Politik, Religionsunterricht
Schlagworte: Religionsunterricht, Politik
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Politik_Religionsunterricht.100097
1. Einführung
Kaum etwas hat die Debatten um den Religionsunterricht in der letzten Zeit so dynamisiert wie deren kirchenpolitische wie bildungspolitische Aufladung. Nicht nur, dass der Religionsunterricht insbesondere im Streit um den Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht etwa in NRW innerkirchlich zum Streitfall geworden ist, anhand dessen sich unterschiedliche Positionen profilieren und voneinander absetzen. Auch politisch wird immer deutlicher, dass sich hier - nicht selten über Parteigrenzen hinweg - divergente politische Positionen in der Stellung zum Religionsunterricht auswirken. Andererseits wird dem Religionsunterricht seinerseits eine politische Dynamik attestiert. Sei es aus Sicht einer Kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik (Herbst, 2022; Herbst 2023), sei es aus der Sicht einer Öffentlichen Politischen Religionspädagogik, die den Religionsunterricht im Kontext des Ringens um Demokratie und demokratische Lebensformen verortet, ohne dabei die Korrelation von Mystik und Politik zu unterlaufen (Grümme, 2018, 201-212; Grümme 2023, 234-248. In all dem wird eines jedenfalls klar: Der Religionsunterricht ( → Religionsunterricht
Andererseits erklärt sich die gelegentliche Schärfe der Auseinandersetzungen um den Religionsunterricht möglicherweise ein Stück weit dadurch, dass auch die Kirchen ( → Kirchen
Nicht zuletzt aus ideologiekritischen Gründen kommt es entscheidend darauf an, wie der RU und damit die Religionspädagogik sich Gegenüber der traditionellen Dominanz ästhetisch-performativer Lernformen und einem Reduktionismus aufs Ethische Lernen ( → Ethik
2. Politikbegriff
Um eine politische Dimension religiöser Bildung ( → Bildung
Die „Logik des Politischen“ (Thomas Meyer) lässt sich in diesem Rahmen als ein komplexes Geschehen zwischen drei Dimensionen begreifen (Meyer, 2006, 83-138):
1. der Polity-Dimension als den gegebenen Handlungsgrundlagen des politischen Gemeinwesens wie Verfassung, Staat, politisches System oder die Institutionen, aber auch Menschenrechtsdefinitionen und politische Kultur
2. der Policy-Dimension als der inhaltlichen Seite von Politik
3. der Politics-Dimension, die den Prozess der Durchsetzung politischer Handlungsprogramme und Interessen bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund kann der Politikbegriff verstanden werden als „die Regelung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten einer Gesellschaft“ (Sander, 1985, 19). Politik ist eine „Denk und Handlungsform“ (Böckenförde, 1995, 3), in der das allgemeine Zusammenleben der Menschen und menschlichen Gruppen problematisch geworden ist (Sutor, 2006, 39). Demnach beschränkt sich der Politikbegriff nicht lediglich auf den Staat ( → Kirche und Staat
3. Soziales und Politisches Lernen
Eine solche Definition erlaubt die präzise Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Formen des Lernens, die immer wieder vermengt werden, obschon sie doch korrelieren (Wohnig, 2017).
Soziales Lernen versucht zu Solidarität und vernünftiger Selbst- und Mitbestimmung anzuleiten. Es zielt auf Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation, zu Kooperation, zu Solidarität und einem verantwortlichen Konfliktlösungsverhalten, zu einer stabilen Ich-Identität ( → Identität
Politisches Lernen hingegen zielt auf politische Mündigkeit. Es geht in ihm um Macht, Rechtsordnung, Ideologie und Manipulation, Herrschaft und Interesse, um Sinn und Funktion politischer Institutionen, um die normative Ausrichtung des Politischen. Es geht um Loyalität und Kritik, um Unterstützung und Transformation. Gegenüber der face-to-face-Interaktion ist also politisches Lernen systemisch, strukturell ausgerichtet und bezieht sich auf gesamtgesellschaftliche Kontexte (Herdegen, 1999; Massing, 2007).
4. Mystik und Politik
Dieser Politikbegriff kann zudem die politische Pointe des christlichen Glaubens besser verstehen helfen. Theologisch gesehen ist der Glaube ( → Glaube
Dies wirft die Frage nach der konkreten Gestalt dieser politischen Dimension des Religionsunterrichts und seiner bildungstheoretischen Begründung auf.
