Deutsche Bibelgesellschaft

Gottesdienst, evangelisch

(erstellt: Februar 2016)

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1. Evangelischer Gottesdienst – ein pluriformes Geschehen

1.1. Begriffliche Annäherung

Wer Gottesdienst sagt, hat oft eine genaue Vorstellung von dem, was gemeint ist, meist der Gottesdienst am Sonntagvormittag. Vor allem in binnenkirchlichen Milieus firmiert dieser als „Hauptgottesdienst“, dem gegenüber andere Gottesdienste einem „zweiten Programm“ (Friedrichs, 2005) zugeordnet werden. Sichtbar ist jedoch insgesamt ein in den letzten Jahren gestiegenes Interesse, solch „andere Gottesdienste“ als anregende Alternativen zu profilieren (Arnold, 2012). Diese Entwicklung trägt auch den empirischen Befunden Rechnung, dass für die Mehrzahl der Evangelischen vor allem „Gottesdienste an Übergängen im Lebenslauf“ (Kasualpraxis: Wagner-Rau, 2008) sowie „Festtagsgottesdienste“ (z.B. Heiligabend) attraktiv sind (Grethlein, 2012, 401). Gleichwohl bleibt die statistische Erfassung von Gottesdiensten in der EKD überwiegend auf sogenannte „Zählsonntage“ fokussiert (EKD, 2014, 15). Diese liturgietheoretische und kirchensoziologische „Engführung“ (Saß, 2010, 22f.) führt dazu, dass die beachtliche Menge von → Schulgottesdiensten nach wie vor nicht differenziert erfasst, sondern mit anderen Gottesdienstformen unter die „Werktagsgottesdienste“ (Kirchenamt der EKD, 2013, 19) rubriziert wird.

1.2. Historische Aspekte

Evangelischer Gottesdienst lässt sich nicht anhand von spezifischen Ordnungen, festgelegten Zeiten, klar bestimmten Orten oder handelnden Personen definieren, sondern ist ein kommunikatives Geschehen (Meyer-Blanck, 2011, 25). Diese allgemeine, dialogische Bestimmung von Gottesdienst, die Meyer-Blanck in Auseinandersetzung mit → Schleiermachers Beschreibung des Gottesdienstes als „darstellende Mitteilung“ und „mitteilende Darstellung“ (Schleiermacher, 1850, 75) entwickelt, hat wesentlich Anhalt an → Luthers berühmter Äußerung von 1544: „[...] dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“ (Weimarer Ausgabe 49, 588). Sowohl der sonntägliche „Normalfall“ des Gottesdienstes (Fechtner/Friedrichs, 2008) als auch alle davon unterschiedenen „Sonderfälle“ stellen liturgisch „denselben Ernstfall“ dar: „Trotz aller Unterschiede geht es um die Frage, ob in, mit und unter der ästhetischen und persönlichen Kommunikation die religiöse Kommunikation zustande kommt – ob die Versammelten sich von Gott angesprochen erleben können“ (Meyer-Blanck, 2008, 74). Luthers Einsicht in die kommunikative Grundstruktur und vielfältige Gestalt des Gottesdienstes bewahrt vor liturgischen Engführungen. Eine gleichsam gebotene Pluriformität liturgischer Situationen lässt sich zudem biblisch-theologisch fundieren. Zwar findet sich unser heutiger Ausdruck „Gottesdienst“ dort nicht unmittelbar wieder. Gleichwohl begegnen schon alttestamentlich zahlreiche gottesdienstliche Handlungen wie das Beten (→ Beten, christliche Perspektive; → Beten, jüdische Perspektive), Segnen, Opfern, Feiern. Eine wesentliche, vor allem prophetisch explizierte, Grundfrage ist die Unterscheidung von „wahrem“ und „falschem“ Gottesdienst (Grethlein, 2012, 298). Demnach sollen gottesdienstliche Handlungen eben gerade nicht vom übrigen Leben separiert werden (Hos 6,6). „Entschieden wird die Trennung zwischen Alltag und Kult zurückgewiesen“ (Grethlein, 2012, 298). Die neutestamentlichen Evangelien dokumentieren, dass die jesuanische Verkündigung offenbar diese Impulse aufnimmt (z.B. in Mt 9,13). Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist die paulinische Einsicht, dass es im Grunde keiner spezifischen Zeiten oder heiligen Orte bedarf, da Gottesdienst stets das Ganze des Lebens tangiert (Röm 12,1). Liturgiegeschichtlich bildeten sich dann sukzessive vielfältige Formen heraus, wobei der → Sonntag zum Zentrum der (zunächst häuslichen) Feier wurde und später die „Keimzelle“ des Kirchenjahres bildet. Eine wesentliche Rolle in dieser Entwicklung spielten übrigens frühchristliche Mahlfeiern, was sich eindrücklich der aus dem 2. Jahrhundert stammenden Didache entnehmen lässt (Meyer-Blanck, 2011, 135-154).

