Hermeneutischer Religionsunterricht
(erstellt: Februar 2017)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Hermeneutischer_Religionsunterricht.100120
1.Ein neues Verhältnis von Theologie und Pädagogik als Voraussetzung des Hermeneutischen Religionsunterrichts
Die Entstehung des Hermeneutischen Religionsunterrichts (→ Religionsunterricht, evangelischer
Die damals führenden evangelischen Religionspädagogen Helmuth Kittel und Oskar Hammelsbeck, die für eine Evangelische Unterweisung mit ihrer Verkündigung eintraten, gaben doch die Schule als ganze frei und vertrauten dabei auf den Sachverstand einer sich allerdings ihrer eigenen Grenzen bewussten Pädagogik (Nipkow, 1999, 728). Es handelte sich um die geisteswissenschaftliche Pädagogik der 50er und 60er Jahre, wie sie maßgeblich von Otto Friedrich Bollnow, Andreas Flitner und Wilhelm Nohl vertreten wurde (Klappenecker, 2007, 34;64;69). Martin Stallmann, ein maßgeblicher Vertreter des Hermeneutischen Religionsunterrichts, forderte „einen altersstufenmäßigen Aufbau“ des Religionsunterrichts, „der seine Einfügung in die uns geläufige Art des Schulwesens möglich macht“ (Stallmann, 1954, 177).
Das Schulwort der dritten Tagung der zweiten Generalsynode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom April 1958 in Berlin-Weißensee, der letzten noch gesamtdeutschen Synode, enthält einen Satz, der so viel zitiert wurde wie kaum ein anderer aus den Verlautbarungen der EKD (Nipkow, 1999, 720): „Die Kirche ist zu einem freien Dienst an einer freien Schule bereit“ (Müller-Rolli,1999, 718). Die Denkschrift hält fest, dass „über Schule und Lehrer keinerlei kirchliche Bevormundung ausgeübt werden darf“ und „das gesamte Schulleben […] keine weltanschauliche Bevormundung, gleich welcher Art“ duldet. Die Aufgabe der Kirche ist es, „in der Freiheit, zu der allein Christus befreit, an die hohen Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung“ zu erinnern. „Wird sie nicht gehört, so wird sie sich nicht erbitten lassen, sondern dennoch dazu helfen, daß Menschen heranwachsen, die im Ganzen der Gesellschaft dienen, ohne ihren Glauben zu verleugnen. Gottes Wort ist nicht gebunden“ (Müller-Rolli, 1999, 717f.).
Der Schlüsselbegriff der → Freiheit
2.Religionsunterricht: „Dolmetschen“ und „Verkündigung durch Auslegung“
2.1.Liselotte Corbach (1910-2002)
„Das „Übersetzen“ der sprachlichen und historischen Gebundenheit biblischer Texte in die Situation der Kinder hält Liselotte Corbach für die zentrale Aufgabe der Lehrenden“ (Pithan, 1997, 153, in Bezug auf Corbach, 1962, 35). Die Orientierung am Kind und dessen Anspruch, die volle Tiefe eines Textes zugänglich gemacht zu bekommen, ist zentral in Corbachs Denken. Den Ansätzen der Bultmann-Schüler Hans Stock und Martin Stallmann stimmte sie grundsätzlich zu, vermisste aber die didaktische Umsetzung der wissenschaftlich-theologisch gewonnenen Inhalte (Pithan, 1997, 151f.).
In ihrer religionspädagogischen Veröffentlichung „Die Bergpredigt in der Schule“ (Corbach, 1962) möchte sie die Anrede Gottes an den Menschen, den Anspruch nachzufolgen, als Konsequenz des Zuspruchs Gottes verstanden wissen. In der Bergpredigt (→ Bergpredigt, bibeldidaktisch, Grundschule
Corbachs Hauptwerk ist die Bilddidaktik „Vom Sehen zum Hören“. Sie wandte sich gegen das intellektuell verengte Denken und die „Ratlosigkeit dem Kind gegenüber“ (Corbach, 1965, 14, zitiert nach Pithan, 2010, 331), die sie in der hermeneutischen Religionspädagogik von Hans Stock fand (Pithan, 2010, 331). Corbach entdeckte das Eigene des Bildes, das nicht einfach nur den Text illustrierend dargeboten werden sollte. Das Bild muss aber immer von der Auslegung eines biblischen Textes her verstanden werden (Meyer-Blanck, 2003, 194f.; Pithan, 1997, 152f.).
