Anthropologie
(erstellt: Februar 2016)
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1. Einführung: Anthropologie als Krisenwissenschaft
Sichtet man Handbücher zur Anthropologie, nimmt sich diese zunächst als eine ziemlich leidenschaftslose, um ihren Gegenstand bemühte Wissenschaft aus. Anthropologie ist danach die rationale Rede und Wissenschaft vom Menschen (griechisch: anthropos: Mensch; logos: vernünftige Rede) (Dirscherl, 2012, 65-67; Wulf, 2004, 19-43; Rahner, 1965; Lüke, 2006). Bei näherer Analyse stellt sich dies wesentlich komplexer dar. Das Besondere der Anthropologie gegenüber anderen Wissenschaften liegt bereits darin, dass der Mensch dabei nicht primär in der Außenperspektive der Verobjektivierung verbleibt. Er reflektiert vielmehr sich selber und macht sich so zum Forschungsgegenstand. Zudem ist eine kaum überschaubare Ausdifferenzierung der gegenwärtigen Anthropologie erkennbar, die es für manche fraglich sein lässt, ob und inwiefern überhaupt in den unterschiedlichen Wissenschaften und Praxisformen von Arbeit, Technik, Kultur, Biologie, Physik, Medizin, Paläoanthropologie, Ethnologie, Soziologie, Theologie und Politik noch vom selben Gegenstand die Rede ist (als Überblick Pleger, 2013; Bohlken/Thies, 2009; Ganten, 2008; zum Folgenden neben Pesch, 1983; Pannenberg, 1983; auch Schoberth, 2006; Fischer, 2008; Wulf, 2004; Haffner, 1989; Pröpper, 2011). Überdies ist gegenwärtig eine vehemente Intensivierung anthropologischer Reflexionen festzustellen. Dieser Aufbruch scheint mit den eskalierenden Krisenerfahrungen im Kontext der Spätmoderne zu tun zu haben (Jörke, 2005, 9-20; Schmidinger/Sedmak, 2010; Gadamer/Vogler, 1972), in die die überkommene Rede vom Menschen geraten ist. Ungeachtet aller damit auch verbundenen Errungenschaften an Freiheit und Selbstbestimmung fordern die Prozesse der Pluralisierung und Virtualisierung von Erfahrungen, der Ökonomisierung der Lebenswelten, der Naturalisierung des Menschen, die entsubjektivierenden, aus geschichtlichen Traditionen herauslösenden Beschleunigungserfahrungen oder auch der Traum von einer Selbstperfektibilität des Menschen in Sozial- und Biotechnologie das überkommene Verständnis des Menschen massiv heraus (Grümme, 2012, 27-70). Immer dann, wenn die überkommene Rede vom Menschen problematisch wird, verschärft dies anthropologische Bemühungen. Anthropologie kann „als Indikator einer gesellschaftlichen Krisensituation“ interpretiert werden (Manemann, 2001, 231; Pesch, 1983, 48f.; Pesch, 2008),als Krisenreflexion (Marquard, 1971; Marquard, 1991; Pannenberg, 1983, 17; für die philosophische Anthropologie unterscheidet Christian Thies vier Zugänge: Thies, 2004, 15-30). Anthropologie als Krisenreflexion ist darum als Streit um den Menschen zu begreifen (Manemann, 2001, 231-234;242-246), in den sich unter den Bedingungen spätmoderner Ausdifferenzierung unterschiedliche Disziplinen mit ihren jeweiligen Perspektiven einbringen (als Manifestation dieses methodischen Pluralismus: Bohlken/Thies, 2009; als kurzen Überblick: Thyen, 2009, 107-125). Diesem Begriff Anthropologie eignet ein „polemischer“, ja ein emanzipatorischer, kritischer Charakter (Pesch, 1983, 48; Lüke, 2006, 22-25).
Aus religionspädagogischer Sicht ist eine solche Anthropologie als Krisenreflexion hoch relevant. Denn operiert jede Bildung und Erziehung, ob reflexiv eingestanden oder nicht, mit einem bestimmten Menschenbild, so hätte sie sich ihrer anthropologischen Hintergrundannahmen im Lichte dieser kontextuellen Provokationen zu versichern (Grümme, 2012, 111-150). Dazu ist eine Sichtung philosophischer und theologischer Anthropologie unverzichtbar, die in besonderer Weise religionspädagogisch relevant sind.