Luthers theologische Impulse zum Gottesdienst sind nun nur im Horizont seiner Konflikte mit der römischen Kirche zu verstehen (Grethlein, 2001, 89f.). Bereits 1523 benennt er scharf „drey grosse mißbreuch“ den Gottesdienst betreffend: die fehlende Auslegung biblischer Lesungen, die Bezugnahme auf Heiligenlegenden und die Praxis, für Geld Messen lesen zu lassen, wodurch liturgisches Handeln als „eyn werck“ missverstanden würde (Weimarer Ausgabe 12, 35, 10-18). Aus diesem Grund rückt Luther theologisch den Christusbezug ins Zentrum und fordert nachdrücklich den Gottesdienst als von Gott geschenktes „beneficium“ (Wohltat), nicht als von Menschen gemachtes „sacrificium“ (Opfer) zu begreifen (Meyer-Blanck, 2011, 159). Sein Gottesdienstverständnis ist wesentlich angeregt durch seine Rechtfertigungslehre: „Von daher gewinnt Luthers Gottesdienstverständnis große Weite, weil Glauben selbst zum Gottesdienst wird [...]. Die biblische Vorstellung vom Gottesdienst im Alltag, wie sie sich in Röm 12,1 findet, ist also im reformatorischen Gottesdienstverständnis aufgenommen, wobei der Opferbegriff auf die Antwort des Glaubens bezogen und damit radikal uminterpretiert wird“ (Grethlein, 2001, 91). Eine konkrete liturgische Umsetzung erfährt der Christusbezug in der geforderten Christuspredigt. Dies beförderte, liturgiegeschichtlich betrachtet, die bis heute geltende Zentralstellung der Predigt in evangelischen Gottesdiensten: „De facto führte die Reformation zu einer Stärkung des verbalen Elements im Gottesdienst, das – jedenfalls in der weiteren Wirkung – rituelle Vollzüge wie auch das Abendmahl als eher Zusätzliches, extremer formuliert: als eher Nebensächliches erscheinen ließ. [...] Dieser zivilisationstheoretische Hinweis kann davor bewahren, den theologisch richtigen Rückbezug von Gottesdienst auf Christus kulturhermeneutisch unreflektiert in seiner materialen Durchführung, nämlich in der Betonung der Predigt, in die Gegenwart zu übertragen“ (Grethlein, 2001, 92). Religionspädagogisch beachtlich ist nun ferner, dass im reformatorischen Gottesdienstverständnis zum Christusbezug der Gemeinschaftsbezug und die Verständlichkeit hinzutreten (Grethlein, 2001, 66-75). Auf die aktive Beteiligung am Gottesdienst sowie den emotionalen und intellektuellen Mitvollzug wird großer Wert gelegt. Gut nachvollziehen lässt sich dies anhand der Entwicklungen in Luthers beiden Gottesdienstformularen von 1523 („Formula missae“) und 1526 („Deutsche Messe“). In den vorgenommenen Veränderungen des Abendmahlsteils, um einem Missverständnis als Opfer vorzubeugen, aber ebenso in der Implementierung deutscher Lieder, kommen Gemeinschaftsbezug und Verständlichkeit anschaulich zum Ausdruck. Insgesamt haben zu Luthers Zeit der Gottesdienst samt Predigt, ebenso wie die unter der Woche stattfindenden Katechismuspredigten, nicht nur „einen verkündigenden und soteriologischen, sondern auch einen pädagogischen Sinn“ (Meyer-Blanck, 2011, 159). Die skizzierten Linien reformatorischer Impulse lassen sich nun auch in der gottesdienstlichen Entwicklung der folgenden Jahrhunderte, vor allem in pietistischen und aufklärungstheologischen Impulsen weiter verfolgen: in der „Orientierung am Individuum als Konsequenz der Rechtfertigungslehre unter den seit der Reformation gewandelten kulturellen Umständen“ sowie der Expansion gottesdienstlicher → Musik (Meyer-Blanck, 2011, 172). Eine defizitäre Entwicklung liegt „in der formalen und inhaltlichen Verarmung des gemeinsamen liturgischen Betens, das immer stärker individualisiert und homiletisiert wird, so dass es im Wesentlichen der Vorbereitung und Nachbereitung der – mit einer oder gar zwei Stunden ohnehin ausgedehnten – Predigt dient“ (Meyer-Blanck, 2011, 172). Damit avancierte gottesdienstgeschichtlich letztlich die Predigtaufgabe zum Kern des pastoralen Handelns, auf die übrigens bis heute weite Teile des Theologiestudiums bezogen bleiben.

