Ethikunterricht
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Ethikunterricht.100092
1. Ziele und Inhalte der Fächergruppe ‚Ethik‘
Der Ethikunterricht wurde in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre, zuerst 1972 in Bayern, schrittweise in allen Bundesländern unter verschiedenen Bezeichnungen (Allgemeine Ethik, → Ethik
Über Ziele und Inhalte des Ethikunterrichts besteht im Vergleich der Bundesländer weitgehend Übereinstimmung; die Gewichtung religionskundlicher Anteile ist unterschiedlich. Orientiert an den Wertvorstellungen, die dem Grundgesetz ( → Grundrecht
Grundsätze und Prinzipien folgen aus deontologischen, kommunitaristischen, kontraktualistischen und tugendethischen Ansätzen und deren spezifischen Konzepten etwa von Freiheit (Willkür, Wahl-, Handlungs-, Willensfreiheit) ( → Freiheit
Die für das Fach Ethik maßgebliche akademische Fachdisziplin ist die Philosophie ( → Philosophie
2. Fachdidaktik
Die Fachdidaktik Ethik hat sich aus der Fachdidaktik Philosophie ( → Fachdidaktik) entwickelt. Die sokratische Dialektik kann dabei als Modell für die unstrittige Auffassung gelten, dass Philosophie- beziehungsweise Ethikunterricht sich als Gespräch, als Dialog vollzieht und damit als diskursiver, und das heißt als grundsätzlich offener Prozess vollzieht. Die Fachdidaktik folgt damit in der Tradition der → Aufklärung
Den Beginn der Fachdidaktik Philosophie kann man auf die Alternative „Philosophieren lernen“ (Kant, 1996) versus „Philosophie lernen“ (Hegel, 1970) zurückführen. Sie bestimmte die Anfänge der fachdidaktischen Diskussion. Heute ist weitgehend die Orientierung an Kants Votum fachdidaktischer Standard; dies umso mehr unter Bedingungen eines kompetenzorientierten Philosophie- und Ethikunterrichts ( → Kompetenzen
Ekkehard Martens „Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik“ von 1979, die erste Philosophie-Didaktik, steht in der zetetisch-dialogischen Tradition Kants. Ausgehend von der Annahme der didaktischen Konstitution der Philosophie selbst und ausgehend von der Praxis sokratisch-platonischen Philosophierens im Sinne einer Verständigung im Dialog, entwickelt Martens didaktische Konsequenzen aus dem forschenden Selberdenken. Dialogisch-pragmatisches Philosophieren zielt wesentlich auf Kompetenzerwerb, der am Leitfaden philosophischer Inhalte in einer analysierenden, argumentierenden und orientierenden „Wissenspraxis“ (Martens, 1983, 35) erworben wird. Philosophieren wird damit zu einer „elementaren Kulturtechnik“ (Martens, 1996; 2010), die grundlegend auch für die ethische Bildung ist.
Wulff D. Rehfus legt 1980 eine Philosophie-Didaktik vor, die sich erstaunlich früh mit der Kompetenzorientierung (→ Kompetenzen, religionspädagogische
Volker Steenblock versteht Philosophie als „Arbeit am Logos“, die Fachdidaktik entsprechend als orientierende „Selbstreflexion der Philosophie auf ihre lebensweltlichen Funktionen und Aufgaben“ (Steenblock, 2012, 8).
Rohbeck kommt das Verdienst zu, genuin philosophische Methoden in den Rang eines fachdidaktischen Paradigmas erhoben zu haben (Rohbeck, 2000; 2013). Er schlägt hierfür ein „Modell der Transformation“ (Rohbeck, 2013, 12) vor, das an der → Diskurstheorie
Kompetenzorientierung ist ein genuines Merkmal der Philosophie seit den Platonischen Dialogen. Ihr Anliegen ist Orientierungswissen, nicht Tatsachenwissen. Die durchaus wissenswerte Kenntnis ihrer Bestände ist Gegenstand der Philosophiegeschichte, nicht ihr eigentlicher Gegenstand. Sie dient der Orientierung in dem von Schnädelbach vorgeschlagenen Verständnis einer „gedanklichen Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns“ (Schnädelbach, 1992, 381). Über Orientierung verfügt, wer Kenntnisse auf den eigenen Standpunkt, auf die Perspektive der ersten Person zurückführen kann. Kompetenzorientierung in diesem Sinne ist Thema der Fachdidaktik von Anbeginn. Erst Rösch hat jedoch Kompetenzorientierung als Ansatz in der Fachdidaktik der Fächergruppe Philosophie und Ethik auf- und ausgearbeitet und empirisch untersucht (Rösch, 2009). Sie zeigt, dass „Kompetenzorientierung für die Fächergruppe Philosophie/Ethik nicht nur möglich ist, sondern im hohen Maße dem Bildungsauftrag der Fächer bei aller Unterschiedlichkeit der Lehrpläne entspricht“ (Rösch, 2009, 10). Fachspezifische Kompetenzdimensionen sind Sach-, Methoden-, Selbst- bzw. Personale und Sozialkompetenz. Diese Dimensionen werden in den Kompetenzbereichen 1. Wahrnehmen und Verstehen, 2. Analysieren und Reflektieren, 3. Argumentieren und Urteilen, 4. Interagieren und Sich-Mitteilen sowie 5. Sich-Orientieren und Handeln erworben.
Volker Pfeifer knüpft mit seiner Didaktik des Ethikunterrichts an Heinz Schmitz an, wenn er, speziell aus der ethik-didaktischen Sicht, Selbstreflexion im Hinblick auf das Gute Leben paradigmatisch in den Fokus rückt.
Fachdidaktische Themen und praktische Anwendungen im Unterricht werden in der „Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik“ und im „Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik“ sowie in der Zeitschrift „Ethik und Unterricht“ publiziert.
3. Fachspezifische Methoden
Methodisches Vorgehen ist konstitutiv für die Wissenschaften und die Philosophie, die Wissenschaft und „mehr“ als eine Wissenschaft ist, „zum Beispiel Aufklärung, Kritik, Reflexion oder Orientierung“ (Keil, 1996, 49). Rohbecks Ansatz einer Transformation etwa trägt dem Rechnung, aber auch Bemühungen, zum Beispiel das Sokratische Gespräch für die Unterrichtspraxis aufzubereiten (Birnbacher/Krohn, 2002). Die systematische Einführung und der Gebrauch fachspezifischer Methoden ( → Methoden
Ethikunterricht zielt auf reflexive Orientierungskompetenz, die in Lehr-Lern-Prozessen als explizites, operationalisiertes – handhabbar gemachtes – Orientierungswissen erkennbar ist. Moralisch-ethisches Orientierungswissen zeigt sich im intersubjektiv zugänglichen Gebrauch reflexiver Begriffe; Begriffe im gängigen Verständnis als Prädikate möglicher Urteile genommen. Damit ist keine intellektualistische Verengung nahegelegt, im Gegenteil ist vielmehr eine Vielfalt der Zugänge zu Begriffen, Gedanken und Konzepten möglich, die den Rückbezug auf die Perspektive der Lernenden erlauben und insofern der Selbstrückbezüglichkeit orientierender Begriffe, die das Philosophieren im Kern ausmacht, Rechnung tragen. Einen Begriff vorstellen, also eine Vorstellung von Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit zu haben, bedeutet, sich Szenen, Handlungen, Verhalten, ja Gefühle vorzustellen. Fachspezifische Methoden operationalisieren entsprechende Lernumgebungen; sie ermöglichen den Ausdruck und die Darstellung eines möglichen Gebrauchs von Begriffen in Sprachspielen (Wittgenstein, 1984), in Szenen und Kontexten moralisch-praktischer Orientierung (Thyen, 2014b). Methodenkompetenz in diesem Sinne ist der Fachdidaktik Ethik wesentlich.
4. Empirische Bildungsforschung
Die Fachdidaktik Philosophie und Ethik setzt sich seit einiger Zeit mit den Möglichkeiten der empirischen Unterrichtsforschung ( → Unterrichtsforschung, empirische
Literaturverzeichnis
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