Dialogischer Religionsunterricht. Der Hamburger Weg eines Religionsunterrichts für alle
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Dialogischer_Religionsunterricht_Der_Hamburger_Weg_eines_Religionsunterrichts_fr_alle.100125
1. Zum Begriff „Dialogischer Religionsunterricht“
Unter den seit Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts diskutierten Organisationsformen des Religionsunterrichts (→ Religionsunterricht, evangelisch
Als Dialogischer Religionsunterricht wird eine in der Hansestadt Hamburg entwickelte Praxis des Religionsunterrichts verstanden, die angesichts einer religiös, kulturell und sozial heterogenen Schülerschaft religiöses Lernen unter mehrperspektivischer Berücksichtigung verschiedener religiöser Traditionen von der Grundschule bis in die Sekundarstufe II in einem gemeinsamen Schulfach dialogisch und interreligiös gestaltet.
Im Hinblick auf den Terminus ist zu unterscheiden zwischen der Praxis des Religionsunterrichts in Hamburg (gebräuchlich ist auch der Begriff „Religionsunterricht für alle“ [Rufa]) und der religionspädagogischen Konzeption, die die Praxis des dialogischen Religionsunterrichts reflektiert und im Gespräch mit theologischen, erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Bezugstheorien konzeptionelle Merkmale und Grundzüge einer „Dialogischen Religionspädagogik“ entwickelt. Gegenüber der Bezeichnung Religionsunterricht für alle (Rufa) deutet der Terminus Dialogischer Religionsunterricht mit dem Hinweis auf Dialog ein zentrales konzeptionelles Element an. Im Folgenden wird daher der Begriff Dialogischer Religionsunterricht (DRU) für Praxis und Konzeption des Hamburger Religionsunterrichts verwendet.
Hervorzuheben ist, dass der DRU nicht als ein Modell verstanden werden will, das gleichsam der Serienproduktion diene, um dann in andere Bundesländer und religionspädagogische Kontexte exportiert zu werden. Die für den Religionsunterricht in Hamburg Verantwortlichen haben stets Wert auf die Feststellung gelegt, dass der DRU im Sinne eines Weges zu verstehen sei, bei dem die Prozessorientierung Vorrang vor Systematik und modelltheoretischer Abgeschlossenheit habe. In diesem Sinne sollte im Zusammenhang mit dem DRU vom Hamburger Weg eines dialogischen Religionsunterrichts gesprochen werden.
Dennoch beansprucht der DRU als elaborierte Konzeption eines gemeinsamen religiösen Lernens in heterogenen Kontexten wahrgenommen und diskutiert zu werden.
2. Dialogischer Religionsunterricht: Entwicklung einer Praxis
Der DRU entwickelt sich Anfang der 1990er Jahre in Hamburg als Resultat einer intensiven Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren der Nordelbischen-Lutherischen Kirche Hamburgs, Hamburger Religionsgemeinschaften, Theologie und Religionspädagogik der Universität Hamburg, dem Religionslehrerverband und anderen Akteuren des interreligiösen Dialogs (Doedens/Weiße, 1997). Die konzeptionelle Profilierung des Religionsunterrichts als dialogischer und interreligiöser Lernort hat ihre Voraussetzungen in Entwicklungen, die bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen und mit kontextuellen Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts in Hamburg zusammenhängen: Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die Katholische Kirche in Hamburg auf die Ausrichtung eines eigenen (konfessionellen) Religionsunterrichts verzichtet. Da die jüdische Gemeinde in Hamburg einen eigenen Religionsunterricht in den Räumen der Synagoge anbot und andere Religionsgemeinschaften vom Recht eines Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes keinen Gebrauch machten, war der → evangelische Religionsunterricht
Seine organisatorische Singularität in der Schule wurde spätestens in den siebziger Jahren religionspädagogisch relevant, als angesichts von Arbeitsmigration und gleichzeitiger Säkularisierungsprozesse das Bewusstsein weltanschaulicher und – in anfanghafter Thematisierung – religiöser Pluralität (→ Pluralisierung
Zum Ort interreligiösen Lernens und damit zu einem Dialogischen Religionsunterricht entwickelte sich das Fach Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als im Zusammenhang mit deutscher Wiedervereinigung, aber auch im Zuge der öffentlichen Diskussion über eine multikulturelle Gesellschaft und einer stärker wahrnehmbaren religiösen und kulturellen Pluralisierung an den Schulen kontrovers über die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts an der → öffentlichen Schule
In Hamburg wurde diese Situation zum Anlass genommen, den Religionsunterricht im Blick auf interkulturelles Lernen – wie es zunächst noch hieß –, ab 1995 dann auf dialogisches Lernen auszubauen. Neben der Situation an den Schulen bildete auch die religiöse Vielfalt in der Stadt einen wichtigen Hintergrund. Das von der Hamburger Arbeitsstelle Kirche und Stadt herausgegebene Lexikon der Religionsgemeinschaften zählte 109 Religionsgemeinschaften in Hamburg. Diese Zahl galt schon bald als Beleg für die unbestreitbare Tatsache religiöser Pluralität und diente als Argument für die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen religiösen Positionen und Traditionen im schulischen Religionsunterricht (Doedens/Weiße, 1997, 60).