1.3. Praktisch-theologische Impulse

Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren in der Praktischen Theologie produktiv bearbeitet worden, indem die ästhetische Dimension des Gottesdienstes betont wurde (Meyer-Blanck, 2011, 343-387). Wichtige Impulse zu dieser Neubesinnung auf die Form des Gottesdienstes stammen aus liturgischen Bewegungen wie etwa der Berneuchener Anfang der 1920er Jahre sowie der Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Religion bzw. ästhetischer und religiöser → Erfahrung (z.B. Gräb, 1997; Grözinger, 1991). Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit rezeptionsästhetischen und zeichentheoretischen Impulsen. In Anlehnung an Umberto Eco sind solche Anregungen durch die Rede von Predigt und Gottesdienst als „offenem Kunstwerk“ aufgenommen (Bieritz, 1995; Martin, 1984). Ferner ist eine gestiegene Aufmerksamkeit für „Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion“ (Erne/Schütz, 2010) sowie das Wechselverhältnis der (künstlerischen) Gestaltung von Kirchenräumen mit den dort stattfindenden liturgischen Handlungen zu beobachten (Raschzok, 2002). In religionspädagogischer Perspektive sind diese Entwicklungen rezipiert in der sogenannten → Kirchenpädagogik (Rupp, 2006). Und die liturgietheoretischen Überlegungen zu religiöser und ästhetischer Erfahrung haben in der religionsdidaktischen Betonung eines Erfahrungsbezuges etwa der → Symboldidaktik (Biehl, 1991) oder im → „ästhetischen Lernen“ (Schröder, 2012, 600f.) wichtige Strukturparallelen. Anregend für die religionspädagogische Theoriebildung war auch der Dialog von Praktischer Theologie mit der Theatertheorie, erkennbar im programmatischen Begriff der Inszenierung (Meyer-Blanck, 2011, 374-387), einem Nachdenken über Performanzen (Klie, 2013), der Rede von der „Theatralität des Gottesdienst[es]“ (Roth, 2006) oder der Aufmerksamkeit für „liturgische Präsenz“ (Kabel, 2002). Die Performative Religionsdidaktik (Klie/Leonhard, 2006; Klie/Leonhard, 2008) hat diese Anregungen bildungstheoretisch profiliert (Dressler, 2009) und den Blick für den notwendigen Zusammenhang liturgisch-ritueller und religionsdidaktischer Fragen neu geschärft: „Religion zum Sprechen zu bringen ist mehr als das Reden über Religion“ (Klie/Leonhard, 2006, 7). In der praktisch-theologischen Bearbeitung der Verengung evangelischer Gottesdienste auf verbale Verkündigungsformen sind gewichtige Impulse zur Hand, die über einen langen Zeitraum gewachsene strikte Trennung von → Religionspädagogik und Liturgik zu überwinden (Grethlein, 1998), und zwar mit bildungstheoretischer Trennschärfe (Dressler, 2006, 59-160), leibphänomenologischen Anregungen (Leonhard, 2006, bes. 88-90) oder kommunikationstheoretisch (Grethlein, 2012, bes. 143-157) begründet. Letzteres findet sich dann auch in der definitorischen Bestimmung von Religionspädagogik als „Theorie der → Kommunikation des Evangeliums im Medium von Lernprozessen“ (Schröder, 2012, 172) wieder.

