Gesellschaft
(erstellt: Februar 2016)
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1. Begriff und Einführung
Der Begriff der Gesellschaft geht sprachlich auf das althochdeutsche Wort sal (heute im Wort Saal) zurück. Es kennzeichnet Menschen, die sich in einem Raum befinden (z.B. eine Hochzeitsgesellschaft) bzw., in einem weiteren Sinne, die in räumlicher Nähe wohnen. Diese Verbindung kommt auch im Wort Geselligkeit zum Ausdruck. Heute wird der Begriff auf das Zusammenleben und Zusammenwirken von größeren Gruppen von Menschen, vor allem in staatlicher Organisation, bezogen. Man spricht auch von einer Aktien-Gesellschaft, einer Reise-Gesellschaft oder etwa der Gesellschaft Jesu (Jesuiten) etc. Diese Verwendung für Zusammenschlüsse für partielle Zwecke wird hier nicht mehr weiter verfolgt. Der Gesellschaftsbegriff wird üblicherweise in Verbindung mit einem Adjektiv (antike Gesellschaft) oder als zusammengesetztes Wort (Stammes-Gesellschaften = überschaubare Gruppen von 500-2000 Mitgliedern, die häufig verwandt sind und wenig Arbeitsteilung kennen) gebraucht. Es geht immer darum, mit einem einzigen besonderen Charakteristikum im historischen Vergleich einer Gesellschaft den Wandlungsprozess zu beschreiben oder zwei oder mehr Gesellschaften stärker durch ein bestimmtes Merkmal voneinander abzugrenzen bzw. Gruppen von Gesellschaften gegen andere abzugrenzen.
Zu einer Gesellschaft gehört es, dass zwischen Gesellschaftsmitgliedern Interaktionen/Kommunikationen stattfinden. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Religion, gemeinsame Kultur, gemeinsame Traditionen können genauso wie gemeinsame Rechtsregeln oder eine gemeinsame politische Willensbildung sowie intensiver wirtschaftlicher Austausch über Märkte eine Gesellschaft konstituierten. Diese grenzt sich von anderen Gesellschaften dadurch ab, dass aufgrund fehlender gemeinsamer Sprache, fehlender gemeinsamer Rechtsregeln, keiner gemeinsamen Währung sowie einem geringen ökonomischen Austausch die Zahl der Interaktionen deutlich geringer ist. Äußeres Symbol dafür, dass man in eine andere Gesellschaft kommt, sind u.a. Grenzkontrollen, eine Visapflicht, Zollschranken, ein Währungsumtausch, die im Alltag gesprochene fremde Sprache etc. (Schimank, 2013).
Es gibt eine Vielzahl von Gesellschaftsbegriffen. Eine identische Gesellschaft kann je nach primärem Analysegegenstand/Erkenntnisinteresse, nach den normativen Einstellungen bzw. im Kontext einer umfassenden Gesellschaftstheorie ganz unterschiedlich eingeordnet bzw. bezeichnet werden. Wenn man das Kriterium
Religion heranzieht, kann man von einer religiösen, bzw. säkularisierten Gesellschaft (→ Religion
In der Tradition von Ferdinand Tönnies (1855-1936) wird die Unterscheidung getroffen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaft ist dabei durch kleine überschaubare Gruppenmit persönlicher Kommunikation/Interaktion/gemeinsamer Kultur, Religion bzw. Wertgrundlagen gekennzeichnet. In Gemeinschaften kennen sich die Menschen vielfach mit Namen. In der Moderne werden solche Gemeinschaften in ihrer Bedeutung von anonymen, zweckhaften Verbindungen verdrängt, die etwa in der Wirtschaft durch hohe Arbeitsteilung und lange Wertschöpfungsketten ablaufen und nicht durch personale Beziehungen, sondern durch abstrakte Medien (Geld, Recht) gesteuert werden. Die schwindende Bedeutung von Gemeinschaften ist ambivalent, weil zugleich der Stellenwert enger sozialer Beziehungen abnimmt. Allerdings sind diese häufig auch mit einer Sozialkontrolle verbunden, die die individuelle Freiheit einschränkt.