Auf die Aufbruchsbewegungen um 1968 reagierte Corbach, indem sie ihre religionspädagogische Konzeption so modifizierte, dass man von einem „themenorientierten Bibelunterricht“ sprechen kann (Pithan, 2010, 332). Sie griff aktuelle Themen auf (z.B. „Außenseiter“, „Frieden“, „Gruppenzwang“). Wie schon in der Bergpredigt, kommt es auch hier darauf an, dass das Christentum nur im Handeln glaubwürdig wird. In ihrer Monografie zum Thema Amos zeigt sie: Die Botschaften des Propheten zielen darauf, dass „man Gott nicht am Nächsten, am Mitmensch vorbei lieben und ernst nehmen kann“ (Corbach, 1972, 90, zitiert nach Pithan, 2010, 332). Ihre Hauptkritik am aufkommenden problemorientierten Unterricht bestand darin, dass die Bibel „als Unterrichtstoff mit Funktionswert“ (Pithan, 2010, 333, in Bezug auf Corbach, 1981, 41) betrachtet wurde.
2.2.Hans Stock (1904-1991)
Vor dem Hintergrund des Schulwortes und seines Freiheitsbegriffs ist die Forderung des Religionspädagogen Hans Stock, eines Protagonisten der hermeneutischen Religionsdidaktik, zu sehen. Der Religionsunterricht wird nicht mehr einseitig von der Kirche her begründet (Borchardt, 2013, 195). Neben den Verkündigungsbegriff tritt der Auslegungsbegriff, der die Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt: „Wer nur ‚Verkündigung‘ denkt, wird leicht dazu geführt, den jugendlichen Hörer einfach mit dem Text zu ‚konfrontieren‘ und den Text ‚reden zu lassen‘, als wäre es ausgemacht, daß der Bibeltext schlechthin den heutigen Menschen in aller Direktheit etwas anginge“ (Stock, 1952, zitiert nach Borchardt, 2013, 195). Mit Stocks schulischer Begründung des Unterrichts, so Borchardt, kann der Religionsunterricht sich von der Kirche lösen. Hierbei gibt er seinen rein verkündigenden und predigenden Anspruch auf (Borchardt, 2013, 203).
Schülerinnen und Schüler sollen, so Hans Stock, im Religionsunterricht zum existentialen Verstehen angeleitet werden. Den Hintergrund dieser Forderung bildet die Theologie Rudolf Bultmanns, bei dem er studiert hat. Der von Bultmann geprägte Begriff der Entmythologisierung bezeichnet „ein hermeneutisches Verfahren, das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wirklichkeitsgehalt befragt“ (Bultmann, 1963, 20, zitiert nach Borchardt, 2013, 194). Die Aufgabe der Entmythologisierung neutestamentlicher Verkündigung besteht in der existentialen Interpretation. Diese arbeitet das menschliche Existenzverständnis heraus (Zager, 2010, 44). An das Christusgeschehen, also an Kreuz und Auferstehung (→ Auferstehung Jesu
Bultmann geht es um die vergegenwärtigende Auslegung der biblischen Überlieferung. Er fragt danach, wie eine „sachgemäße Ausgelegtheit der menschlichen Existenz“ zu erarbeiten ist (Bultmann, 1968, 232). Dies hat die existentiale Analyse des menschlichen Seins zu leisten. Bei der wissenschaftlichen Interpretation biblischer Texte kommt es ihm darauf an, das „Woraufhin der Interpretation“, wie Dilthey es nennt, in der Frage nach dem Verständnis der menschlichen Existenz zu sehen, welches in der Schrift zum Ausdruck kommt (Bultmann, 1968, 216;232). Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt denselben Bedingungen des Verstehens (→ Hermeneutik
2.3.Die Rezeption des hermeneutischen Grundkonzeptes in der katholischen Religionspädagogik
