Sozialisationsbegleitender Religionsunterricht
Andere Schreibweise: Therapeutischer Religionsunterricht; Religionsunterricht als Interaktion
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Sozialisationsbegleitender_Religionsunterricht.100123
1. Definition
Die Konzeption des sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts ist in den 1970er Jahren in Deutschland entstanden und geht im Wesentlichen auf den evangelischen Praktischen Theologen Dieter Stoodt zurück. Sie versteht sich als Weiterentwicklung beziehungsweise Zuspitzung des →
Problemorientierten Religionsunterrichts
2. Voraussetzungen
Die Entwicklung der Konzeption des sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts verdankt sich der „Entdeckung“ des sozialwissenschaftlichen Begriffs der Sozialisation für die Religionspädagogik, die Dieter Stoodt wesentlich mit vorangetrieben hat (vgl. Stoodt, 1972; 1975b). Mit der pointierten Verbindung von „Religion“ und „Sozialisation“ drückte sich zum einen eine Kritik an den Sozial- und Erziehungswissenschaften aus, die die religiöse Dimension der Sozialisation fast völlig ausblendeten; zum anderen erschloss sich damit für die → Religionspädagogik
In einer exemplarischen Untersuchung empirischen Materials (u.a. Beobachtungen von Schülerinnen und Schülern sowie Studentinnen und Studenten und auch Schülerprotokolle) rekonstruierte Dieter Stoodt eine Form religiöser Sozialisation, die bei Jugendlichen zu defizitären Verhaltens- und Orientierungsmustern beiträgt. Diese äußern sich etwa in Ich-Schwäche, der „Unfähigkeit angemessener Selbstrepräsentation“, Autoritätsfixierung, Konfliktvermeidungstendenzen und auch religiös konnotierten Sicherheits- und Schutzbedürfnissen (vgl. Stoodt, 1972, 194-214). Diese soziologisch gesehen systemstabilisierende Funktion religiöser Sozialisation bringt Dieter Stoodt auf den von Adorno u.a. verwendeten Begriff der „neutralisierten Religion“. Damit beschreibt er die gegenwärtige Situation des Christentums in seiner „reduzierten“ Gestalt, das in → Familie
3. Ziele und Aufgaben
Im sozialisationsbegleitenden Religionsunterricht geht es darum, in der religiösen Sozialisation erworbene, fest sitzende Normorientierungen, hierarchisch geprägte Gesellschaftsbilder, schichtenbedingte Blockaden und religiöse Fixierungen der Schülerinnen und Schüler in unterrichtlichen Interaktionen „aufzuhellen und aufzuarbeiten“, wobei die Lehrkraft die Funktion hat, Impulse zur „Selbstklärung“ und „Verhaltensänderung“ zu geben (vgl. Stoodt, 1975a, 11f.). Die Intentionen des Unterrichts lassen sich in kognitive, affektive und „sozialtherapeutische“ Ziele differenzieren, jeweils bezogen auf den individuellen, interpersonalen und gesellschaftlichen Bereich. In dem so entstehenden didaktischen Strukturgitter haben die sozialtherapeutischen Lehr- und Lernziele im Blick auf die globalen Anliegen der Konzeption allerdings eine besondere Bedeutung. Diese werden folgendermaßen beschrieben:
- „Hilfe bei der Bewältigung der eigenen Konflikte, Zwänge und Ängste erfahren. Vorenthaltene Anerkennung vermittelt bekommen.“ (individueller Bereich)
- „In der Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit gegenüber anderen gestärkt werden.“ (interpersonaler Bereich)
- „Erfahrungen verminderten Leistungs- und Anpassungszwanges und gemeinsamer Problemlösungen gewinnen.“ (gesellschaftlicher Bereich) (vgl. Stoodt, 1975a, 12)
Es fällt im Blick auf die leitenden Intentionen auf, dass der Religionsunterricht in dieser Konzeption wesentlich auf die – heute würden wir sagen: – Stärkung der Resilienz von Schülerinnen und Schülern ausgerichtet ist, dass ihm aber spezifisch religiöse Inhalte nicht prominent zugeschrieben werden. Religiöse Motivationen und Inhalte stehen eher im Hintergrund dieser Konzeption, was sich deutlich auch bei der Beschreibung der Aufgaben des sozialisationsbegleitenden Unterrichts zeigt. Dieter Stoodt identifiziert vier Hauptaufgaben des sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts:
- 1. Hilfe zur Selbstfindung: Angesichts sozialer Disparitäten und gesellschaftlichem Anpassungs- und Unterwerfungsdruck sollen Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht Anregungen erhalten, sich zu selbstständig handelnden und mündigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Die religiöse Sozialisation bildet hier eine negative Kontrastfolie: Sie verstärkt mit ihrer Fokussierung auf tradierte Normen eher die „infantile Religiosität“, die die Entwicklung von personaler Autonomie erschwert (vgl. Stoodt, 1975a, 27-29).