2. Gesellschaftstheorien
2.1. Staat und Gesellschaft
Im Verhältnis von Staat und Gesellschaft gibt es zwei grundsätzliche Ansätze. In einer absolutistischen Tradition, die auch bei Hegel (1770-1831) ihre Nachwirkungen zeigt, hat der Staat Vorrang. Erst durch staatliche Erlaubnisse und staatlich eröffnete Freiräume können sich gesellschaftliche Aktivitäten entfalten. Sie können aber jederzeit wieder eingeschränkt oder aufgehoben werden. Diesem Denken entsprechen eine staatliche Zensur für Medien sowie der Genehmigungsvorbehalt für Gründungen von Vereinen, Verbänden, Parteien, Gewerkschaften etc.
In der angelsächsischen Tradition, die sich nach Thomas Hobbes (1588-1679) herausbildete und fortentwickelt wurde (Locke, Kant etc.), waren es zunächst männliche Hausväter, später freie und gleiche Menschen, die die Gesellschaft bildeten und in der sich die Gesellschaft für bestimmte Zwecke einen Staat schafft. Dieser ist Ausfluss der Gesellschaft und hat nur den legitimen Wirkungskreis, der ihm von der Gesellschaft zugewiesen wurde. In diesem Denkansatz kommt der Gesellschaft Priorität vor dem Staat zu.
Dieses letzte Verhältnis von Staat und Gesellschaft hat eine breite sozialphilosophische Richtung zur Staatsbegründung entfaltet, nämlich die „Theorie des Gesellschaftsvertrages“ bzw. die „Vertragstheorie“ (Kersting, 1994). Grundidee verschiedener gesellschaftsvertraglicher Theorien ist ein vorvertraglicher (Natur-) Zustand ohne Gesetz oder Staat. Durch einen Konsens der Gesellschaftsmitglieder wird die staatliche Ordnung konstituiert. Dabei kann dieser Konsens empirisch, fiktiv oder implizit sein. Empirisch wäre die direkte Zustimmung zu demGesellschaftsvertrag. Dies ist nur für überschaubare Gruppen denkbar. Eine fiktive Zustimmung ist ein Gedankenexperiment, in dem gefragt wird, welchen Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens alle zugestimmt haben könnten. Fiktive gesellschaftsvertragliche Konzeptionen (Kant, Rawls) haben die Schwierigkeit, wie die Verbindlichkeit des Gesellschaftsvertrages für alle Gesellschaftsmitglieder gesichert werden kann. Eine implizite Zustimmung liegt vor, wenn Menschen durch ihr tatsächliches Verhalten (keine Protestbewegung, Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen, keine Auswanderung trotz Möglichkeit etc.) die Gesellschaftsordnung billigen. In der „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls (1921-2002) hat dieser Denkansatz des Gesellschaftsvertrages in der zweiten Hälfte des 20. Jh. erneut wieder große Resonanz gefunden.
In der Gegenwart spielt in vielen Konzepten die „Zivilgesellschaft“ (Adloff, 2005; Liedhegener, 2008) eine wesentliche Rolle. Diese wird als Voraussetzung für eine lebendige und stabile Demokratie angesehen, weil dann das politische System gesellschaftlich verankert ist. Vielfältige Formen der Selbstorganisation, der Selbsthilfe und der Selbststeuerung der Gesellschaft sind wesentlich. In der Zivilgesellschaft werden Werte tradiert und gelebt, neue Werte hervorgebracht (z.B. neue soziale Bewegungen, etwa im Umweltbereich), aber auch Konflikte über die Priorisierung von Werten ausgetragen. Da auch soziale Experimente (alternative Lebensformen, biologischer Landbau) durchgeführt werden, hat die Zivilgesellschaft für Innovationen und Weiterentwicklung der Gesellschaft große Bedeutung. Eine differenzierte Zivilgesellschaft kann gegenüber dem politischen System (Staat, Parteien) eine wichtige Kontrollfunktion ausüben. Die Zivilgesellschaft wird als subsidiäre Solidarität in der Sozialverkündigung der Kirche (Benedikt XVI., Caritas in Veritate, 2009) positiv gewürdigt.
2.2. Marxistische Gesellschaftstheorie
Ein Beispiel für eine normativ geprägte, umfassende Gesellschaftstheorie ist der Marxismus. Dieser hatte versucht, die historischen Gesellschaften als Urgemeinschaft, als Sklavenhaltergesellschaft, als Feudalgesellschaft, als kapitalistische Gesellschaft zu kennzeichnen. Letztere sollte sich durch einen revolutionären Umbruch zu einer sozialistischen Gesellschaft umgestalten und sich in eine kommunistische Gesellschaft weiterentwickeln. Für die Einordnung des Typs einer Gesellschaft haben die Produktionsverhältnisse (vor allem die Beziehungen zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und den arbeitenden Menschen) zentrale Bedeutung. Gesellschaft wird von der ökonomischen Basis her definiert. Der Staat hat als Überbau nur sekundäre Bedeutung zur Legitimation und Stabilisierung der Eigentumsverhältnisse. In dieser Konzeption soll das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Kommunismus durch das „Absterben des Staates“ gelöst werden. In einer „klassenlosen Gesellschaft“ würde kein staatlicher Repressionsapparat mehr benötigt.