2. Philosophische Anthropologie im Ringen um den Menschen
Philosophischer Anthropologie geht es um Reflexion des Menschen im Lichte der Vernunft allein – unabhängig von übernatürlicher Offenbarung. Deren Rekonstruktion muss sich hier aus pragmatischen Gründen auf Positionen philosophischer Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentrieren (Thies, 2004; Bohlken/Thies, 2009). Diese philosophische Anthropologie ging zunächst aus von dem grundlegenden Buch Max Schelers von 1928 „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Helmuth Plessner hat parallel dazu eine ähnliche Konzeption erarbeitet und ebenfalls 1928 unter dem Titel „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ veröffentlicht. Schelers Ansatz wurde dann von Arnold Gehlen weitergeführt und 1940 unter dem Titel „Der Mensch“ publiziert (Gehlen, 1963; Gehlen, 1940; Plessner, 1980; Scheler, 1998; Wulf, 2004, 43-65; Fischer, 2008, 19-94).
Diese unterschiedlichen Ansätze kamen in dem Bestreben überein, Anthropologie zu fundieren inmitten der zu ihrer Entstehungszeit starken Tendenz, den Menschen hauptsächlich zum Gegenstand empirischer Forschungen werden zu lassen. Hatte sich die Anthropologie vorher um die Frage nach dem Menschen als Ganzem bemüht, so drohte diese Frage aufgelöst zu werden in eine unüberschaubare Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven (Honnefelder, 1993, 723; Gadamer/Vogler, 1972, XVII-XIX; Schoberth, 2006, 151-157). Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen unternehmen nun in dieser Krise der Anthropologie den Versuch einer Rettung. Sie wollen inmitten der Vielzahl der Einzelwissenschaften einen umfassenden Einheitsbegriff des Menschen erarbeiten. Zugleich aber wissen sie darum, dass keine philosophische Rede vom Menschen mehr an den empirischen Erkenntnissen vorbei gehen darf (Pannenberg, 1983, 30-51). Die allen gemeinsame Grundthese lautet: Der Mensch ist mit der Biologie von seiner Naturverhaftetheit her zu deuten, in seiner Leiblichkeit und seinem beobachtbaren Verhalten her. In dieser Hinsicht stellen die Biologie, Verhaltensforschung und Genetik wichtige Kategorien für die Anthropologie bereit. Andererseits gestehen diese Anthropologien dem Menschen eine Sonderstellung zu. Diese Sonderstellung wird bei Scheler und Gehlen als Weltoffenheit bezeichnet, bei Plessner als exzentrische Positionalität (Plessner, 1980; Fischer, 2000, 265-288). Der Mensch ist nicht nur Umwelt, nicht nur Natur. Sondern er hat seine Natur und er hat seine Umwelt, indem er durch seinen Geist bereits über die Natur auslangen und sie noch einmal thematisieren kann (Pannenberg, 1983, 32-40).
Mit unterschiedlicher Intensität ist dabei in diesen Anthropologien bereits eine Anschlussfähigkeit für eine theologische Anthropologie gegeben. So gehört bei Scheler der Umgang mit dem Göttlichen ebenso grundlegend zum Wesen des Menschen, wie sein Welt- und Selbstbewusstsein (Scheler, 1998, 81f.; Pannenberg, 1983, 62-65). Bei Plessner erwächst aus dem Charakter des Endlichen und aus dem Vollzug des Geistes die Gottesfrage (Pannenberg, 1983, 66).
Freilich ist eine solche philosophische Anthropologie unter den Bedingungen der Pluralisierung und eines „nachmetaphysischen Denkens“ (Jürgen Habermas) ungleichzeitig geworden. Zu sehr wird hier der Mensch noch als Gattungswesen oder im Banne essentialistischer Wesensphilosophie reflektiert, zu wenig wird er als kontingentes Individuum gesehen, das unlösbar in sprachlich vermittelten geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen lebt. Überdies ist der Aufweis des religiösen Charakters des Menschen partikulär, gibt es doch Anthropologien, die – wie bei Arnold Gehlen – dies dezidiert bestreiten. Gleichwohl kann hier studiert werden, was mit Anthropologie als Krisenreflexion gemeint sein kann. Anthropologie bringt demnach eine übergreifende Perspektive ein, indem sie den Menschen als jemanden begreift, der alle sektorialen Zugriffe noch einmal überwindet, der– wie etwa in besonderer Verdichtung in den berühmten vier Fragen Kants (1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?) – sich als Ganzes thematisiert und über einzelne Bereiche hinaus nach dem Grund fragt, ja der die Frage nach dem Grund ist, die innergeschichtlich nicht still gestellt werden kann (Schoberth, 2006, 27).
