Migration
(erstellt: Februar 2017)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Migration.100319
Das Thema Migration ist innerhalb der letzten Jahre global zu einer politischen und gesellschaftlichen Herausforderung erster Ordnung avanciert und zu einem viel diskutierten Thema wissenschaftlicher Forschung in vielen Disziplinen geworden. Alle Lebensbereiche sind davon betroffen, von der Ökonomie über das Geschlechterverhältnis und das Bildungssystem bis hin zum Sport. Aktuelle politisierte Bewertungen von „Ausnahmeerscheinungen“, zumal in Deutschland, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Migration weltweit und zu allen Zeiten gegeben hat. Sie ist ein universalanthropologisches Merkmal, weshalb man mit Recht vom „homo migrans“ spricht (Bade, 1994). Trotz globaler Horizonte lässt sich das Phänomen gleichwohl in verallgemeinernder Weise kaum sinnvoll beschreiben. Denn dabei sind stets die je partikularen Erfahrungen und Standorte der Betroffenen wie der Beschreibenden mit zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere auch für eine Darstellung aus der Position eines Mitteleuropäers in gesicherten Verhältnissen.
1. Begriffsklärung
Der Begriff der Migration wird in unterschiedlichsten Disziplinen benutzt (Zoologie, Chemie, Genetik, Elektrophysik u.a.). Als Migration von Menschen bezeichnet man in der Soziologie Wanderbewegungen mit dem Ziel bzw. Resultat eines dauerhaften Wechsels des Wohnorts von Menschen. Verwandte Phänomene sind Deportation, Nomaden, Vaganten, Nicht-Sesshafte, Asyl sowie Touristen.
Klassische Migrationsformen sind Arbeitsmigration, Fluchtmigration und Elitenmigration. Unter dem gleichen Begriff werden also Menschen mit höchst unterschiedlichem Qualifikationsprofil und höchst unterschiedlichen Graden freier Entscheidung zur Migration subsummiert. Reichweite, Motive und strukturelle Merkmale der Wandernden unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich (s.u. 3. Analyseperspektiven der Migrationsforschung).
Zu unterscheiden sind Auswanderung (etwa die Emigration verfolgter Dissidenten im 3. Reich), Einwanderung (z.B. die staatlich geförderte Immigration von Gastarbeitern aus Staaten Südeuropas im Laufe der 50er- und 60er-Jahre in die Bundesrepublik) und Binnenmigration (Wanderbewegungen innerhalb eines staatlichen oder überstaatlichen, aber rechtlich und ökonomisch kohärenten Raumes wie z.B. in Deutschland nach 1989 und in der EU). Schließlich kommt Re-Migration in Betracht, die Rückkehr von Einzelpersonen ins Ursprungsland nach einer Wanderungskette in Verbindung mit Exil.
Der sozioökonomische Wandel im Kontext globalisierter Entwicklungen erfasst auch die Dynamik und Eigenart von Migration. Neu entstanden sind Typen wie Transmigration, was Menschen mit hoher Formalqualifikation und räumlicher Mobilität unter Beibehaltung der sozialen Bindung an die Herkunftsgesellschaft betrifft oder auch der Typ des „digitalen Nomaden“, der mit Hilfe moderner Technologie ortsunabhängig arbeitet.
Eine international anerkannte gleichförmige Bestimmung von Migranten gibt es bereits auf europäische Ebene nicht. Auch der rechtliche Status von Migranten (legal, illegal, „undocumented people“) ist im europäischen Vergleich sehr unterschiedlich bestimmt. Die Zuweisung Migrant = Ausländer ist falsch, insofern sie komplexe Verläufe wie Immigration nach Ende der Kolonialzeit oder Wiedereinbürgerung nicht berücksichtigt.
2. Zahlen, Fakten und Erfahrungen
2.1. Statistische Informationen
Nach einer Schätzung der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) haben um die Jahrtausendwende etwa 100 Millionen Menschen weltweit wegen Arbeitsmigration ihre Heimat verlassen. Etwa 65 Millionen Menschen sind gegenwärtig Opfer von Flucht und Vertreibung. In der weltweiten Rangliste der Aufnahme von Asylsuchenden nehmen die USA Platz eins ein, gefolgt von der Republik Südafrika, die mehr Asylbewerber aufnimmt als ganz Europa. Die UN Refugee Agency veröffentlicht jährlich Zahlen über Flüchtlinge, Vertriebene („displaced persons“) und staatenlose Menschen. Die „International Organization for Migration“ (gegründet 1951) veröffentlicht ebenfalls jährlich einen „World Migration Report“.