Die sozialistischen Gesellschaften des Ostblocks sind daran gescheitert, dass alle Teilbereiche der Gesellschaft aus einer Zentrale (Politbüro der kommunistischen Partei) heraus gesteuert werden sollten. Dieses Gesellschaftssystem musste aber Fehlschlag erleiden, weil es institutionell nicht vorgesehen war, das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten möglichst aller Gesellschaftsmitglieder im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu mobilisieren und zu nutzen (Schimank, 2013, 61). Vielmehr wurde in einem vormundschaftlichen System die individuelle Freiheit generell eingeschränkt, vor allem aber abweichende Meinungen und Überzeugungen sanktioniert. Als ein geschlossenes System waren die sozialistischen Gesellschaften daher nicht hinreichend anpassungs- und innovationsfähig, etwa in dem Hervorbringen und der umfassenden gesellschaftlichen Nutzung neuer Technologien (z.B. dem Internet).
2.3. Ausdifferenzierte Gesellschaft (Systemtheorie)
In der gegenwärtigen Gesellschaftstheorie hat besonders das Konzept von Niklas Luhmann (1927-1998) große Resonanz gefunden. Luhmann kennzeichnet die moderne Gesellschaft als eine „ausdifferenzierte Gesellschaft“. Die Gesellschaft ist durch verschiedene Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Medien, Gesundheit etc.) unterteilt. Jedes dieser Subsysteme ist durch spezifische Kommunikationslogiken (z.B. Zahlen und Nichtzahlen im Markt) gekennzeichnet. Indem Subsysteme nach ihrer jeweiligen Eigenlogik ablaufen, haben sie die hohe Produktivität menschlicher Gesellschaften erst ermöglicht. In der Logik der Systemtheorie ist es verfehlt, in solche autonomen Subsysteme mit systemfremden Mitteln zu intervenieren. Im Subsystem Wirtschaft wären moralische Appelle solche systemfremden Einflussversuche, die bestenfalls wirkungslos bleiben, falls sie nicht sogar die Systemabläufe stören. Sinnvoll ist eine Intervention im Rahmen der ökonomischen Systemlogik nur, indem durch Subventionen (für erwünschte Aktivitäten) oder Steuern (zum Zurückdrängen unerwünschter Handlungen) die Logik des Preismechanismus zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele genutzt wird (Schimank, 2013, 41-43). Mit seinem Konzept will Luhmann keine Gesellschaftskritik betreiben, sondern über Gesellschaft aufklären. Im Gegensatz zu Luhmann verfolgen andere Gesellschaftstheorien eine bewusste normative Gestaltungsabsicht.
2.4. Verbindung von Handlungs- und Systemtheorie
Ein sich von der Systemtheorie von Luhmann abgrenzendes Konzept der Gesellschaft wird von Jürgen Habermas (geb. 1929) vertreten. Bei Habermas sollen Handlungs- und Systemtheorie miteinander kombiniert werden. Bei Habermas spielt Handeln, das sich an Normen bzw. Regeln orientiert eine zentrale Rolle. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelt Habermas seine eigene Theorie der modernen Gesellschaft. Die Eigendynamik der Systemwelten, die von Luhmann betont werden, sieht Habermas als eine Bedrohung der Lebenswelten (Kolonialisierung der Lebenswelten) an. In diesen Lebenswelten findet verständigungsorientierte Kommunikation statt, die durch das Eindringen ökonomischer oder bürokratischer Imperative gefährdet ist. Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass es dort keine allgemein akzeptierten, vor allem tradierte und religiös begründete, Normen mehr gibt, sondern diese in (herrschaftsfreien) Diskursen erst gesucht werden müssen. In der Rechtstheorie tritt Habermas für eine Trennung von Staat und Gesellschaft ein. Habermas steht in der Tradition der Gesellschaftskritik der früheren Frankfurter Schule der kritischen Theorie und schaltet sich dementsprechend in öffentliche Debatten ein.
