Biografisches Lernen
(erstellt: Februar 2017)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100230/
Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Biografisches_Lernen.100230
1. Zum Begriff
Biografisches Lernen will → Schülerinnen und Schüler
2. Zur Geschichte der Konzeption
Gerade in der Katholischen Kirche hat die Verehrung der → Heiligen
3. Zum religionspädagogischen Diskurs
Im Diskurs ist der Begriff des Vorbilds immer bedeutsam gewesen, unabhängig von den Labels und Oberbegriffen. So haben Günter Biemer und Albert Biesinger mit ihrer 1983 herausgegebenen Publikation „Christ werden braucht Vorbilder“ über Jahrzehnte die Idee und die Konzeption des katholischen Religionsunterrichts bis in die Lehrpläne hinein geprägt. Analoges gilt auf evangelischer Seite für Peter Biehl, der 1987 die Bedeutsamkeit des Verhältnisses von → Biografie
Da sich religiöses Lernen faktisch immer durch Imitation und Identifikation vollzieht (Biehl, 1987, 292), ist das Lernen an Vorbildern für den schulischen Religionsunterricht unerlässlich. In Vorbildern christlicher Lebensgestaltung kann gelebte Religion zum Ausdruck gebracht und den Schülerinnen und Schülern verständlich gemacht werden. Charakteristisch für den christlichen → Glauben
Hans Mendl, der mit seinen Arbeiten das biografische Lernen in den letzten beiden Jahrzehnten nachdrücklich geprägt hat, stellt sechs Begründungsmuster für die Renaissance des biografischen Lernens heraus (2015a): Nach → philosophischer
Konstantin Lindner benennt drei Gründe für ein starkes Interesse an Biografien: Er hebt die Faszination des Hineingenommenwerdens in die Gedankenwelt und Entscheidungsprozesse eines fremden Individuums über biografische Zugänge hervor, die alternative Optionen zur Erschließung und Bewertung eines Sachverhalts eröffnen. Zudem sieht er „eine Art Alltagsvoyeurismus“ (Linder, 2011, 62), also das Interesse an Lebens- und Verhaltensweisen berühmter Personen des Fernbereichs abseits der Öffentlichkeit, als Ursache des Interesses an Biografien. Ferner sei jede Person aufgrund der in der Gegenwart vorherrschenden Pluralität, in der eindeutige Vorgaben schwinden, zur Gestaltung seines individuellen Lebenskonzepts herausgefordert. Aufgrund des Überangebots an Möglichkeiten sei die Sehnsucht nach Orientierungspunkten, die Heranwachsende bei der Selbstwerdung unterstützen können, in hohem Maße bemerkbar (Linder, 2011, 62) als grundlegende Intentionen des biografischen Lernens.
Lindner hebt schließlich gemeinsam mit Eva-Maria Stögbauer die Positionierung der Schülerinnen und Schüler zu den unterrichtlich thematisierten Inhalten als grundlegende Intentionen des biografischen Lernens hervor. Im Rahmen einer biografischen Verortung können die Heranwachsenden einzelnen Aspekten individuell Bedeutung zuschreiben, die für ihre Religion, ihren Glauben, Relevanz besitzen. Hierbei steht eine kritische Auseinandersetzung im Vordergrund, das heißt eben auch eine Reibung mit und Abgrenzung von bestimmten Unterrichtsinhalten. Ferner soll den Kindern durch biografisches Lernen die Möglichkeit eröffnet werden, sich als Lernende zu erleben, die Wirklichkeit schaffen und interpretieren und den Inhalten eine individuelle Bedeutung zuschreiben, wodurch eine Übertragbarkeit auf die eigene Biografie erleichtert wird. Bedeutungszuschreibungen anderer Personen aus Geschichte und Gegenwart werden als Differenzerfahrungen mit hohem Bildungswert wahrgenommen, die den Schülerinnen und Schülern beim Überdenken und gegebenenfalls Modifizieren der eigenen Perspektive helfen sowie neue Möglichkeitsräume im Sinne von Handlungsoptionen eröffnen können. Biografisches Lernen ist ein unabschließbarer Prozess, da sich Lebenskontexte verändern und Biografien sich stetig wandeln. Obwohl biografische Lernprozesse sich oftmals unbewusst ereignen, sollte im Religionsunterricht zum ausdrücklichen biografischen Lernen ermutigt werden, wodurch Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster ins Bewusstsein gelangen und so bewusste Wahlentscheidungen möglich werden. Biografisches Lernen stellt immer einen vorläufigen Interpretationsakt dar, da Biografie vom gegenwärtigen Standpunkt aus jeweils neu konstruiert wird. Aufgrund abweichender persönlicher Bedeutungszuschreibungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten – beispielsweise aufgrund neu gewonnener Erfahrungen oder Veränderungen der soziokulturellen Rahmenbedingungen – kann das biografische Lernen auch immer Wandlungen aufweisen. Diese biografischen Veränderungen sollten im Religionsunterricht verdeutlicht werden (Linder, 2011, 62).