2. Evangelische Gottesdienste

2.1. „Normalfall“ Sonntagsgottesdienst

Jeden Sonntag besuchen ca. eine Million Menschen einen evangelischen Gottesdienst. Diese hohe, absolute Zahl von Gottesdienstteilnehmenden kann durchaus positiv gedeutet werden (Meyer-Blanck, 2011, 237f.). Dem gegenüber stehen aber empirische, für Veränderungen der Zeitwahrnehmung spätmoderner Gesellschaften achtsame Befunde. Ihnen ist eine erhebliche Differenz gegenwartskultureller Gestaltungsfragen des Sonntages samt der Entwicklung von „Wochenenddramaturgien“ (Ebertz, 2008) zum auf wöchentliche Partizipation angelegten Sonntagsgottesdienst zu entnehmen. Offenbar kollidiert die am Wochenrhythmus orientierte Feier mit der Lebenspraxis vieler Menschen. Der sonntägliche Gottesdienst ist in eigentümlicher Weise zwischen erheblichen normativen Erwartungen binnenkirchlicher Milieus und gleichzeitiger Marginalisierung seitens der Mehrzahl der Evangelischen situiert. Auch die Rede vom Sonntagsgottesdienst als Mitte der → Gemeinde erweist sich empirisch bei näherem Hinsehen – theologisch durchaus bedenklich – oftmals als Rede von der Mitte der sogenannten Kerngemeinde. Diese Spannung zwischen normativer An- und Zumutung sowie empirischen Eindrücken kulminiert dann bisweilen darin, am Sonntagmorgen eine „liturgische Notsituation“ zu erblicken (Grethlein, 2001, 27f). Allerdings kann dem gegenüber darauf hingewiesen werden, dass der regelmäßige Sonntagsgottesdienst „auch für die Öffentlichkeit, Verlässlichkeit und Erkennbarkeit des kirchlichen Handels“ stehe (Meyer-Blanck, 2011, 390). Immerhin sind vielfältige Bestrebungen zu beobachten, Besuch und Reichweite zu verbessern. Aufgenommen werden dabei, z.B. in Gestalt von Familiengottesdiensten, auch und gerade Impulse zur Reform des Kindergottesdienstes (→ Kindergottesdienst, evangelisch; → Kindergottesdienst, katholisch), dessen Situation als sonntägliche Parallelveranstaltung zum „Hauptgottesdienst“ durchaus problematisch ist (Bargheer, 2003, 168f). Der Sonntagsgottesdienst zeigt sich oftmals als ein „Reformprojekt“ vor allem im Horizont von Überlegungen zum „Gemeindeaufbau“. Auch hat er in gewisser Weise „Modellcharakter“ hinsichtlich „liturgischer Professionalität“ und wird eingezeichnet in den Horizont theologischer Bildung und Ausbildung, um ein liturgisches Handeln in „gebildeter Routine“ zu ermöglichen (Meyer-Blanck, 2011, 391f.). Agendarische Reformen der letzten Jahrzehnte haben die Desiderate der gottesdienstlichen Entwicklung aufgenommen und etwa im Evangelischen Gottesdienstbuch von 1999 durch die wechselseitig aufeinander bezogene Unterteilung von vier Schritten (A: Eröffnung und Anrufung – B: Verkündigung und Bekenntnis – C: Abendmahl – D: Sendung und Segen) liturgische Gestaltungsfragen über die Predigt hinaus in den Fokus des Interesses gerückt. So folgt der Sonntagsgottesdienst einer geregelten „Dramaturgie“, beschreibbar als Inszenierung einer „Schwelle und Unterbrechung“ von Raum und Zeit (Meyer-Blanck, 2011, 393-396).

2.2. Gottesdienste in der Konfirmandenzeit

In kaum einem anderen kirchlichen Handlungsfeld kommt die Spannung zwischen Sonntagsgottesdienst und alternativen Feierformen so deutlich zum Ausdruck wie in der Konfirmandenzeit (→ Konfirmandenunterricht/Konfirmandinnenarbeit). Entsprechend den hohen normativen Erwartungen an den Sonntagsgottesdienst in der Ortsgemeinde wird den Konfirmandinnen und Konfirmanden eine verpflichtende Zahl von Besuchen auferlegt. Gottesdienste in der Konfirmandenzeit sind eingezeichnet in ein dreifaches Spannungsfeld (Meyer/Saß, 2015): Zuerst geht es um den organisationssoziologisch nachvollziehbaren Versuch einer Reproduktion kerngemeindlicher Strukturen, ausgedrückt in dem Wunsch, die Konfirmandinnen und Konfirmanden mögen in den Gottesdienst integriert werden. Die spätere, lebenslauf- und festbezogene Gottesdienstpraxis der Konfirmierten zeigt jedoch regelmäßig – und zwar schon seit langer Zeit – den geringen Erfolg solcher Bemühungen. Drittens soll es in der Konfirmandenzeit insbesondere um die Förderung von Ausdrucksformen jugendlicher Spiritualität gehen. Produktiv aufgenommen wird dies in all den liturgischen Handlungen, die im Kontext von Frei-Zeiten, Camps oder Wochenenden (Saß, 2005, 284-293) (→ Jugendfreizeit/Jugendcamp) inszeniert werden und seitens der Jugendlichen Zustimmung erfahren (Haeske, 2010). Bundesweite empirische Studien zur Konfirmandenzeit (Ilg/Schweitzer/Elsenbast, 2009) dokumentieren zudem, dass die verpflichtende Teilnahme am Gottesdienst in der Konfirmandenzeit eben nicht zu einer höheren Akzeptanz führt. „Das Gegenteil ist der Fall: Am Ende der Konfirmandenzeit, also nach dem Erleben von zumeist 20 oder mehr Gottesdiensten, ist der Anteil der Konfirmanden, die Gottesdienste langweilig finden, nicht etwa geringer, sondern liegt mit 54% signifikant höher als bei t1“ (Ilg/Schweitzer/Elsenbast, 2009, 141), also deutlich höher als zum ersten Befragungszeitpunkt. Eine zusätzliche Herausforderung liegt darin, dass in der Konfirmandenzeit die an sich zweckfreie, gemeinschaftliche Feier permanent unterrichtlich verzweckt wird, im Sinne der Annahme, man müsse zunächst (auswendig) lernen und verstehen, um dann partizipieren zu können. Hier gilt: „Der Gottesdienst ‚lernt‘ sich schlecht während des Konfirmandenunterrichts“ (Neijenhaus, 2001). So wird man konstatieren müssen, dass die Wahrnehmung der Jugendlichen nicht zuletzt „eine Folge der real existierenden Gestalt des Gottesdienstes“ ist (Starck/Scholz, 1998, 257). Konzeptionell wird es zukünftig um die Überwindung der fruchtlosen Alternative einer ausschließlichen Orientierung an den normativen, binnenkirchlichen Erwartungen oder nur den Interessen der Jugendlichen gehen: „Die Verpflichtung zum Gottesdienstbesuch der Konfirmanden wie auch das völlige Freistellen der Besuchspflicht ist gleichermaßen Ausdruck gemeindepädagogischer Einfallslosigkeit oder Bequemlichkeit“ (Meyer-Blanck, 2001, 266). Gerade die Ermöglichung ermutigender Gemeinschaftserfahrungen stellt, das zeigen empirische Einsichten (Meyer, 2012), ein wichtiges Kriterium dar, und zwar unabhängig von Ort oder Zeit(en). „Der evangelische Gottesdienst muss nicht grundsätzlich neu erfunden werden, um ein angemessener Bestandteil auch der Konfirmandinnenarbeit zu werden. Die Grundformen des evangelischen Gottesdienstes und auch die vorgeschlagenen Lesereihen ermöglichen jugendgerechte und gemeindeverbindende Gottesdienste. Es geht um eine Veränderung des Bestehenden und um eine Weiterentwicklung“ (Meyer/von Stemm, 2010, 86). Religionspädagogisch wird es zukünftig darum gehen, die Konfirmandenzeit stärker lernorttheoretisch in Unterscheidung zur → Schule zu profilieren und ihr Proprium gerade nicht in unterrichtlicher Vermittlung, sondern im gemeinsamen Feiern zu erblicken. Liturgiedidaktik avanciert somit in manchen Konzepten zur Schlüsselfrage der Gestaltung der Konfirmandenzeit (ein Überblick findet sich in Domsgen/Lück, 2008). Hinsichtlich der Frage des Zusammenhanges von religionspädagogischen und liturgischen Fragestellungen sowie in Aufnahme gegenwärtiger bildungstheoretischer Diskurse könnte gar gefragt werden, ob nicht „Gottesdienst“ oder gemeinsames Feiern ein kompetenztheoretisch beschreibbares Bildungsziel der Konfirmandenzeit ist, allerdings kein Lernziel.