3. Die Gesellschaft der Bundesrepublik
Die gegenwärtige Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland wird durch eine Vielzahl von Gesellschaftsbegriffen gekennzeichnet. Es handelt sich um eine moderne Gesellschaft, die nicht durch tradierte Werte geleitet wird, sondern sich durch gesellschaftliche Diskurse (z.B. Anerkennung gleichgeschlechtlicher Personen) weiterentwickelt. Der Begriff postmodern zur Kennzeichnung der Gesellschaft scheint sich hingegen weniger durchgesetzt zu haben.
In religiöser Hinsicht kann man von einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft sprechen, die zwar christlich geprägt ist, in der aber die beiden christlichen Kirchen sowohl für das Alltagsleben der Menschen wie für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens (z.B. durch die Politik) etwa im Vergleich zu den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts an Einfluss verloren haben (Großbölting, 2013). In ökonomischer Hinsicht kann man von einer Arbeitsgesellschaft sprechen, in der fast alle erwachsenen Personen an der Erwerbsarbeit teilhaben wollen und soziales Ansehen und gesellschaftliche Stellung von der Position in der Erwerbsarbeit abhängt. Die arbeitsgesellschaftliche Prägung war in der früheren DDR noch stärker ausgeprägt als in der alten Bundesrepublik, weil in letzterer die Lebensform als „Hausfrau“ noch gesellschaftlich anerkannt war. In der Gegenwart ist die Erwerbsarbeit immer weniger Industriearbeit, sondern besteht immer mehr in Dienstleistungen. Obwohl in Deutschland der Anteil der in der Industrie beschäftigten Personen noch im internationalen Vergleich am höchsten ist, kann man von einer Dienstleistungsgesellschaft statt von Industriegesellschaft sprechen. Für den Zugang zu und die Stellung in der Erwerbsarbeit spielt Bildung eine wesentliche Rolle, so dass man von einer Bildungsgerechtigkeit sprechen kann, zumal dieses System in Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten etc. immer mehr Personen beschäftigt und Menschen immer längere Lebenszeit im Bildungssystem zubringen. Der formale Bildungsabschluss hat für Berufschancen und Einkommensmöglichkeiten hohe Bedeutung. Das Bildungssystem dient dem Hervorbringen und der Vermittlung neuen Wissens. Insofern spricht man auch von einer Wissensgesellschaft. Jenseits formalisierter Bildungsprozesse wird Wissen vor allem über Medien vermittelt. Jeder Bürger bringt in der Regel mehrere Stunden am Tag mit der Mediennutzung zu. Daher wird auch von Mediengesellschaft, umfassender von einer Informationsgesellschaft gesprochen. Im politischen Raum kann man von einer demokratischen Gesellschaft (Demokratie) sprechen, die sich nicht nur auf die Willensbildung in der staatlich-politischen Sphäre bezieht, sondern auch auf öffentliche Diskussionsprozesse sowie gesellschaftliche Diskurse (Toleranz anderer Überzeugungen, friedliches Austragen gesellschaftlicher Konflikte) sowie Partizipationsmöglichkeiten der Bürger in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (Unternehmen, Universitäten, Kirchen) eröffnet. Da es in Deutschland relativ wenig offen ausgetragene gravierende Konflikte gibt und die Bestehenden z.B. auf dem Rechtsweg oder in formalisierten politischen Verfahren statt mit Gewalt ausgetragen werden, kann man eher von einer Konsensgesellschaft als von einer Konfliktgesellschaft sprechen.
Obwohl dies z. B. bereits 1975 in der Würzburger Synode angesprochen wurde, ist erst in den letzten Jahren umfassender anerkannt worden, dass es sich bei der Bundesrepublik um eine Einwanderungsgesellschaft handelt. Dass vor allem die Sprachförderung verstärkt bzw. die Sprachanforderungen bei der Einreise verschärft wurden, zeigt, dass die deutsche Sprache als wesentliches Instrument der gesellschaftlichen Integration angesehen wurde. Außerdem wird von Migranten die Anerkennung des Grundgesetzes und der deutschen Rechtsordnung verlangt. Darüber hinausgehende Ansprüche an Migranten, die eine Anpassung an eine „deutsche Leitkultur“ fordern, wurden nicht akzeptiert (Bielefeldt, 2007).
