Transzendenz (und Immanenz)
(erstellt: Februar 2017)
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1. Begriffliche Annäherung
Hinter dem Wortpaar steckt die lateinische Version der deutschen Präpositionen diesseits und jenseits. Sie markieren in ihrer Hauptbedeutung Orte im Raum, z.B. in Bezug auf Berge oder Flüsse (lat. cis und trans). In ihrer substantivierten Form ist ein metaphorischer Gebrauch vorherrschend. Hier geht es um Bestimmungen im Hinblick auf den Tod. Die Rede vom Jenseits ermöglicht Aussagen über eine an sich unverfügbare Welt. Diese ist gleichwohl mit inhaltlichen Vorstellungen unterschiedlicher Art gefüllt. Die bildhafte Seite ist orientiert an der Vorstellung der griechisch-römischen Antike, nach der die Verstorbenen einen Unterweltfluss (styx) überqueren und dann in die Totenwelt (hades) Eingang finden. Christlicherseits ist die Jenseitswelt charakterisiert durch die verschiedenen postmortalen Erwartungen (Moltmann, 1999). Zielpunkt der Glaubenden ist in jedem Fall der → Himmel
2. Philosophische Aspekte des Transzendenzbegriffs
Für die mittelalterliche Philosophie hatten Aussagen über das Jenseits im Prinzip denselben Status wie solche über die Gegenstände des diesseitigen Alltags – beide gehörten zur letztlich göttlichen Seinswelt. Doch mit der beginnenden Neuzeit veränderte sich die Wahrnehmung des Raumes. Das zunehmende Wissen über die Realwelt führt zum Verständnis eines kohärenten Raumes. Die religiösen Deutungen der Welt – im Rahmen eher zunehmender Intensität der Frömmigkeit – können der Transzendenz keinen äquivalenten Raum mehr bieten und stärken so mehr subjektbezogene Konzeptionen (Taylor, 2009, 246-250). Transzendenz wird damit – zumindest auf der Ebene der Raumvorstellungen – ein Moment der Immanenz. Systemtheoretisch wird man sagen, dass als Negation der Immanenz ein erst einmal nicht verfügbarer Möglichkeitsraum gedacht werden kann. Dieser Raum der Transzendenz manifestiert sich zunächst als eine Unterscheidung innerhalb der Immanenz. Komplementär dazu kann man dann im Idealismus ein Re-entry der ausgeschlossenen Immanenz in die Transzendenz sehen; die Erscheinung ist die immanente Realisation der transzendenten Idee. Die Immanenz enthält also in sich die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz – die Transzendenz ist damit erst einmal ein Element der Immanenz und umgekehrt.
Dieser theoretischen Operation entsprechen dann auf der Ebene der soziologischen Beobachtung wichtige und zugleich religionspädagogisch relevante Beobachtungen. So sieht etwa Peter Berger (1981) in unserem Alltag Verweiselemente auf die Transzendenz. Thomas Luckmann unterscheidet ausdrücklich kleine, mittlere und große Transzendenzen (Luckmann, 1991, 168f.), sodass der Einbruch der Transzendenz gewissermaßen graduell unterschieden wird von Außergewöhnlichkeiten bis hin zu mehr oder weniger intensiven religiösen Erfahrungen.
3. Immanenz/Transzendenz im systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns
Gedanken des letzten Abschnitts gehen auch ein in einen Theorieentwurf, der die Frage von Immanenz und Transzendenz im Rahmen einer Theorie der Gesellschaft aufnimmt. Systemtheorie im Sinne Niklas Luhmanns, die ich im Folgenden skizzieren werde, ist zunächst einmal eine Beobachtungstheorie. Sie beansprucht, Dinge und Geschehnisse in einer Weise zu perspektivieren, dass neue Einsichten gewonnen werden können. Das heißt, es geht hier erst einmal nicht um Bewerten und Handeln, sondern um die Herstellung zusätzlicher Transparenz. Die „soziologische Aufklärung“ (Luhmann) will vor allem auf Aspekte aufmerksam machen, die jenseits der Intentionen der Handelnden liegen. Der bestimmende Gegenstand der Beobachtung ist die Kommunikation. Die Teilnehmer an dieser erscheinen nur als deren Umwelt. Bezogen etwa auf einen Gottesdienst heißt das: In den Blick geraten nur die stattfindenden Interaktionen wie Lieder, Gebete, Lesungen, Predigt, Gesten und Handlungen des Pfarrers und der einzelnen Gemeindeglieder, etwa bei der Eucharistie, aber auch informelle Akte der Zu- oder Abwendung, der persönlichen Gespräche etc. Es dürfte einsichtig sein, dass eine solche Sichtweise andere Beobachtungen ermöglicht als eine, die sich von den Absichten der Handelnden oder der Gottesdienstagenda leiten lässt.