2.3. Schulgottesdienste

Überlegungen zur Feier von Gottesdiensten im Kontext der öffentlichen Schule (→ Schulgottesdienst) tangieren das Verhältnis von Schule und (Ev.) Kirche bzw. Religionsgemeinschaft(en), den Umgang mit religiös heterogenen Teilnehmenden (christlich – muslimisch – konfessionslos), das Verhältnis von positiver und negativer → Religionsfreiheit (Art. 4 GG), die konkrete liturgische Gestaltung (evangelisch – ökumenisch – multi-religiöse; Kirchenamt der EKD, 2006), die Auswahl eines geeigneten Ortes (Schule – Kirche – Moschee) und die professionstheoretische Klärung liturgischer Rollen (Pfarrerin/Pfarrer – Lehrerin/Lehrer). Notwendig sind Klärungen zunächst einmal vor dem Hintergrund beeindruckender Befunde zu schulischer Feierpraxis. Insbesondere der Einschulungsgottesdienst hat in den letzten Jahren Teilnahmezahlen erreicht, die dem Heiligabend in nichts nach stehen (Saß, 2010, 21-30). Neben diesen faktischen Bedeutungszuwachs treten nun aber wichtige religionspädagogische Impulse: „Religion in der Schule ist mehr als Unterricht“ (Dressler, 2012, 15). Religionspolitisch wird das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaft in der Feier von Schulgottesdiensten dahingehend produktiv aufgenommen, dass die laizistisch missverstandene Trennung von Staat und Kirche vor dem Hintergrund positiver Religionsfreiheit korrigiert wird. Zudem begegnet mit „Religion im Schulleben“ (Schröder, 2006) (→ Schulkultur/Schulleben) ein wichtiger, über die pädagogische Aufgabe von Schule hinaus gehender Beitrag. Der „Bedeutungswandel von Schule“ (Dressler, 2012, 16) hin zu Eigenverantwortlichkeit, Ganztagsschule und Schulprogrammatik evoziert geradezu die Expansion einer „Feierkultur“ in der Schule als „Haus des Lernens“ (Dressler, 2012, 18f.). Angesichts fehlender zivilreligiöser Formate wie etwa in den USA kommt dem Schulgottesdienst eine gesellschaftlich wichtige Funktion zu: „Religion an der Schule profiliert sich in diesem Zusammenhang als eine kulturelle Praxis, mit der sich Menschen und Gemeinschaften zu den Kontingenzen des Lebens, zur Unverfügbarkeit ihrer Existenz verhalten. Eine Institution wie die Schule findet ihren Sinn nicht in sich selbst. Sie lebt – wie Staat und Gesellschaft insgesamt – von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schafft und garantiert. Religiöse Feiern beziehen sich auf diesen Sachverhalt und transzendieren damit die Grenzen und Möglichkeiten der Schule [...]“ (Dressler, 2012, 22). Im Sinne eines formalen Bildungsverständnisses als Selbst-Bildung des Menschen ist der Schulgottesdienst als „öffentlicher Gottesdienst“ damit zwar ein „zielgerichtetes“, jedoch „zweckfreies Handeln“, eine „Unterbrechung der Nutzenkalküle, denen das Leben auch in der Schule sonst weitgehend unterworfen ist“ (ebd.). Gottesdienst ist folglich keinesfalls zu „pädagogisieren“, auch wenn er „pädagogische Elemente“ enthalten kann (Dressler, 2012, 23). In der praktischen Durchführung lassen sich drei Grundformen identifizieren (Dressler, 2012, 53-59): Zunächst einmal begegnen unterschiedliche Gottesdienste, die auf ein konkretes Ereignis innerhalb der Schulgemeinschaft bezogen sind: Jubiläen, Schulfeste, aber auch individuelle Trauerfälle oder Gottesdienste aus Anlass von Katastrophen (Fechtner/Klie, 2011). Besonders verbreitet sind zweitens Gottesdienste, die an wichtigen Übergängen der Schulbiographie lokalisiert sind: Einschulung, Schulwechsel, Schulabschluss. Hier werden über Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler hinaus auch weite Teile der Familien erreicht. Die religionspädagogisch notwendige Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Familie und Religion (Domsgen, 2006) findet darin einen liturgischen Ausdruck. Wie bei Kasualgottesdiensten auch steht hier zumeist eine Segenshandlung im Mittelpunkt der Feier (Saß, 2010, 95-124). Schließlich sind all die Schulgottesdienste zu nennen, die sich am Ablauf des Kirchenjahres orientieren. Im Gegenüber zum Gottesdienst in der Ortsgemeinde ist es zudem ein besonderes Merkmal von Schulgottesdiensten, dass hier neben Pfarrerinnen und Pfarrern häufig (Religions-)Lehrkräfte, wenngleich zumeist ohne entsprechende liturgische Bildung in Studium und Vorbereitungsdienst, verantwortlich handeln. Die besondere Situation von Schulgottesdiensten fordert neben einer Sensibilisierung für die Wahl des geeigneten Ortes zu religionstheologischen Klärungen heraus, ob also evangelisch, ökumenisch oder multi-religiös gefeiert werden soll.