In sozialer Hinsicht kann man von einer alternden Gesellschaft, mit wachsendem Durchschnittsalter, geringer Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung sprechen. Gesellschaften zeichnen sich durch Unterschiede an Einkommen, Vermögen, sozialem Status, Lebenslagen, Einfluss etc. der Gesellschaftsmitglieder aus. Während in der Ständegesellschaft der Status in der Regel vererbt wird, hat die Bundesrepublik den Anspruch, eine Leistungsgesellschaft zu sein. Soziale und wirtschaftliche Unterschiede sollen sich durch individuelle Anstrengungen, nützliche Beiträge für die Gesellschaft etc. rechtfertigen. Die Frage nach einer hinreichenden Chancengerechtigkeit (→
Bildungsgerechtigkeit
Wenn in einer Gesellschaft breitere Schichten über Einkommen verfügen, die über materielle Grundbedürfnisse hinausgehen, wird auch von einer Konsumgesellschaft gesprochen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass viele Konsum- und Freizeitangebote um die kaufkräftigen Konsumenten konkurrieren. Das Bestreben, Freizeit und Einkommen nach individuellen Wünschen zu gestalten, wird auch als Erlebnisgesellschaft (Schulze, 1992) bezeichnet.
4. Europäische Gesellschaft oder Weltgesellschaft?
Wenn Gesellschaft von der Interaktion der Gesellschaftsmitglieder abhängt, könnte man im Zeitalter der Europäischen Integration von einer europäischen Gesellschaft sprechen. Durch die EU gibt es gemeinsame Institutionen (Europäisches Parlament, EU-Kommission etc.). Es gibt einen freien Binnenmarkt durch Freiheit des Güteraustausches, des Kapitalverkehrs, der Arbeitskräftewanderungen, der Unternehmensinvestitionen. Dieser Binnenmarkt basiert auf einer gemeinsamen Wirtschaftsgesetzgebung und für einen Teil der Länder auch einer gemeinsamen Währung. Gegen das schon Vorhandensein einer gemeinsamen europäischen Gesellschaft sprechen das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, das Fehlen einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit durch Medien, Verbände etc., unterschiedliche historische Traditionen, sowie das subjektive Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder, die sich stärker ihrem Nationalstaat als Deutsche, Polen, Franzosen etc. denn als Europäer fühlen. Z. B. durch große Austauschprogramme wie das Erasmus-System wird versucht, in der jungen Generation bewusst eine gemeinsame europäische Identität zu fördern.
Im Kontext der Globalisierung mit wachsenden Interdependenzen auf den Gebieten der Wirtschaft (Handel, Direktinvestitionen, Finanzmärkte), der Wanderungsbewegungen durch verbesserte Verkehrsverbindungen, intensive Kommunikationsnetze (durch das Internet), zunehmende transnationale Verflechtungen der Zivilgesellschaft (Nicht-Regierungs-Organisationen), kam der Begriff Weltgesellschaft auf. Diese findet ihren institutionellen Ausdruck auch in einer zunehmenden Anzahl (von Staaten gegründeter und finanzierter) internationaler Organisationen und weltweiter Konferenzen. Trotz vielfältigen globalen Interaktionen und weltweiter Bearbeitung von transnationalen und globalen Problemlagen, ist ein Weltstaat oder eine in der kirchlichen Sozialverkündigung (Pacem in terris Nr. 137) geforderte Weltautorität noch nicht zu sehen. Von einer Weltgesellschaft zu sprechen, erscheint noch zu früh.
Der Soziologe Ulrich Beck hat nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl den Begriff Risikogesellschaft geprägt, um anzudeuten, dass Risiken wie die radioaktive Verseuchung, die von Kernkraftwerken ausgeht, vor nationalen Grenzen nicht Halt machen. Auch können radioaktive Strahlen gebildete und weniger Gebildete, Arbeitende und Arbeitslose, Ärmere und Reichere treffen. Angesichts globaler Herausforderungen wie des Klimawandels wird dieser Begriff von ihm mit dem Begriff der Weltgesellschaft verbunden und zu einer Weltrisikogesellschaft verbunden.
5. Kirche und Gesellschaft
Bis 1803 übte in Deutschland die Katholische Kirche in einer Reihe von Territorien die Staatsgewalt aus. Der vom Papst regierte Kirchenstaat endete erst 1870. In Deutschland gab es im 19. Jh. ein intensives Ringen, um den Status der Katholischen Kirche und der staatlichen Ordnung. Die deutschen Staaten wollten die katholische Kirche unter eine staatliche Lenkung bringen. In diesen Konflikten entstand im katholischen Raum eine breite Bewegung von Vereinen und Verbänden, sodass es zu einer breiten gesellschaftlichen Verankerung der Kirche kam.