In der katholischen Religionspädagogik führte das Stichwort „Auslegung“ und das damit verbundene Konzept des Hermeneutischen Religionsunterrichts in den sechziger Jahren zu einer „bibelkatechetische[n] Besinnung und Wende“ (Weidmann, 1997, 50). Maßgebliche katholische Vertreter sind Albert Höfer, Wolfgang Langer und Günter Stachel. Als Gesamtziel des Unterrichts galt das Verstehen biblischer Texte, auch in ihrer verkündigenden Absicht. Dieser Unterricht löste die Kerygmatische Katechese ab, also das katholische Pendant zur Evangelischen Unterweisung (→ Evangelische Unterweisung
3.Hermeneutischer Religionsunterricht: Existentieller Bezug zu biblischen Texten durch gewissenhafte Auslegung
Durch die schulische Begründung des Faches Religion wurde einer einseitigen Legitimation durch kirchliche → Katechese
Didaktische Konzepte standen im Vordergrund, die zu einem kritischen Verstehen biblischer Texte und einer selbständigen Urteilsfindung führen sollten (Lindner, 2011). Der Hermeneutische Religionsunterricht trennt also Predigt und Unterricht. Er hat die Aufgabe einer „verstehenden Interpretation kerygmatischer Texte“ (Stock, 1952, 29, zitiert nach Borchardt, 2013, 196). Über die Erschließung der Tradition sollen Probleme und Fragen der aktuellen Situation angegangen werden (Weidmann, 1997, 52). Die Gewichtung der Lebenswirklichkeit und die Erfahrung der Heranwachsenden kam dabei aber zu kurz (Weidmann, 1997, 52). So war Corbach der Auffassung, die Probleme der Kinder und Jugendlichen und des Menschen überhaupt seien immer schon mit den biblischen Texten thematisiert worden (Pithan, 1997, 154). Im Konzept des Hermeneutischen Religionsunterricht wurde auch eine gewisse Ferne seiner Inhalte zu Problemen der Gesellschaft beklagt (Weidmann, 1997, 52).
Der Hermeneutische Unterricht hat einen starken Bezug zu innertheologischen Diskursen (Borchardt, 2013, 1996). Es geht jedoch den Vertreterinnen und Vertretern dieser Konzeption um eine von der Lehrperson verantwortete Auslegung, wie vor allem das Beispiel Corbach zeigt (Pithan, 1997, 154). Nur eine gewissenhafte Auslegung kann den Anspruch des Textes hörbar machen. So ist die Lehrperson (→ Lehrkraft, Rolle
Aufgrund des anspruchsvollen fachlichen Niveaus, wie es in dieser Konzeption vertreten wird, konnte sich der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach im Fächerkanon der Schule behaupten (Weidmann, 1997, 52). Ein kontinuierlicher Bezug zur Bibel sowie die Anwendung bibelexegetischer Methoden, wie er sich in den Bildungsplänen der Länder zeigt, ist das bleibende Verdienst des Hermeneutischen Religionsunterrichts. Die moderne Bibelwissenschaft ist durch ihn in die Religionspädagogik eingeschrieben worden (Lindner, 2011). Die kreative Bibeldidaktik, der „→ Bibliolog
Als Ertrag einer Auseinandersetzung mit der Konzeption des Hermeneutischen Religionsunterrichts lässt sich festhalten: Am Bezug zur Bibel ist nach wie vor festzuhalten angesichts einer abnehmenden Kenntnis biblischer Inhalte, die auch deren Lebens- und Bildungsrelevanz in den Hintergrund treten lässt – bei gleichzeitigem ungebrochenen Interesse vieler Kinder und Jugendlicher an existentiellen Fragen.
Literaturverzeichnis
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