Zuwanderung ist in der deutschen Geschichte ein weit verbreitetes Phänomen (Bade u.a., 2010). Wichtige Stationen im Verlauf der letzten 100 Jahre waren Arbeitsmigration aus östlichen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“) und im Verlauf der 1950er- und 60er-Jahre aus südeuropäischen Ländern (staatliche betriebene Anwerbung von „Gastarbeitern“), Umsiedlung durch Flucht und Vertreibung nach dem Ende des 2. Weltkriegs (BRD und DDR insgesamt ca. 12 Millionen), Spätaussiedler aus Staaten der UDSSR (4,5 Millionen), Flüchtlingsbewegungen infolge der Balkankriege im Verlauf der 1990er-Jahre (250.000 in Deutschland, in Europa insgesamt ca. 750.000), schließlich verstärkte innerdeutsche Abwanderung von Ost nach West seit 1989.
In Deutschland ist seit 2005 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg für fast alle Verwaltungsabläufe im Zusammenhang mit Migration und Asylanerkennungsverfahren zuständig .Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werden regelmäßig Berichte und Statistiken zu Migration und Asyl veröffentlicht, so der jährliche „Migrationsbericht“, so der „Wanderungsmonitor“, welcher vierteljährlich Übersichten über Erwerbsmigration in Deutschland im Kontext europäischer und globaler Entwicklungen liefert. Im Jahr 2015 wurden nach Zahlen des Bundesministeriums des Innern in Deutschland rund 1,1 Millionen Menschen auf der Flucht registriert. Allerdings wurden manche davon mehrfach erfasst, andere reisen weiter in benachbarte EU-Staaten – die tatsächliche Zahl dürfte etwas niedriger liegen. Nach offiziellen Zahlen sind etwa 50 % der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge unter 25 Jahren.
Weitere Statistiken und Informationen zu Fluchtbewegungen, zur Migration und zur Zahl der Asylanträge in Bezug auf Deutschland und Europa sind beim „Mediendienst Integration“ verfügbar, die vom „Rat für Migration e.V.“ erstellt werden.
Seit 2005 benutzt die Bevölkerungsstatistik in Deutschland (Mikrozensus) das soziale Merkmal „mit Migrationshintergrund“. Dieses bezieht sich auf „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (Statistisches Bundesamt, 2009, 6). Der Anteil betrug laut Mikrozensus von 2013 ca. 20 % der Bevölkerung (16,15 Millionen).
2.2. Erfahrungen mit Fluchtmigration
Statistiken können Lebensschicksale nicht abbilden. Sie sagen nichts über die Erfahrungsperspektive der Betroffenen sowie gegebenenfalls auch die der Helfenden. Besonders in qualitativer Hinsicht differieren die Lebensschicksale und Lebensformen von Migranten extrem und sind kaum vergleichbar. Den privilegierten und rechtlich gesicherten Lebensumständen und Wohnverhältnissen von ökonomischen Eliten, die sich in einer globalisierten Wirtschaft temporär in anderen Ländern aufhalten, stehen Migranten mit tendenziell höchst prekären Lebensformen gegenüber. Insbesondere durch Flucht aus Kriegsgebieten verursachte Migration beinhaltet für die betroffenen Menschen in aller Regel eine tiefgreifende Zerstörung ihrer gewohnten Lebenszusammenhänge, materieller Lebensgrundlagen und sozialer Netze, den Verlust von kultureller Heimat samt einer vorvertrauten gemeinsamen Muttersprache. Zumal Kriegserlebnisse und länger andauernde Flucht, zum Teil unter Lebensgefahr, führen bei vielen zu traumatischen Erfahrungen. Kinder und unbegleitete Minderjährige sind von dieser Konstellation existenzieller Bedrohungen und Gewalterfahrungen mit Todesängsten besonders betroffen. Dies alles führt bei den Betreffenden oft zu einem fundamentalen Strukturverlust, zu posttraumatischen Belastungsstörungen (Forster, 2003; Zimmermann, 2012) und in Folge dessen zu großen Anpassungsschwierigkeiten an ein strukturiertes Alltagsleben in der Ankunftskultur. Menschen müssen oft monate- oder jahrelang in beengten Sammelunterkünften ohne jede Privatsphäre auskommen, leben als Menschen ohne Rechte und ohne Dokumente, deren primärer Lebensinhalt im Warten auf Besserung der Verhältnisse besteht. Dort sind viele von sozialer Diskriminierung und von Repressionen in lang dauernden Verwaltungsabläufen bei den Registrierungs- und Anerkennungsverfahren zu einem gesicherten Status betroffen – wenn sie denn überhaupt eine Bleibeperspektive eröffnet bekommen.