4. Zur gegenwärtigen Praxis
Biografisches Lernen erfreut sich vor allem in den letzten Jahren wieder einer großen Beliebtheit, was sich auch an verschiedenen Themenheften in den einschlägigen religionspädagogischen Periodika zeigt (Religionsunterricht an höheren Schulen 2002; Katechetische Blätter 2006; Loccumer Pelikan 2011; Religion 2014). Bei der Durchsicht der verschiedenen Beiträge lassen sich drei didaktische Bereiche ausmachen, in denen das Lernen an Biografien einen wichtigen Zugang darstellt:
- die Bibeldidaktik (→ Bibeldidaktik, Grundfragen
) : Gerade die Bibel bietet eine Vielzahl von Personen, die biografische Lernprozesse anregen können. In den biblischen Narrationen wird von Triumph und Ruhm, vielfach aber auch von Verfehlungen und Irrungen sowie von Rückschlägen und Neuanfängen der Protagonisten berichtet. Kindern und Jugendlichen soll hier die Möglichkeit zur temporären und probeweisen Identifikation mit den biblischen Personen gegeben und ein Reflexionsraum für die in dieser Rolle gewonnenen Erfahrungen geschaffen werden. Dabei ist es wichtig, den Lernenden Zeit zum gestaltenden und handelnden Umgang mit den in biblischen Narrationen vorgestellten Biografien zur Verfügung zu stellen (z.B. Husmann, 2011; Merkel, 2011). - die Kirchengeschichtsdidaktik: Konstantin Lindner, der sich in den letzten Jahren in besonderer Weise um das biografische Lernen in der → Kirchengeschichtsdidaktik
verdient gemacht hat, zeigt auf, dass die „biographische Historiographie […] als eine der zentralen Darstellungsformen der Kirchengeschichtsschreibung bezeichnet werden“ (Lindner, 2007, 69) muss. In Vorbildern christlicher Lebensgestaltung kann deshalb gelebte Religion zum Ausdruck gebracht und den Schülerinnen und Schülern verständlich gemacht werden. Solche Modelle gelebten christlichen Glaubens können Heranwachsende bei ihrer Suche nach Lebenssinn und individueller Identität unterstützen und ihnen Orientierung geben, was insbesondere angesichts der Komplexität und Pluralität möglicher Lebensentwürfe in der heutigen (post)modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. - die Didaktik des ethischen Lernens (→ Ethische Bildung
): Im Kontext des ethischen Lernens steht schließlich die Fragestellung im Fokus, was Vorbilder hinsichtlich des → Wertebewusstseins und der Lebensorientierung Jugendlicher in der heutigen Zeit, die von einer großen Pluralität von Werten und Normen geprägt ist, beitragen können. Junge Menschen, insbesondere Kinder im Grundschulalter, beschäftigen sich auf ihre eigene Art mit Werten, Normen und moralischem Verhalten. Gerade das ethische Lernen im Primarbereich muss zur Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen anregen, die sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch von der → Gesellschaft und der Kirche vertreten werden. Ziel des ethischen Lernens ist die Befähigung zum Führen praktischer Wertdiskurse sowie die Entwicklung einer moralischen Kompetenz, die sich darin äußert, dass Kinder ein eigenes Urteilsvermögen entwickelt haben und fähig zu verantworteten Entscheidungen sind, die sie im Kontext der christlichen Ethik begründen können sollten. Dabei können Lebensgeschichten von Menschen, die in ihrem Leben Christus nachgefolgt sind und das Evangelium gelebt haben, zu kritischer Diskussion und Auseinandersetzung mit dem Ziel moralischer Entwicklung beitragen (Sajak, 2013, 97-122).
Literaturverzeichnis
- Bandura, Albert, Sozial-kognitive Lerntheorie, Stuttgart 1991.
- Biehl, Peter, Der biographische Ansatz in der Religionspädagogik, in: Grözinger, Albrecht/Luther, Henning (Hg.), Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion [Festgabe für Gert Otto zum 60. Geburtstag], München 1987, 272-296.