Luhmann unterscheidet in der modernen differenzierten Gesellschaft Teilsysteme mit je eigenen Funktionen. Hervorzuheben sind die Systeme der Wirtschaft, der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Erziehung und schließlich der Religion, denen Niklas Luhmann je eigene Monografien gewidmet hat. Einzelne Menschen nehmen an diesen Systemen immer nur punktuell als Rollenträger Anteil. Konkretisiert an einem Beispiel: Als Käufer einer Brezel nehme ich am Wirtschaftssystem Anteil, auch wenn dieser Akt im kirchlichen Gemeindehaus während eines Gemeindefestes stattfindet, in welchem ansonsten etwa nach den Regeln des Religionssystems kommuniziert wird. Nach Luhmann hat jedes dieser Funktionssysteme ein eigenes Medium und ist bestimmt durch eine Leitunterscheidung. Dies ist leicht nachvollziehbar für das Wirtschaftssystem mit dem Medium Geld und der Leitunterscheidung Zahlung erfolgt/Zahlung nicht erfolgt. In diesem System wird alles dieser Sichtweise zugeordnet: Auch ein Gesangbuch wird reduziert auf seinen möglichen Kauf- bzw. Verkaufspreis.
Nach diesem Grundmuster sieht Luhmann auch das Religionssystem. Das Medium dieses Systems – seine Währung bzw. Sprache – ist der Glaube. Seine Leitunterscheidung ist die von Immanenz und Transzendenz. Der positive Pol ist die Immanenz, denn die Kommunikation hat letztlich nur darauf Zugriff. Transzendenz ist demnach zunächst einmal Nicht-Immanenz. Sie ist charakterisiert als das erst einmal Ausgeschlossene, das Feld des Möglichen. Die ausgeschlossene Transzendenz wird erreichbar, indem die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz in die Immanenz einbezogen wird. In der Immanenz gibt es damit Orte, Dinge, Handlungen, die doppelt konnotiert sind. Von ihrer materiellen Seite werden sie der Immanenz zugeschrieben: als Brot und Wein, als Ansammlung von Steinen, als Objekt aus Papier und Druckerschwärze. Im Lichte der Transzendenz verdoppelt sich deren Existenz. Sie werden jetzt wahrgenommen als Manifestationen der (im Prinzip nicht greifbaren) Transzendenz: als eucharistische Elemente, als heilige Räume oder Bücher. Die Kunst besteht nun darin, immer wieder neu die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz zu bestimmen. In einer konkreten Kommunikationsgemeinschaft, z.B. einer christlichen Konfession, sind die Unterscheidungen in der Regel durch Tradition und Konvention geregelt. So ist z.B. unterschiedlich geregelt, ob und wann das im Abendmahl verwendete Brot als heilig gilt; hier bestehen deutliche Differenzen zwischen evangelischen und katholischen Christen. Dabei wird man in Rechnung stellen müssen, dass die Differenzziehungen – etwa ausgedrückt in der Frage, was als heilig anzusehen ist – auch unter den Vertreterinnen und Vertretern einer bestimmten Konfession durchaus fließend sind.
Betrachtet man die Frage der Differenzziehung in religiöser Perspektive, dann verkompliziert sie sich, weil dann strittig ist, wieweit die Zuordnungen einer bestimmten Konfession oder Religion von einer anderen geteilt werden können, bzw. ob das Transzendente der einen Sichtweise gerade zum Immanenten in der anderen wird. Begrifflich drückt sich dies etwa in der Frage aus, ob die Manifestation der Transzendenz einer bestimmen Religion in der anderen als eine Variante des Göttlichen angesehen wird oder als Götze. Im letzteren Falle wird angenommen, dass das Prädikat der Transzendenz gerade zu Unrecht beansprucht wird.