Mit dieser Klärung des anthropologischen Referenzbereiches kristallisiert sich Ansatz und Status einer theologischen Anthropologie heraus.
3. Gottesebenbildlichkeit als Ferment: Dimensionen theologischer Anthropologie
Theologische Anthropologie kann allgemein verstanden werden als wissenschaftliche Rede vom Menschen im Lichte des Gottesgedankens (Pröpper, 2011, 108-120). Dabei sind es die unterschiedlichen Erfahrungen des Menschen in unterschiedlichen Dimensionen seines Lebens mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit Umwelt und Geschichte und darin mit Gott, die vor allem in den biblischen Texten einen Anlauf zu einer Anthropologie ermöglichen.Ohne hier nun genauer das kritisch-prophetische Potential dieser Anthropologie in den eingangs genannten krisenhaften Erfahrungen der Gegenwart aufzeigen zu können (zum Folgenden: Grümme, 2012, 156-480), wären hier die folgenden Dimensionen zu nennen:
3.1. Dimension: Körper – Leib – Geist
Vor allem aus den Traditionen des Alten Testaments (AT) heraus ist für eine christliche Anthropologie der Mensch ein Ganzer, dessen verschiedene Aspekte sich als Aspekte des Ganzen erschließen. Anders als im griechischen Denken gibt es keine Trennung von Seele und Leib. Vielmehr dienen einzelne Organe oft als Ausgangspunkt der Betrachtung. Für das AT sind die Nieren Sitz des Gewissens (
Ps 7,10
3.2. Dimension: Endlichkeit – Geschöpflichkeit
Der Mensch ist ein endliches, ein zeitliches, ein geschichtliches und sterbliches Wesen, das seinen Sinn nicht in sich selber finden kann. Er ist von Gott geschaffen, von Gott gewollt und je individuell bei seinem Namen gerufen. Mit ihm eröffnet Gott eine Liebesgeschichte. Er lebt vom Anderen her – vom anderen Menschen und letztlich von Gott her, der ihm im anderen Menschen als seinem Bild nahe sein will.
Dies bringt die Theologie der Gottesbildlichkeit zum Ausdruck. Der Mensch ist hier zum Stellvertreter Gottes eingesetzt. Seine Aufgabe ist es, Gott in der Schöpfung zu repräsentieren, Gott zu vergegenwärtigen, in seiner Stellvertretung die Natur in Kultur zu überführen, sie zu hegen und zu pflegen, zu behüten und zu schützen. Insofern ist Gottesbildlichkeit die gottgeschenkte Vorgabe, die konkrete Gestalt gewinnen will. Der Mensch ist darauf hin angelegt, sich immer mehr dem Bild Gottes anzunähern, wie es nach christlicher Überzeugung in Jesus von Nazareth zu finden ist. Jesus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (
2Kor 4,4
3.3. Dimension: Identität
Diese Theologie der Gottesbildlichkeit verdeutlicht, dass der Mensch nicht dazu verdammt ist, seine Identität überhaupt erst mühsam selbst herstellen zu müssen. Vielmehr ist ihm diese Identität von Gott her je schon geschenkt. Dies kann ihn seine Gebrochenheit erst akzeptieren lassen. Doch will zugleich diese Zusage in Freiheit angenommen und bejaht werden, indem diese den Menschen aus seinem egoistischen Kreisen um sich selbst herausreißt und sie ihn diese empfangene Liebe an andere Menschen weiterschenken lässt (Mette, 2006, 442).
Der christliche Auferstehungsglaube verleiht dieser Hoffnung auf eine durch Gott gerettete, versöhnte und mit sich selbst erfüllte Identität Ausdruck (Rahner, 2010, 173-201).
3.4. Dimension: Sozialität
Für biblisches Denken gibt es Situationen existentieller Dichte, in denen der Mensch mit sich selber konfrontiert ist, wo er allein vor sich selber und darin vor Gott steht. Aber letztlich ist der Mensch ein gemeinschaftlich Existierender. Er lebt aus Zusammenhängen der Intersubjektivität und Sozialität. Die jesuanischen Bilder der Gottesherrschaft verraten eine tiefe Prägung durch die Vorstellung von Gemeinschaft (insgesamt Reinmuth, 2006, 150-157). Dabei bilden Gottesliebe und Menschenliebe eine Einheit. Man kann Gott nur lieben, wenn man den Menschen liebt, weil Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist (Sobrino, 2008, 505). Dies verweist auf die politische Dimension des Sozialitätsgedankens (Grümme, 2009, 50-58).
3.5. Dimension: Freiheit
Mit bestimmten Teilen der Philosophie und der Pädagogik teilt diese Dimension das Interesse an einer Freiheit, die mehr ist als die Wahl zwischen zwei Alternativen. Wahre Freiheit liegt dort vor, wo diese als Selbstvollzug, als Selbstwahl, als Selbstbestimmung verstanden wird. Das Besondere christlichen Freiheitsverständnisses liegt freilich in der Entdeckung des zuvorkommenden Befreitseins der Freiheit durch Gott in Jesus Christus (
Gal 5,1
3.6. Dimension: Versagen, Schuld, Sünde
Allerdings kann diese Freiheit scheitern. Der Mensch kann sich dem Anderen in seiner Not versagen, kann hinter die ihm im Gewissen zukommenden Herausforderungen des Denkens und Verhaltens zurückfallen und kann damit in der Radikalität seiner Freiheit schuldig und radikal böse werden. Gleichwohl sind Schuld und Sünde nicht identisch. Während Schuld ohne den Gottesgedanken auskommt, ist dieser für Sünde konstitutiv. Sünde meint also eine ethische Schuld in theologischer Perspektive (Ernst, 2009, 300). Allerdings unterscheiden sich protestantische und katholische Sündentheologie an dieser Stelle: Während nach protestantischer Auffassung die Sünde die menschliche Freiheit und Vernunft radikal schwächt, so dass der Mensch selber Sünder wird, denkt eine katholische Sicht optimistischer vom Menschen. Die Sünde hat die Gottesebenbildlichkeit nicht zerstört (Gruber, 2003, 71-75; Lievenbrück, 2014; Langemeyer, 1995). Sünde und Schuld sind dabei nie nur individuelle Größen. Gewiss kann jeder nur in seiner eigenen Freiheit schuldig werden. Gleichwohl sind gerade aufgrund der Sozialität des Menschen alle Entscheidungen durch die Entscheidungen anderer Menschen geprägt – positiv wie negativ. Die christliche Rede von Erbsünde will genau darauf hinweisen. Sie meint keine quasi biologische Vererbung von Schuld. Sie hebt hervor, dass Menschen auch dort, wo sie sich frei wähnen, letztlich durch andere mitgeprägt sind. Darum können Menschen ihre Schuld auch nicht allein beseitigen. Sie sind auf Gottes Vergebung angewiesen (zur Erbsünde: Essen, 2011, 1092-1157).
3.7. Dimension: Rationalität
Freiheit wie Schuld setzen Zurechenbarkeit und damit Vernunft voraus. Schuldig werden kann man nur, wenn man eine gewisse Einsicht in das hat, was man abgelehnt oder was man getan hat. Für christliches Denken ist der Mensch ein animal rationale. Menschliche Vernunft ist eine leiblich strukturierte Vernunft, die auf sinnlich vermittelte Erfahrung, auf Geschichte und Kultur verwiesen ist und nur im geschichtlich-kontextuellen Umgang mit dem Nächsten und der Natur zu sich selbst kommt. Der Mensch ist von Gott so angelegt, dass er verstehen kann, wenn Gott sich ihm nähert. Allerdings muss dafür Gott selbst die menschliche Vernunft tragen und aufschließen. Der Mensch ist „Hörer des Wortes“ Gottes. So lässt er sich in seiner Vernunft als gottfähig aufzeigen, als einer, „der in der Frage nach sich um sich selbst als Antwortbedürftigen weiß“ (Pröpper, 2011, 53). Daher kann der Mensch sich nicht zufriedengeben mit dem, was ist. Ihm wird eine Offenheit auf Gott zugetraut, aus der heraus sich ihm Gott schenken kann.
3.8. Dimension: Religion
Das Wunder der göttlichen Liebe besteht nun darin, dass der Mensch in der ganzen Breite und Tiefe seiner Existenz von Gott angerufen ist. Er ist ein gottbegabtes Wesen, das von Gott so geschaffen wurde, dass es Gott – wenn er sich ihm in freier Liebe schenken möchte – auch in freier antwortender Liebe annehmen kann. Christlicher Glaube geht davon aus, dass sich Gott dem Menschen schenkt – und dies an verschiedenen Orten. Gott schenkt sich ihm in seinem Herzen. Gott schenkt sich ihm in der Geschichte. Zugleich aber bleibt Gott darin derselbe, ohne sich zu verlieren. Damit wird nun die eigentliche Pointe christlicher Anthropologie deutlich: der Mensch ist nach christlichem Verständnis nur dann richtig gesehen, wenn er im Lichte der Trinitätstheologie verstanden wird (Pröpper, 2011, 65-70;187-192). Der Mensch steht im Raum einer unendlichen unbedingten Liebe, in der sich Gott selbst in der Geschichte (Sohn: Jesus Christus) und in den Herzen der Menschen (Heiliger Geist) erfahren lässt und dabei zugleich der Transzendente (Vater) bleibt. So ist der Mensch in diese dreifaltige Liebe des trinitarischen Gottes hineingenommen. Dieser Liebe entspricht der Mensch dann am ehesten, wenn er sich ganz auf sie einlässt, also – wenn er betet (Metz, 2006, 93). Im christlichen Verständnis ist der Mensch ein Beter.
4. Ansatz und Status der Anthropologie für religiöse Lernprozesse
Für die Religionspädagogik sind anthropologische Reflexionen nicht deshalb unverzichtbar, weil sie aus ihnen normative Bestimmungen und Handlungsanweisungen ableiten könnte. Ein solcher deduktiver Zug ist schon deshalb höchst fragwürdig, weil er die eigene Handlungs- und Erkenntnislogik der religionspädagogischen Praxis unterschätzt. Religionspädagogik ist nicht die Anwendungswissenschaft der Theologie. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich mit parallelen Argumentationsstrategien dazu ebenfalls in der Pädagogik wie in der Erziehungswissenschaft, die in besonderer Weise der Religionspädagogik nahe stehen, eine starke Reserve gegen anthropologische Reflexionen erhalten hat und man sich dort allenfalls zu einer schwachen Normativität der Anthropologie durchringen kann (Zirfas, 2004; Wulf/Zirfas, 2014). Für die Religionspädagogik sind anthropologische Reflexionen elementar als reflexive Klärung und Perspektivierung der eigenen empirischen, hermeneutischen wie normativen Hintergrundannahmen. Hierzu bringt sie als Verbundwissenschaft theologische Anthropologie und humanwissenschaftliche Anthropologien insbesondere mit ihren philosophischen, pädagogischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Forschungen in eine korrelative Konstellation, aus der wenigstens Perspektiven für religionspädagogische Praxis resultieren können. Auf diese Weise formiert sie sich als eine religionspädagogische Anthropologie, die sich einbringt in die gegenwärtigen Debatten um den Menschen. Sei es die Dimension der Körperlichkeit und Leiblichkeit, die nicht nur auf die ganzheitliche Dimension des Lernens verweist, sondern auch kritisch zum grassierenden Selbstperfektionierungswahn in manchen Teilen der Gegenwartskultur steht; sei es die Freiheitstheologie, die die befreienden wie herausfordernden Akzente der biblischen Botschaft markiert und religionspädagogisch wie religionsdidaktisch in einer Sprachschule der Freiheit praktisch werden lassen will und genau darin konträr zu kulturellen, gesellschaftlichen wie ökonomischen Dementierungen von Freiheit steht; sei es die Theologie der Gottesebenbildlichkeit, die in einem erheblichen Maße für pädagogische Termini wie Bildsamkeit und Bildung historisch mitbegründend wie gegenwärtig anschlussfähig ist und die im Dialog mit der Pädagogik Grundlinien einer emphatischen Bildungstheorie ermöglicht, deren kritisches Widerstandspotential gegenüber den gegenwärtigen Ökonomisierungsprozessen in Bildungsdiskurs und Bildungspolitik noch lange nicht eingeholt worden ist. In all diesen hier exemplarisch genannten Dimensionen werden die kritisch-prophetischen Impulse einer religionspädagogischen Anthropologie deutlich, die im Rahmen einer Öffentlichen Religionspädagogik anthropologische Brisanz gewinnt (Grümme, 2015).
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