Eine wichtige Rolle spielte die Nordelbische-Lutherische Kirche (und ihr Pädagogisch-Theologisches Institut). In einer wegweisenden programmatischen Stellungnahme (in: Doedens/Weiße, 1997, 11-22) wies sie einem interreligiös geöffneten und dialogisch verfassten Religionsunterricht einen wichtigen Ort innerhalb eines Gesamtkonzeptes von Bildung in einer „Schule für alle“ zu. Wichtig an dieser Stellungnahme war u.a. die Auffassung, schulische → Bildung
Vor dem Hintergrund dieser Positionsbestimmung sprach sich die Kirchenleitung der NEK, namentlich vor allem Bischöfin Maria Jepsen, in der Folgezeit immer wieder für den DRU aus; sie unterstützte das Pädagogisch-Theologische Institut auch darin, das durch Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz gegebene Recht der Religionsgemeinschaften zur inhaltlichen Verantwortung und Bestimmung der Grundsätze des Religionsunterrichts im Sinne einer Einladung an andere Religionsgemeinschaften zu verstehen, die inhaltliche Verantwortung für den Religionsunterricht zu teilen (→ Religionsunterricht, Recht
Die Entscheidung zur geteilten inhaltlichen Verantwortung schuf den Raum, aus dem der regelmäßig tagende Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht (GIR) hervorging, an dem ab 1995 Mitglieder wichtiger Religionsgemeinschaften (wie z.B. den in der Schura organisierten islamischen Gemeinschaften, den alevitischen Gemeinden, der jüdischen Gemeinde und des buddhistischen Tibetischen Zentrums sowie der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg, aber auch Vertreterinnen und Vertreter des PTI und der Universität) mitwirkten. Der Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht übernahm eine beratende und gestaltende Funktion in inhaltlichen und konzeptionellen Fragen des Hamburger Religionsunterrichts: Er prüfte → Lehrpläne
Eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung und Entwicklung des DRU spielten auch Theologie und Religionspädagogik der Universität Hamburg. Grundlegende Erfahrungen interreligiöser Zusammenarbeit wurden in den Dialog-Seminaren am ökumenewissenschaftlichen Institut des theologischen Fachbereiches gesammelt (Werner, 1994, 265-273). Der Arbeitsbereich Religionspädagogik begleitete in → empirischen Forschungsprojekten
Sehr dynamisch entwickelte sich der DRU in der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Der erste im Zeichen von Interreligiosität (→ Interreligiöses Lernen Förderschule
Auch in der Sekundarstufe I wurde der DRU weiterentwickelt. Die besondere Aufgabe bestand hier darin, für die Klassenstufe neun und zehn den Religionsunterricht auf religiöse Mehrperspektivität zu öffnen und gleichzeitig auf sein Alternativfach Ethik (→ Ethik
Ein charakteristisches Beispiel für eine fächerverbindende, interreligiös dimensionierte Zusammenarbeit war das Hamburger Hungertuch – ein Lernmaterial, das die Perspektiven verschiedener Religionsgemeinschaften auf das Thema Armut und soziale Ungerechtigkeit von Kindern und Jugendlichen in einer Großstadt in einem Bild zur Darstellung brachte und mit konkreten Hoffnungen und Vorschlägen der Religionsgemeinschaften für ein gerechtes Miteinander verband (Buchholz u.a., 1998).
Das Hungertuch – wie auch andere im Kontext des Hamburger Religionsunterrichts entwickelte Materialien – folgte den für die Didaktik dialogischen Religionsunterrichts konstitutiven Prinzipien von Schüler-, Traditions- und Problemorientierung, die vom Grundsatz der Dialogizität und Mehrperspektivität getragen sind.
3. Empirische Forschung zum Dialogischen Religionsunterricht
Die Praxis des DRUs wird seit mehr als zwanzig Jahren intensiv empirisch erforscht (→ Empirie
4. Konzeptionelle Merkmale Dialogischen Religionsunterrichts
Konzeptionelle Merkmale des DRUs wurden in der Reflexion empirisch rekonstruierter Praxis sowie in der Auseinandersetzung mit erziehungswissenschaftlichen, theologischen und sozialwissenschaftlichen Bezugstheorien entwickelt (Knauth, 1996; Weiße, 1999b; Knauth/Weiße, 2000).