4. Religion im Erziehungssystem
Von der Begrifflichkeit lassen sich die Funktionssysteme der Gesellschaft deutlich unterscheiden. Im Hinblick auf konkrete Kommunikationsprozesse ist die Zuschreibung dagegen schwieriger. Besucht etwa ein Vater mit seinem Sohn einen Gottesdienst und die beiden unterhalten sich auf dem Heimweg über Einzelheiten bezüglich Form und Inhalt, sind wir geneigt, diese Szene der Kommunikation des Religionssystems zuzuordnen. Es werden Manifestationen des Glaubens ausgetauscht und besprochen. Doch für den Fall, dass der Vater eher kompetent in dieser Thematik ist als der jüngere Sohn, lässt sich die Kommunikation auch als eine Variante von Erziehung verstehen. Dann ließe sich diese Szene auch als ein Geschehen innerhalb des Erziehungssystems perspektivieren. Die Bestimmung von Medium und Leitdifferenz im Erziehungssystem ist in der Wissenschaft nicht eindeutig geklärt. Ich folge hier der ursprünglichen Bestimmung durch Luhmann mit einer von Veit-Jakobus Dieterich und mir vorgenommenen Modifikation. Für Luhmann ist das Kind bzw. der oder die zu Erziehende das Medium. Luhmann meinte ursprünglich, die eigentliche Leitdifferenz ließe sich nur im Hinblick auf die Selektionsleistung des Erziehungssystems bestimmen, im Sinne einer sich in Noten ausdrückenden Leistungsdifferenzierung. Eine solche Sichtweise ist fixiert auf die Zentralinstanz des Erziehungssystems: die Schule mit ihren Jahrgangsklassen. Bezieht man aber den Gedanken der Erziehung auf das Gesamtmenschliche der Kinder- und Jugendzeit (und noch darüber hinaus), dann wird eine andere Leitdifferenz plausibel: schlechter erzogen/besser erzogen. Die Differenz manifestiert sich dann nicht vordergründig im Vergleich der altershomogenen Lerngruppe, sondern im Hinblick auf das einzelne Kind bzw. die einzelnen Jugendlichen im Hinblick auf die Zeitdimension. Macht man das am oben skizzierten Gespräch zwischen Vater und Sohn fest, dann hat hier in dem Maße Erziehung stattgefunden, in dem der Sohn im Hinblick auf den Lerninhalt Religion danach „besser erzogen“ ist.
Bereits dieses Beispiel macht deutlich, dass das Erziehungssystem die Inhalte dessen, was gelernt werden soll, nur bedingt selber bestimmen kann. Betrachtet man etwa die organisierte Form des Erziehungssystems, die Schule, dann wird deutlich, dass das System auf vielerlei Weise von anderen Systemen her irritiert wird. Die Wirtschaft fordert bestimmte Qualifikationen, ebenfalls das politische System und das Wissenschaftssystem. Diese Irritationen müssen nun umgesetzt werden in die Eigensprache des Erziehungssystems. Dies geschieht in Form von Programmen. So kann etwa aus den Irritationen des Wissenschaftssystems das Programm abgeleitet werden, dass Schülerinnen und Schüler bestimmte Gleichungen lösen können sollen, um „besser erzogen“ zu sein. So lassen sich die Niveaukonkretisierungen im Hinblick auf zu erzielende Kompetenzen als Gradmesser dafür ansehen, wo eine Schülerin/ein Schüler zwischen „schlechter und besser erzogen“ steht.
5. Die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz als Programm des Religionsunterrichts
Der Religionsunterricht als Teil des organisierten Bildungssystems muss sein Programm in Gestalt von Lehrplänen ebenfalls aus anderen Funktionssystemen übernehmen. Gemäß der bisherigen Argumentation würde das bedeuten, dass die Lernfortschritte im Fach Religion danach bemessen werden, inwieweit die Schülerinnen und Schüler sich innerhalb eines Feldes orientieren können, das entlang der Differenz Immanenz/Transzendent aufgespannt ist. Konkret bedeutet das, die Phänomene dieser Welt im Lichte Gottes zu beobachten. Schon Johan Amos Comenius (2000, 161) schreibt in seiner „Großen Didaktik“: Die Schülerinnen und Schüler „sollen sich also daran gewöhnen, alles, was sie hier sehen, hören, berühren, tun und leiden, unmittelbar oder mittelbar auf Gott zu beziehen.“ Im Kontext der Kompetenzdiskussion haben Büttner/Dieterich/Roose die Orientierungsfähigkeit innerhalb dieser Leitdifferenz als zentrale Kompetenz des Religionsunterrichts formuliert: „Die abstrakte Definition der religiösen Beobachtung der Welt anhand der Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz wird dadurch präzisiert, dass diese Beobachtung nicht singulär stattfindet, sondern Teil einer Tradition ist, die dafür ein ausgeklügeltes Repertoire an Wissen und Kommunikationsregeln zur Verfügung stellt“ (Büttner/Dieterich/Roose, 2015, 49). Damit ist gleichzeitig eine bestimmte Semantik angesprochen, in die der Unterricht sozialisiert und die durch Inanspruchnahme ihrerseits habitualisiert wird. Die Fokussierung dieser Leitdifferenz erhält ihren Sinn angesichts der Tatsache, dass in der religionspädagogischen Diskussion mit konkurrierenden Programmorientierungen und damit Leitdifferenzen operiert wurde und wird. Der problemorientierte Religionsunterricht orientiert sich am Moralsystem mit der Unterscheidung moralisch erwünscht/unerwünscht. Die Idee des therapeutischen Religionsunterrichts orientiert sich am Gesundheitssystem mit der Unterscheidung krank/gesund. Der performative Religionsunterricht mit seiner Orientierung am Kunstsystem gerät höchstens dadurch in Schwierigkeit, dass nach der Ablehnung der Leitunterscheidung schön/hässlich nicht so ganz klar ist, welches die eigentliche Leitunterscheidung sein soll. Wir müssen uns bei diesen Überlegungen aber immer klar machen, dass man der einzelnen Religionsstunde, oder Szene daraus, nicht direkt ansieht, ob und wie sie konzeptionell zugeordnet werden kann. Das Programm eines Unterrichts wirkt oft eher implizit und wird erst durch Zuschreibung explizit. So werden die angesprochenen Unterscheidungen eher auf der Ebene der didaktischen Diskussion manifest und können hier auch zur Präzisierung bzw. zur Selbstbeschreibung beitragen.
Andererseits hat Herbert Kumpf gezeigt, dass eine Leitunterscheidung Immanenz/Transzendenz auch im Hinblick auf die Steuerung konkreten Unterrichts von Bedeutung sein kann (Kumpf, 2015). Gerade wenn ich mir klar mache, dass sich der Religionsunterricht im Prinzip mit jedem Thema beschäftigen kann (und vielleicht auch muss), dann wird auch einsichtig, dass der Unterricht Gefahr läuft, sich in ästhetischen, politischen oder moralischen Diskursen zu verlieren. Die Referenz auf die Leitunterscheidung Immanenz/Transzendenz kann dann als Korrektiv dienen und im Sinne von Comenius eine explizit religiöse Perspektivierung der jeweiligen Fragestellung anmahnen.
6. Transzendenz als Gegenstand des Unterrichts
Transzendenz ist erst einmal kein explizites Unterrichtsthema. Dennoch ist die Fragestellung von zentraler Bedeutung. In der Grundschule erscheint sie in der zu Beginn angesprochenen lebensweltlichen Bedeutung. Gott „wohnt im Himmel“ als einem durchaus konkret vorgestellten Raum. Die Jenseitigkeit wird „oben“ lokalisiert, nicht nur als Residenz Gottes, sondern auch als Zufluchtsort der Verstorbenen. Ergänzt wird dieses Bild durch den „unten“ angesiedelten Negativort Hölle, als Verbannungsort für die „Bösen“. In diese Jenseitsgeografie lassen sich dann auch Themen wie etwa die Rede vom Reich Gottes einzeichnen (Alkier/Karweick, 2003). Diese Optik teilen christliche und nichtchristliche Kinder (Hoffmann, 2009; Naurath, 2008). Die Kinderbuchliteratur versucht zwar, dieser sehr konkreten Vorstellungswelt eher metaphorische Bilder entgegen zu stellen, aber aus gutem Grund wohl eher mit geringem Erfolg (Büttner, 2005).
Zwar bewegen sich die Themenformulierungen ab der Sekundarstufe I eher im Feld der oben skizzierten abstrakten Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, doch ist zu fragen, ob das Denken in Räumen dabei wirklich überwunden wird. Kognitionspsychologische Studien gehen davon aus, dass Kinder wie Erwachsene immer zwei Gottesvorstellungen aktualisieren können – eine konkrete und eine abstrakte (Biewald, 2008; Bucher, 2009). Auch im Hinblick auf postmortale Erwartungen zeigt es sich, dass auch Erwachsene tendenziell metaphorische und konkrete Vorstellungen nebeneinander stellen (Pereira/Faísca/Sá-Saraiva, 2012) und dabei offenbar materialistische und religiöse Deutungen je nach Situation aktualisieren, ohne an deren Inkompatibilität Anstoß zu nehmen (Legare, 2012). Dalferths theologischer Intervention (Dalferth, 2015) zugunsten einer theologisch gedachten transzendenten Transzendenz entspricht dann die Tatsache, dass in der Lebenswelt die skizzierte räumliche Vorstellung von Immanenz und Transzendenz nach wie vor vorhanden und relevant ist. Dies ist für jeglichen unterrichtlichen, aber auch seelsorgerlichen Umgang (Karle, 2005) mit der Thematik unaufgebbar.
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