3. Analyseperspektiven der Migrationsforschung
An der in den letzten Jahren weltweit explosionsartig angewachsenen Migrationsforschung und Etablierung entsprechender Forschungsinstitutionen sind verschiedene Disziplinen beteiligt: Soziologie, Demographie, Kultur- und Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Ökonomie, Friedensforschung, Bildungsforschung, Religionswissenschaft und viele andere (zur internationalen Bibliographie: Gharagozlou, 2004). Denn zumal zahlenmäßig größere Migrationsbewegungen haben Auswirkungen auf alle Bereiche des sozialen Lebens (Arbeitsmarkt, Systeme sozialer Sicherung, Bildung, kulturelle Identität) sowohl in den Herkunfts- wie Ankunftsgesellschaften.
Die Analyseperspektiven unterscheiden sich im Blick auf methodische Instrumentarien, Zielsetzung wie gesellschaftliche Relevanz der Forschung. Auszugehen ist stets davon, dass Beschreibungsinstrumente von Migrationsforschung neben deskriptiven immer auch normative Elemente bzw. Implikationen im Blick auf eine Klassifizierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen enthalten. Versuche, dies zu umgehen, etwa durch neutral klingende Termini wie autochthone versus allochthone Gruppen (etwa in den Niederlanden), entkommen der Bewertungsdynamik nicht.
Der Beginn einer Forschung zu sozialer Mobilität datiert bereits im 19. Jahrhundert. Mit dem Einsetzen der großen Überseewanderungen aus Europa nach Nordamerika ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts entstand ein wissenschaftliches Interesse an der systematischen Beschreibung und Interpretation solcher Wanderbewegungen. Die Initialzündung gab der Kartograph und Demograph Ernst Ravenstein mit der typologischen Beschreibung von Wanderbewegungen in Großbritannien mit dem Ziel der Erhebung von sozialen Gesetzmäßigkeiten der Migration (Ravenstein, 1885).
Neuere sozialwissenschaftlich orientierte Migrationsforschung hat auf der Basis statistischer Analysen unterschiedliche Theoriemodelle vorgelegt, die zum einen ursächliche Faktoren für unterschiedliche Formen der Migration zu ermitteln versuchen, zum anderen gesellschaftliche, volkswirtschaftliche und kulturelle Folgen von Migration analysieren und die schließlich, insbesondere im Blick auf Fluchtmigration, nach sozialpolitischen, psychosozialen und bildungsbezogenen Handlungsstrategien von Integrationsmaßnahmen suchen (Treibel, 1999; Bade, 2004).
Vorgelegt wurden zur Faktorenanalyse folgende Ansätze:
- Distanz- und Gravitationsmodelle; dabei wird insbesondere Arbeits-Migration auf der Makroebene in Bezug auf Lohngefälle und Entfernung zwischen Quellort und Zielort zu erklären versucht; diese sind an Modelle aus der klassischen theoretischen Ökonomie sowie der Physik angelehnt,
- Push- und Pull-Faktoren; hier wird ein „Migrationsdruck“ als Sogwirkung im Zusammenhang von mehreren Elementen (unterschiedliche Arbeitslosenrate, öffentliche Sicherheit, unterschiedliche Bildungschancen u.a.) interpretiert.
Hinsichtlich der Faktorenanalyse liegt bis heute kein befriedigendes Analysemodell für Migrationsbewegungen vor. Alle angesprochenen Modelle stützen sich direkt oder indirekt auf die problematische Vorstellung, dass Migranten eine rational getroffene Migrationsentscheidung fällen. Neben Kausalerklärungen sind deshalb wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretationen entwickelt worden. Vorläufige Daten empirischer Forschung lassen in Bezug auf die Entwicklungen in Europa die These einer Polarisierung der Migration in Elends- und Fluchtmigration einerseits und Eliten- und Expertenmigration andererseits als plausibel erscheinen (Butterwege/Hentges, 2003).
Die Realität von Migration und der Diskurs über Migration sind nicht dasselbe. Relevant, insbesondere in politischer wie auch in bildungspolitischer Hinsicht, sind deshalb auch sprachwissenschaftliche Analysen, welche die gesellschaftlich wirksamen bzw. dominierenden rhetorischen Strategien und zum Teil hoch suggestiven Metaphern der Beschreibung und Bewertung von Migration von Seiten politischer Gruppen und Parteien und in den Medien näher untersuchen (Jung/Wengeler/Böke, 1997). Kontroverse Diskurse über Begriffe wie „Leitkultur“ oder „Einwanderungsland“ entwickeln ein Eigenleben, das weniger der Krisenbewältigung dient, denn der Bearbeitung übergreifender Konflikte: „Migration wird zum Medium öffentlicher Kommunikation von Problemen moderner Gesellschaften“ (Eder, 1998, 72).
Qualitativ orientierte Migrationsforschung greift ferner auf die in der Soziologie, Sozialphänomenologie und politischen Philosophie erhobenen Analysen zurück (klassisch: Simmel, 2013; Schütz, 1972; zu neueren Ansätzen: vor allem Waldenfels, 1997; Breckner, 2009). Der von den Nazis zur Flucht gezwungene jüdisch-tschechische Kommunikationswissenschaftler Vilem Flusser hat die Erfahrung der Heimatlosigkeit und Fremdheit in autobiographischer philosophischer Reflexion bearbeitet. Unter der Metapher der „Bodenlosigkeit“ beschrieb er Erfahrungen des Exils als des Fremdwerdens, einen Zerfall von erlebten Ordnungen, welche ihrerseits schon immer interkulturell verfasst waren (Flusser, 1994; 1999).
Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ aus dem Jahre 1943 zum ersten Mal Migration als Problem philosophisch-politischer Reflexion erörtert. Ausgehend von der, autobiographisch aufgerollten, spezifischen Konstellation jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland hat sie auch generell relevante Einsichten in Folgen von Migration formuliert: auf der personalen Ebene Identitätsverlust, Verdrängungsmechanismen des Status als Flüchtling bis hin zum „Assimilationismus“, auf der politischen Ebene Zerfall der in traditioneller Ethik abgesicherten Schutzbedürftigkeit: „Mit uns Flüchtlingen hat sich die Bedeutung des Begriffs ‚Flüchtling‘ gewandelt“ (Arendt, 1986, 7). Daraus ergibt sich, „dass das Wort Flüchtling, das einst einen fast Ehrfurcht gebietenden Klang hatte, die Vorstellung von etwas zugleich Verdächtigem und Unglückseligem [...] erregt“ (Arendt, 1989, 151; zur neueren Analyse politischer Implikationen und Folgen von Migration: Aced u.a., 2014).
Psychosozial orientierte Forschung hat Prozesse der Identitätsbildung unter gestörten Verläufen bzw. extremen Umständen von Gewalterfahrung und Flucht untersucht. Vorliegende Studien machen darauf aufmerksam, dass Angstzustände infolge Traumatisierung oft überdauern, auch nachdem die Flucht zu Ende ist (Gerlach/Pietrowsky, 2012). International breiter erforscht wurden Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) insbesondere bei Kindern (Amaya-Jackson/March, 1995). Langzeitstudien zum Zusammenhang von Flucht und psychischer Gesundheit sind erst auf dem Weg (Khoshrouy-Sefat, o.J.; Collatz u.a., 1992; King/Koller, 2006). Vor allem diese Studien sind in der Bildungsarbeit mit Migranten relevant geworden.
Die Chancen der Migrationsbewegungen für aufnehmende Staaten im Sinne arbeitsökonomischer wie auch kultureller Bereicherung werden inzwischen vermehrt wahrgenommen und genauer analysiert.