- Biemer, Günter/Biesinger, Albert (Hg.), Christ werden braucht Vorbilder. Beiträge zur Neubegründung der Leitbildthematik in der religiösen Erziehung und Bildung, Mainz 1983.
- Bizer, Christoph/Englert, Rudolf/Kohler-Spiegel, Helga (Hg. u.a.), Sehnsucht nach Orientierung. Vorbilder im Religionsunterricht, Jahrbuch der Religionspädagogik 24, Neukirchen-Vluyn 2008.
- Buber, Martin, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954.
- Herbers, Klaus, Die deutschen heiligen im Mittelalter, in: Pernoud, Régine, Die Heiligen im Mittelalter. Frauen und Männer, die ein Jahrtausend prägten, Bergisch Gladbach 1988, 298-384.
- Husmann, Bärbel, Wen interessiert die Person? Eine Einführung in biografisches Lernen, in: Loccumer Pelikan (2011) 2, 58-61.
- Lindner, Konstantin, Biografisches Lernen – Kleine Leute und große Gestalten, in: Hilger, Georg/Ritter, Werner H./Lindner, Konstantin/Simojoki, Henrik/Stögbauer, Eva, Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, München u.a. 2014, 281-292.
- Lindner, Konstantin, "Aufgabe Biografie" – eine religionsdidaktische Herausforderung?!, in: Loccumer Pelikan (2011) 2, 62-67.
- Lindner, Konstantin, Vorbild ungleich Vorbild – Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zum Vorbildverständnis bei Jugendlichen, in: Religionspädagogische Beiträge 63 (2009) 1, 75-90.
- Lindner, Konstantin, In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht, Arbeiten zur Religionspädagogik 31, Göttingen 2007.
- Lindner, Konstantin/Stögbauer, Eva, Was hat das mit mir zu tun? – Biographisches Lernen, in: Bahr, Matthias/Kropac, Ulrich/Schambeck, Mirjam (Hg.), Subjektwerdung und religiöses Lernen. Für eine Religionspädagogik, die den Menschen ernst nimmt. Georg Hilger zum 65. Geburtstag, München 2005, 135-145.
- Luther, Henning, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160-182.
- Mendl, Hans, Heldendämmerung. Peinliche Überbautypen oder Heilige der Unscheinbarkeit als Vorbilder in der religiösen und ethischen Erziehung?, in: Fonk, Peter/Schlemmer, Karl/Schwienhorst-Schönberger, Ludger (Hg.), Zum Aufbruch ermutigt. Kirche und Theologie in einer sich wandelnden Zeit. Für Franz Xaver Eder, Freiburg i. Br. u.a. 2000, 374-403.
- Mendl, Hans, Wer bin ich und durch wen werde ich? Biografisches Lernen im Religionsunterricht, in: Grundschule Religion 50 (2015a) 4, 4-8.
- Mendl, Hans, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Religionspädagogik innovativ 8, Stuttgart 2015b.
- Mendl, Hans, Orientierung an fremden Biografien, in: Loccumer Pelikan 2 (2011), 53-57.
- Mendl, Hans, Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien. Religionspädagogische Anregungen für die Unterrichtspraxis, Donauwörth 2005.
- Merkel, Rainer, Begegnungslernen mit Lebensbildern. Ein neues didaktisches Modell am Beispiel „Paulus“, in: Loccumer Pelikan (2011) 2, 77-83.
- Pernoud, Régine, Die Heiligen im Mittelalter. Frauen und Männer, die ein Jahrtausend prägten, Bergisch Gladbach 1988.
- Sajak, Clauß P., Religion unterrichten. Voraussetzungen, Prinzipien, Kompetenzen, Seelze 2013.
- Stachel, Günter, Lernen durch Vorbilder oder Modell-Lernen (Beobachtungslernen; Imitationslernen), in: Stachel, Günter/Mieth, Dietmar (Hg.), Ethisch handeln lernen. Zu Konzeption und Inhalt ethischer Erziehung, Zürich 1978, 86-106.
- Themenheft „Lernen an Biografien“, in: Loccumer Pelikan (2011) 2.
- Themenheft „Lernen an gebrochenen Biografien“, in: Religion. Unterrichtsmaterialien Sek. I (2014) 3.
- Themenheft Vorbilder, in: Katechetische Blätter 131 (2006) 1, 1-78.
- Themenheft Vorbild-Lernen in der Diskussion, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002) 5, 267-338.
- Ziebertz, Hans-Georg, Biografisches Lernen, in: Hilger, Georg/Leimgruber, Stephan/Ziebertz, Hans-Georg (Hg.), Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 6. Aufl. 2010, 374-386.
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download: