nicht gleichsinnig, sondern verschieden und von verschiedenen Standpunkten, in verschiedenen Horizonten und unter anderen Fragestellungen thematisiert. Religionswissenschaft liefert also nicht die Fakten, die Theologie dagegen die christlichen Deutungen: Das wäre hermeneutisch naiv. Beide sprechen auch nicht von ganz Verschiedenem, wenn sie auf Religion rekurrieren: Das wäre realitätsfremd. Beide Disziplinen verstehen Religion und religiöse Phänomene vielmehr verschieden“ (Dalferth, 2001, 12). Folgt man Dalferths Argumentation, dann stehen beide Disziplinen also nicht automatisch als religiöse und säkularisierte Variante einer Rede über Religion in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern unterscheiden sich in ihrer Fragestellung – sowie teilweise auch in ihrer Methodik – voneinander: „So sucht Religionswissenschaft den Bereich religiöser Phänomene und Orientierungen zu beschreiben und im Rekurs auf Regeln religiösen Lebens zu erklären. Sie ist damit eine empirisch-historische Wissenschaft neben anderen […]. Anders als die Religionswissenschaft hat die Theologie nur ihre besondere Fragestellung, aber eben auf Grund derselben keinen besonderen Bezugsbereich, sondern verfolgt ihre Fragen nach Gottes Wirken und seiner (fehlenden) Wahrnehmung in Bezug auf alle Bereiche. Während sich Religionswissenschaft wesentlich als theoretische Wissenschaft versteht, die mit philologischen, historischen und empirischen Methoden Religionen als geschichtliche Kulturphänomene zu beschreiben und im Rekurs auf Regeln religiösen Lebens zu erklären sucht, versteht sich Theologie wesentlich als eine praktisch-hermeneutische Disziplin, die im Ausgang vom Lebensvollzug des Glaubens das Leben der Menschen und die Welt, in der sie leben, als Praxisfeld göttlichen Handelns versteht […]. Was heißt es, sein Leben im Licht der Gegenwart Gottes zu leben und zu verstehen? […] Leitfragen dieser Art machen die Theologie zur Theologie, nicht die exegetischen, historischen, philosophisch-systematischen und praktisch-empirischen Methoden, mit denen sie in ihren Teildisziplinen Teilprobleme zur Beantwortung dieser Leitfragen bearbeitet. Theologie ist sie allein durch ihre Fragestellungen, nicht durch ihre Methoden“ (Dalferth, 2001, 13f., kursiv im Original).
4. Ausblick
Trotz dieser grundlegenden Unterscheidung ist die Religionswissenschaft ein wichtiger Bestandteil theologischer Studiengänge in Deutschland. Im Kontext der zunehmenden gesellschaftlichen und religiösen Pluralisierung und Globalisierung sowie der neuen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für Religion im öffentlichen Raum ist ein Studium religionswissenschaftlicher Themen und Fragestellungen auch für ein Studium der Theologie und Religionspädagogik von unmittelbarer Relevanz, denn gerade diese Entwicklungen erfordern eine Weiterentwicklung des theologischen Denkens, das sich diesen Herausforderungen stellen muss (Hock, 2011; Wrogemann, 2012-2014). An vielen theologischen Fakultäten hat die Religionswissenschaft daher im Verbund mit Interkultureller Theologie/Missionswissenschaft im Fächerkanon der Theologie ihren Platz, wobei auch in dieser Verbindung die methodische und inhaltliche Eigenart der Religionswissenschaft als eigenständige kulturwissenschaftliche Disziplin gewahrt wird, wie das Positionspapier „Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft“ ausdrücklich betont (Fachgruppe Religionswissenschaft und Missionswissenschaft, 2005). Im Verbund miteinander bearbeiten beide Fächer ein weites Feld aktueller Fragestellungen, die gerade für die theologische Praxis in Kirchengemeinden und Schulen unmittelbar wichtig sind, denn hier sind neue Handlungsfelder entstanden. Die Ablösung des älteren Begriffs Missionswissenschaft durch Interkulturelle Theologie soll dabei auch den veränderten gesellschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen Rechnung tragen, die heutzutage auch die christlichen Kirchen in Deutschland unmittelbar betreffen. Das Umfeld vieler Kirchengemeinden ist in zunehmendem Maße multireligiös geprägt, besonders in den städtischen Ballungszentren. Ebenso ist die Schülerschaft vieler Schulen oft kulturell und religiös sehr divers (Schreiner/Sieg/Elsenbast, 2005). Nicht erst seit der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen ist der christliche Religionsunterricht nicht mehr die einzige Form religiöser Unterweisung in der Schule, sondern hat neue Nachbarn bekommen (Özdil, 2011; Ucar/Bergmann, 2010). Im Rahmen der zunehmenden religiösen Pluralisierung der deutschen Gesellschaft wird auch für die Theologie die Reflexion interreligiöser Fragestellungen zunehmend wichtiger (Danz, 2005; Meißner u.a., 2014; Müller/Schüler/Schmidt, 2009; Stosch, 2012). Durch die vielfältigen ökumenischen Beziehungen der Kirchen weltweit treten auch nicht-westliche Theologien, wie z.B. die Befreiungstheologie, und andere Kirchen, wie z.B. die afrikanisch-unabhängigen Kirchen, zunehmend in das Wahrnehmungsfeld der deutschen Theologie ein (Kern, 2013). Infolge der Migrationsbewegungen aus Afrika und Asien nach Europa kommen zudem andere Formen des Christentums wie z.B. pfingstliche Kirchen nach Europa, die andere Theologie- und Frömmigkeitsformen verkörpern und eigenständige kirchliche Netzwerke in Europa aufbauen, die weitgehend unabhängig von den Großkirchen existieren (Bergunder/Haustein, 2006). Auch die Kenntnis und der Dialog mit diesen christlichen Kirchen gehört daher in das Arbeitsfeld der Interkulturellen Theologie, ebenso wie die Erforschung und Reflexion anderer Formen des Christentums weltweit (Hock, 2011; Küster, 1999). In allen diesen Arbeitsfeldern ist die Interkulturelle Theologie unmittelbar auf die Methoden und Erkenntnisse der Religionswissenschaft angewiesen und kann nur im Verbund mit ihr sinnvoll betrieben werden. Angesichts der globalen Veränderungsprozesse, die gerade das Feld der Religionen besonders betreffen, und angesichts der großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die Debatten über Religion in der heutigen Gesellschaft wieder erfahren, ist die Religionswissenschaft daher eine unverzichtbare Bereicherung und eine wichtige Gesprächspartnerin für alle theologischen Disziplinen.
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