Nach der Reformation war im deutschen Kontext das Kirchenregiment an die protestantischen Fürsten gegangen, die die Kirchenleitung als Teil des Staatsapparates betrachteten. Erst mit der Weimarer Reichsverfassung1919 wurde eine Trennung von protestantischer Kirche (abgesehen von einigen kleineren Freikirchen) und Staat in Deutschland durchgeführt. Bis in die Gegenwart ist der gesellschaftliche Status der beiden großen Kirchen in Deutschland ambivalent, da sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts als staatsnahe Organisationen angesehen werden können. Andererseits stehen sich Staat und Kirche nicht als gleichberechtigte Partner gegenüber, da die Kirchen der staatlichen Rechtsordnung untergeordnet sind.
In anderen Gesellschaften (USA) werden Kirchen und Religionsgemeinschaften als Teil der Zivilgesellschaft betrachtet. Auch in Deutschland gibt es – trotz vielfältiger Formen der Kooperation der Kirchen mit dem Staat – breite kirchliche Aktivitäten (Wohlfahrtsverbände, kirchliche Hilfswerke, kirchliche Verbände), die als zivilgesellschaftlich angesehen werden können.
In politischen und gesellschaftlichen Fragen sind die beiden großen Kirchen in Deutschland darauf angewiesen, dass sie sich – wie andere Akteure der Zivilgesellschaft – an öffentlichen Diskursen der gesellschaftlichen Willensbildung beteiligen und für ihre Positionen argumentativ und durch eigenes vorbildliches Handeln werben. Dabei können sie innerhalb der Gesellschaft keinen Sonderstatus beanspruchen. Autoritäre Redeweisen werden in der Gegenwart ignoriert oder als Anmaßung zurückgewiesen.
6. Religionspädagogik und Gesellschaft
Diejenigen, die Religionsunterricht in Schulen erteilen bzw. konzipieren, müssen sich immer wieder neu über den gesellschaftlichen Ort vergewissern, in denen ihr Handeln stattfindet. Welches Gesellschaftsbild bzw. welche Gesellschaftstheorie liegt ihrem eigenen Denken mehr oder weniger reflektiert zugrunde? Welches Gesellschaftsverständnis ist die Hintergrundfolie mancher kirchlicher Dokumente (z.B. kulturpessimistische Sicht auf die moderne Gesellschaft)? Konkrete gesellschaftliche Veränderungen wirken sich, etwa wie wachsender religiöser und weltanschaulicher Pluralismus ebenso auf Inhalte und Methoden aus wie die vielfältigen Informationsmedien.
In ethischen Lernprozessen ist deutlich zu machen, dass es Ethik des Einzelnen sowie kleiner Gruppen (Face-to-Face-Beziehungen) gibt und Fragen der Gesellschaftsethik, die als Ethik sozialer Institutionen und Strukturen andere Herausforderungen zeigt. Dabei sind Kurzschlüsse zu vermeiden, die etwa darin bestehen, dass der Friede im eigenen sozialen Umfeld etwas mit Frieden zwischen Staaten zu tun hat und ein friedliches Verhalten im eigenen Bereich auch den Frieden zwischen Staaten fördern kann. Hier sind die unterschiedlichen Ebenen auseinanderzuhalten und die komplexe gesellschaftliche Ebene darf nicht vorschnell simplifiziert werden (Wiemeyer, 2015).
Schülern sollte ein Gesellschaftsverständnis vermittelt werden, dass komplexe soziale Systeme voraussetzt. Diese sind zwar häufig nicht einfach durch moralische Appelle beeinflussbar, aber grundsätzlich durch kollektives Handeln gestaltbar. Die Befähigung zur Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse wie zum eigenen gesellschaftlichen Engagement ist dabei anzustreben.
Literaturverzeichnis
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- Beck, Ulrich, Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a. M. 2008.
- Bielefeld, Heiner, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007.
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- Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992.
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- Schäfers, Bernhard, Art. Gesellschaft, in: Evangelisches Soziallexikon (2001), 581-588.
- Schimank, Uwe, Gesellschaft, Bielefeld 2013.
- Schulze, Gerhard, Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1992.
- Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 2010.
- Wiemeyer, Joachim, Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Christliche Sozialethik angesichts globaler Herausforderungen, Freiburg i. Br. 2015.
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