- 2. Hilfe zur Solidarisierung: Selbstständigkeit, Identität und Mündigkeit lassen sich nur im Kontext sozialer Verantwortung realisieren. Deshalb muss der Religionsunterricht einen Beitrag zur „Solidarisierungsfähigkeit“ der Schülerinnen und Schüler leisten, indem er deren Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten fördert. In diesem Horizont kommen auch kirchengeschichtliche, also durchaus primär kognitiv ausgerichtete Inhalte als Unterrichtsgegenstände in den Blick (z.B. die Urgemeinde, mittelalterliche Reformbewegungen etc.), insofern es hier um religiös motivierte Gruppenbildungen geht, die „exemplarische Widerstandshaltungen“ gelebt haben und darin auch Modelle für gegenwärtige soziale Handlungsanforderungen darstellen (vgl. Stoodt, 1975b, 29-31).
- 3. Hilfe zu stellvertretendem Handeln: Das kritische Potenzial des Religionsunterrichts tritt nicht nur darin zutage, dass er zur Emanzipation von Zwängen und Autoritätsfixierungen beiträgt (das allein wäre lieblos), sondern auch darin, dass er Schülerinnen und Schüler zu „Brüderlichkeit, Solidarität und realem stellvertretenden Handeln“ befähigt. Damit ist nicht eine Haltung paternalistischer Mildtätigkeit gemeint, sondern das politische Bemühen, gesellschaftlich und ökonomisch Deklassierten – lokal wie global – zu wachsender Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit zu verhelfen. Dies soll mit den Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht in ausgewählten politischen Aktionen praktisch eingeübt und gelebt werden (vgl. Stoodt, 1975b, 31-33).
- 4.
Hilfe zu alternativischem Denken: In diesem letzten Aufgabenbereich stehen nun theologische Perspektiven zentral. Es geht darum, mit den Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht ein Denken und Handeln zu entwickeln und einzuüben, das sich an der den Normen und Traditionen seiner Zeit gegenüber widerständigen und alternativen Lebenspraxis Jesu orientiert. In seinem Geist sollen Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht lernen, das Gegenwärtige als veränderbar und veränderungsbedürftig zu verstehen und die Rede von (angeblichen) Sachzwängen → ideologiekritisch
als Legitimation des Bestehenden zu durchschauen (vgl. Stoodt, 1975b, 33-35).
4. Würdigung
Der sozialisationsbegleitende Religionsunterricht atmet bis in den sprachlichen Ausdruck hinein den Geist der frühen 1970er Jahre, der bestimmt war von Protesthabitus und Gesellschaftskritik der 68er Studentenbewegung. Über diese zeitgeschichtliche Gebundenheit hinaus lassen sich aber einige Elemente identifizieren, die von bleibender Bedeutung für die Konzeptionsentwicklung des Religionsunterrichts sind. Neben der in der Fokussierung auf die Schülerinnen und Schüler liegenden Relativierung der Stoff- und Inhaltsorientierung des Religionsunterrichts und der Betonung der emotionalen und im weitesten Sinne seelsorgerlichen Aspekte sind dies insbesondere die didaktische Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Kenntnisse (→ Entwicklungspsychologie
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