Konzeptionell geht es dem DRU um die → theologische
Von daher wird deutlich, dass es sich bei dem Anliegen des DRUs, den Religionsunterricht für religiöse Mehrperspektivität und eine religiös heterogene Schülerschaft zu öffnen, nicht um eine Variante der wertungsfreien Vermittlung religionskundlichen Wissens handelt. Der didaktische Ansatz des DRUs ist schülerorientiert und initiiert religiöse Lernprozesse aneignungsbezogen aus der Sicht der lernenden Subjekte. Die „religiöse Ansprechbarkeit“ (Gloy, 1969) von Lernenden ist der hermeneutische Ausgangspunkt für das dialogische Lernen im Religionsunterricht. Religiöses Lernen wird als Suchbewegung verstanden, die im Spannungsfeld zwischen gefundenen Gewissheiten und offenen Fragen stattfindet, auf die sich Positionen, Bekenntnisse, aber auch offene Fragen religiöser Traditionen beziehen lassen. Der DRU konzipiert Konfessionalität daher auch nicht als normativ einheitliche und quasi objektive Größe, sondern setzt den Bekenntnisbezug als subjektives Moment angeeigneten religionsbezogenen Denkens, Glaubens und Urteilens auf der Seite der Lernenden an. Für den DRU gilt demnach die Pluralität subjektiver Bekenntnisse von Lernenden – ein konfessorisches Prinzip – als konstitutive Ausgangsbedingung und Ziel dialogischen Lernens.
Das Dialogverständnis, das seinen Ausgang von elementaren intersubjektiven Prozessen nimmt, erstreckt sich auch auf die gesellschaftliche Dimension. Seine gelingende Gestalt eines anerkennenden und lernenden intersubjektiven Austausches ist Vorgriff auf gesellschaftliche Verhältnisse einer dialogischen Demokratie (Knauth/Weiße, 2000, 177f.), die von Anerkennung und dem Bemühen um → Gerechtigkeit
Theologisch ist DRU den Merkmalen einer dialogischen Theologie verpflichtet, die programmatisch im Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen (Becker, 1994, 257-264) grundgelegt und in weiteren Arbeiten ausformuliert wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte in dieser Phase der ökumenische Theologe Hans Jochen Margull (Weiße, 1999a, 186-197). In dieser Tradition ist dialogische Theologie verbunden mit der Aufgabe jedweden Absolutheitsanspruches, mit der unbedingten Anerkennung des Anderen, die mit schweigen und zuhören können, christlicher Selbstzurücknahme beginnt und die Bereitschaft zur eigenen Verwundbarkeit als theologischer Grundhaltung einschließt. Vor diesem Hintergrund verbindet sich dialogische Theologie mit einem Habitus der Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Wahrheitsfrage. Dialogische Theologie kann gleichsam auf der Ebene konfessorischer Rede perspektivisch zum Ausdruck gebrachte Gewissheiten unbedingt anerkennen und – dies im Unterschied zu religionsphilosophischen Spekulationen über eine Wahrheit hinter den Wahrheiten – die Wahrheitsfrage dennoch als offen erachten. Dialogische Theologie lässt sich – so gesehen – in der Wahrheitsfrage methodologisch von einem erkenntnistheoretischen Agnostizismus leiten. In der Tradition dieses theologischen Denkens gilt es gegenwärtig, aktuelle Entwürfe einer interreligiösen beziehungsweise interkulturellen Theologie einzubeziehen (exemplarisch: Küster, 2011; Bernhardt/Schmidt-Leukel, 2013). Die Aufgabe besteht insgesamt darin, die Motive und Elemente einer dialogischen → Theologie
5. Perspektiven
Der DRU in Hamburg hat sich fest in der religionspädagogischen Landschaft etabliert. Im Spektrum von Organisationsformen des Religionsunterrichts wird er als ernstzunehmende konzeptionelle Variante eines pluralitätsfähigen Religionsunterrichts anerkannt (Kenngott/Englert/Knauth, 2015). Sein konzeptionelles Profil verdankt sich einem über Jahrzehnte andauernden Entwicklungsweg, der nicht einfach kopiert werden kann. Die Bedingungen seines Gelingens liegen in synergetischen Effekten eines Zusammenwirkens von Akteuren und zentralen mit Religionsunterricht befassten Institutionen der Hansestadt Hamburg. Der DRU ist auch deshalb so erfolgreich, weil seine Praxis permanent reflektiert, erforscht und weiterentwickelt wird und auch zentraler Inhalt auf allen Ebenen der Bildung und Fortbildung für Religionslehrerinnen und -lehrer ist. Dies gilt es bei zu raschen Übertragungsversuchen zu beachten. Wer den DRU übernehmen möchte, muss ihn für den eigenen Kontext neu erfinden.
Nach der Unterzeichnung von Staatsverträgen mit den islamischen Verbänden und Gemeinschaften sowie der Alevitischen Gemeinde und in Aussicht gestellter Verträge mit dem Buddhismus und dem Hinduismus in Hamburg steht der DRU erneut vor einer Wegmarke. Er wird sich in den nächsten Jahren von einem Dialogischen Religionsunterricht in institutioneller Verantwortung der Evangelischen Kirche zu einem Dialogischen Religionsunterricht in institutioneller Verantwortung aller Religionsgemeinschaften zu entwickeln haben – mit Folgen für → Curricula
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