5. Grundlinien der politischen Dimension
5.1. Bildungstheoretische Grundlegung
Bildung ( → Bildung
Freilich setzt damit Bildung auf mehr, als sie im intersubjektiven Vollzug aus sich heraus gewährleisten könnte. Aus diesen Grenzproblemen pädagogischer Vernunft erwächst die Anschlussfähigkeit religiöser Bildung (Peukert, 1987, 31f.). Die pädagogische Praxis wird vom Glauben insofern qualifiziert, als danach die Wirklichkeit Gottes als „Dimension jedem kommunikativen Handeln innewohnt, sofern in seinem Vollzug sich die Partner eine unverfügbare Freiheit gegenseitig zumuten und zugestehen“ (Mette/Steinkamp, 1983, 23) und genau darin schließlich Gott für die anderen behaupten und im Handeln zu bewahrheiten suchen. Als Zusage einer befreiten Freiheit ( → Freiheit
Ein solcher Bildungsbegriff gewinnt für den Religionsunterricht seine politische Tiefenschärfe nun dadurch, dass er auf die drei Dimensionen des Politischen bezogen wird ( → Bildungsgerechtigkeit
Ein politisch sensibler Religionsunterricht ist innerhalb der Polity-Dimension auf die Handlungsgrundlagen institutioneller und vorinstitutioneller, vor allem zivilgesellschaftlicher Art zu befragen. Aspekte des politischen Systems, der Verfassung, vor allem aber sein Beitrag zur Genese von Werteinstellungen, von Handlungsbereitschaften, zum zivilgesellschaftlichen und politischen Engagement, kurzum: sein Beitrag zur politischen Kultur fordern ihn heraus. Die unverzweckbare Würde des Anderen, die Herausforderung, keinen verloren geben zu dürfen, sind Aufgaben, in denen dies konkret wird.
Die Policy-Dimension von Politik macht den Religionsunterricht auf die inhaltliche Komponente aufmerksam, auf den Kern religiöser Traditionen mit deren spezifischen Interessen, Perspektiven, ihren Sinnhorizont und ihren befreienden wie kritisch-transformativen Heilszusagen, die er korrelativ einbringen kann. Dies kann Problemlagen in ihrer Tiefendimension anschärfen und Bildungsprozesse an Schlüsselprobleme zurückbinden helfen. Es kann zur Problematisierung des Selbstverständlichen, zur Politisierung des Unpolitischen, zur Unterbrechung unhinterfragter Mentalitäten und Ideologien ebenso beitragen wie zur inhaltlichen Orientierung und Perspektivierung.
Der Religionsunterricht rekurriert wesentlich auf eine Tradition, auf eine Zusage mit Wahrheitsanspruch, der in Bildungsprozessen eingespielt und einer kritischen Beurteilung zugeführt wird. Insofern ist dem Religionsunterricht die Politics-Dimension wesentlich, geht es ihm doch um Legitimation, um spezifische Interessen, um einen Wahrheitsanspruch, der mit anderen Wahrheitsansprüchen konkurriert. Der konkrete Religionsunterricht ist hier auch in seiner formalen, prozesshaften Gestaltung angefragt. Ob ein Religionsunterricht autoritär oder dialogisch als „Sprachschule der Freiheit“ (Ernst Lange) gestaltet wird, dies ist politisch höchst relevant.
Der religiöse Bildungsbegriff kann sich nun mit dieser politischen Dimension einschalten in den Diskurs der diversen, teilweise gegenläufigen Bildungsvorstellungen im Kontext der öffentlichen Schule ( → Schule
5.2. Ein integrativer Begriff religiöser Bildung
Gleichwohl wird damit nicht einer Politisierung von Bildung das Wort geredet, weshalb auch Skepsis angebracht scheint gegenüber dem elaborierten Konzept einer politischen Religionspädagogik, die Religionspädagogik aus der Perspektive der Politik entwickelt und rahmt (Könemann, 2019). Es geht vielmehr um eine politische Dimension (Herbst, 2022; 2023; ÖRF; 2019) die im Rahmen eines integrativen Bildungsbegriffs auf andere Dimensionen wie Ästhetik, Urteilsfähigkeit, Sprache, Praxis des RUs in nicht-hierarchischer Weise diskursiv zu beziehen ist (vgl. Grümme, 2009, 137-156; Biehl, 1973, 34). Erfahrung und Deutung, Pragmatik und Hermeneutik sind dabei streng wechselseitig aufeinander verwiesen. Denn nur so kann eine Religionspädagogik in ästhetisch-performativer Hinsicht dazu beitragen, „politische Wahrnehmung zu schärfen und demokratische Urteils- und Handlungsfähigkeit zu fördern“ sowie „in hermeneutischer Hinsicht Deutungsangebote christlicher Überlieferung in orientierender Weise in die demokratische Diskurskultur einzubringen“ (Schlag, 2010, 485). Immer sind die je anderen Dimensionen in diesem Modell einer korrelativen Verhältnisbestimmung dieser unterschiedlichen Dimensionen mitzudenken. Damit wird einerseits der Eigenständigkeit verschiedener Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitszugänge Rechnung getragen, wie es der funktionalen Differenzierung der Moderne entspricht. Politik ist eben doch etwas Anderes als Religion ( → Politik und Religionsunterricht
Dies hat Konsequenzen. So würden sich durch diesen integrativen Zugriff beispielsweise ästhetische oder symbolpädagogische Elemente unter der Konfrontation mit politischen Kategorien reflexiv aufschließen für die politischen Instrumentalisierungszusammenhänge, in denen sie stehen. Dies würde der religionspädagogisch rezipierten Hermeneutik populärer Kultur eine schärfere Kontur verleihen und könnte die lebensweltliche Wahrheit auch gegen dort teilweise zu findende kulturindustrielle Übergriffe einklagen.