3. Ausblick

Die Pluriformität evangelischer Gottesdienste im Horizont eines reformatorisch weiten Gottesdienstverständnisses erweist sich als folgenreich. Solch Nachdenken über Gottesdienst in evangelischer Perspektive drängt zudem auch auf religionspädagogische Klärungen. Dazu gehört zunächst einmal die Frage, wie sich religiöse Bildung an den Lernorten → Familie, → Schule und → Gemeinde zur Feierpraxis der Evangelischen Kirche verhalten. Ob und wie Gottesdienst eine Bildungsdimension hat bzw. haben sollte, ist noch präziser zu bestimmen. In diesem Zusammenhang wird auch eine kritische Revision der Pfarrer- sowie Lehrerbildung an der Universität anzustreben sein. Überkommene Unterscheidungen zwischen einem an pädagogischen Vermittlungsaufgaben orientierten Lehramtsstudium mit Distanz zu seelsorgerlichen und liturgischen Handlungsfeldern und dem an letzteren orientierten Pfarramtsstudium bei Vernachlässigung didaktischer Perspektiven scheinen in der Folge der geschilderten Transformationsprozesse brüchiger zu werden. Eine bildungstheoretisch beherzte, auch liturgiedidaktisch akzentuierte Revision der tradierten Unterscheidung von „Volltheologie“ und Lehramt wäre für beide Studiengänge ein Gewinn. Denn didaktische Kompetenzen können das spätere pastorale Handeln profilieren und liturgische (sowie poimenische) Kompetenzen tragen zu Professionalisierung angehender Lehrerinnen und Lehrer bei. Dass der Zusammenhang von Religionspädagogik und Liturgik gleichwohl nicht nur in Lehr-Lernprozessen mit Kindern und Jugendlichen relevant ist, darauf macht die demographische Entwicklung eindrücklich aufmerksam. In Hinblick auf die Altersstruktur des Sonntagsgottesdienstes, aber auch die Feier von Gottesdiensten in Seniorenzentren, stellt sich die Frage nach religiöser Bildung im Alter und altersgerechten Liturgien als Herausforderung (Saß, 2014). Insbesondere die Feier von Gottesdiensten mit Demenzkranken (Plote/Tholen, 2011) ist ein wichtiges Beispiel dafür, dass sich ein evangelisches Gottesdienstverständnis zukünftig dieser Herausforderung stellen muss: liturgisch und religionspädagogisch.

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