6. Brennpunkte gegenwärtiger Diskussionen
Ein solcher Bildungsbegriff ist relevant im Kontext gegenwärtiger Brennpunkte einer politisch sensiblen Religionspädagogik, die sich aus ihrem Duktus ergeben. Es sind vor allem 1. die Felder der Kontroversität, die durch eine Bildung im Kontext von Nachhaltigkeit und Tierethik dynamisiert wird und die etablierte Frage nach Neutralität, Kontroversität und Überwältigungsgebot im Religionsunterricht selber stellt (Grümme, 2021, 316-351; Gärtner/Herbst/Kläsener, 2023) und 2. die Felder der Verhältnisbestimmung von Normativität und Macht, die nicht zuletzt praxeologisch in othering, in Essentialisierung und Differenzsetzung im Religionsunterricht selber passiert und womit sie gegen ihre eigene normative Zielsetzung agiert (Grümme, 2021). Der hier vertretene integrative Bildungsbegriff grundiert eine Öffentlich-Politische Religionspädagogik, die die konstitutive Verortung in und Bezogenheit auf spätmoderne Öffentlichkeiten zum Ausgangspunkt nimmt, die sich freilich entsprechend der Unterscheidung von sozialem und politischen Lernen in ethisch-sozialen wie systemisch-strukturellen Kategorien artikuliert und kultiviert aus dem Geist kritischer Praxeologie eine kritisch-aufgeklärte Selbstreflexivität, die genau diese Aporetiken von Überwältigungsgefahr, von Moralisierung und Differenzsetzung ideologiekritisch bedenkt. Sie greift poststrukturalistisches und postkoloniales Erbe auf, bricht es durch eine normativ ambitionierte Kritische Theorie und argumentiert mit einem normativ bestimmten, transformatorisch wie handlungstheoretisch angelegten und alteritätstheoretisch grundierten Begriff religiöser Bildung aus dem Geist einer theologisch im Hintergrund stehenden Öffentlichen Politischen Theologie (Grümme, 2023). So artikuliert sie sich als Öffentlich-Politische Religionspädagogik (Grümme, 2024).
7. Konkretionen
In einer kritischen Reformulierung der Bildungstheorie ( → Bildungstheorie
Das Thema Frieden, in allen Lehrplänen ( → Lehrpläne
Dementsprechend wären zum Schlüsselproblem „Frieden“ religiöse, individuelle, soziale und politische Momente zusammenzuführen. Die politische Dimension hätte sich damit mit diesem Schlüsselproblem auseinanderzusetzen, indem so unterschiedliche Aspekte wie Alltagskonflikte und deren Bewältigung, Gewalt und Gewaltprävention, die kategoriale Differenz zwischen sozialer und politischer Friedensdiskussion, Schritte von Gewalteskalation, Probleme und Horizonte der Friedens- und Sicherheitspolitik, Religionen als Motor von Gewalt und Versöhnung, Frieden ( → Frieden
8. Fazit und Ausblick
Man könnte nun in dieser Logik für andere Schlüsselprobleme jeweils den bildungstheoretischen Ertrag der politischen Dimension im Religionsunterricht herausarbeiten. So würde sich noch deutlicher zeigen lassen, wie sehr der Religionsunterricht durch die politische Dimension über individualisiertes und soziales Lernen hinaus seinen Beitrag zur Menschwerdung der Schülerinnen und Schüler im Angesicht ihrer lebensweltlichen Herausforderungen leisten kann.
Gleichwohl gilt es, das erhebliche Defizit entsprechender didaktischer Konzepte ( → Fachdidaktische Konzeptionen
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