4. Religion und Migration
Phänomene von Migration, insbesondere infolge von Flucht vor Verfolgung, sind über die gesamte Religionsgeschichte in fast allen Erdteilen hin belegt, man denke in der Antike an den Exodus Israels aus Ägypten, in der frühen Neuzeit an Vertreibung und Flucht der Hugenotten aus Frankreich nach Holland und Deutschland und an die Auswanderung religiöser Minderheiten aus vielen Staaten Europas nach Nordamerika. Auch im 20. Jahrhundert sind entsprechende Beispiele bekannt: Das Anwachsen des Islams in Deutschland in den letzten 50 Jahren verdankt sich zum größten Teil der Arbeitsmigration aus der Türkei sowie den Fluchtwellen aus Ex-Jugoslawien infolge der Balkankriege und der Kriege in Afghanistan, Somalia, Syrien und dem Irak. Jüdische Gemeinden in Israel, aber auch in Deutschland sahen sich seit den 1990er-Jahren durch Zuzug von Juden aus Staaten der ehemaligen UDSSR mit großen religionskulturellen und sozialen Herausforderungen konfrontiert. Das Anwachsen pfingstlerischer und charismatisch bestimmter christlicher Gemeinden in Ballungszentren Deutschlands ist vor allem durch Migration aus afrikanischen Ländern wie Ghana bedingt (Jach, 2005; Kahl, 2016). Entsprechend solchen und anderen Mobilitätsphänomen sind in Religions- und Kulturwissenschaften spezifische Forschungsprojekte und -initiativen zur Analyse der Zusammenhänge von Religion und Migration gestartet worden (Polak/Schachinger, 2013; Kazzazi/Treiber/Wätzold, 2016; vgl. auch das „Forschungsnetzwerk Religion im Kontext von Migration“ der Universität Wien).
Religionszugehörigkeit in isolierter Form war und ist selten eine Ursache für Migration und Flucht, diese tauchen in der Regel in Verbindung mit ethnischen, sozialen und ökonomischen Merkmalen der Gruppen bzw. Konflikten zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur auf. Neben der historisch fundierten Erforschung von Wanderbewegungen sind religionstheoretisch deshalb auch strukturelle Aspekte von Belang, vor allem die Frage, wie Migrationsbewegungen einen Wandel religiöser Systeme verursachen oder befördern.
Die These einer zivilisatorischen Funktion der Weltreligion durch ihre Missionstätigkeit stellte bereits Schleiermacher 1817 auf (Scheliha, 2016; → Mission
Auch ist die Zunahme religiöser Identifikation betroffener Menschen im Kontext von unterschiedlich bedingter Migration breiter nachgewiesen; Religion kann in den Brüchen der Biografie für das Individuum ein zusätzliches Orientierungspotenzial abgeben. Es wäre jedoch einseitig, Religion im Kontext von Migration nur als Ressource zu bewerten. Denn Fremdheitserfahrungen und Mobilisierung von Fremdenfeindlichkeit gegenüber Migranten von Seiten der Bevölkerung der Ankunftskultur sind evident und empirisch belegt. Gerade hier zeigt sich wiederum das Ineinander von religiösen und kulturellen Faktoren: Der Mechanismus der Zuschreibung als „fremdreligiös“ dient eher zur kulturellen Abgrenzung, denn zur Auseinandersetzung über religiöse Vorstellungen oder Haltungen.
5. Aspekte Theologischer Erschließung
5.1. Ethische Fragestellungen
Im Angesicht verstärkter Migration aus dem Nahen Osten, Afghanistan und Afrika nach Europa haben christliche Kirchen vielfältig ihre ethische und diakonische Verantwortung gegenüber Menschen, die Schutz und Hilfe suchen, zunächst und vor allem in praktischen Schritten von Flüchtlingsarbeit wahrgenommen. Dem folgend ist das Thema Migration sukzessive in verschiedenen Feldern theologischer Reflexion aufgenommen worden. Das geschah wiederum zunächst in der Sozialethik. Begründungsfiguren waren und sind einerseits die Berufung auf biblische Gebote bzw. Motive wie der Schutz und die Gastfreundschaft gegenüber Fremden im Sinne von Lev 19,34
Mit den an die Gesamtgesellschaft gerichteten Aufgaben der Integration und interkulturellen Verständigung wurden zugleich innerkirchlich Impulse formuliert, Pluralität auch nach innen stärker wahrzunehmen und in Wahrnehmung der Differenz zu bejahen. Leitend dabei ist eine eher auf universale Gleichheit abzielende Argumentationslinie: Dazu wird „der Schritt vollzogen, der nicht mehr die Fremdheit als wesentliche Charakteristik hervorheben, sondern deren sprachliche und kulturelle Diversität benennen sollte“ (Kirchenamt der EKD, 2014, 11).
5.2. Flucht und christliche Glaubenserfahrung
In zweiter Linie ist inzwischen kontextuell-theologische Reflexion auf den internen Zusammenhang von Migration und christlichem Glauben entwickelt worden. „Insofern der jüdische und der christliche Offenbarungsglaube und seine grundlegenden biblischen Texte im Kontext von Migration entstehen, gehört Migrationserfahrung konstitutiv zur Glaubenserfahrung“ (Polak, 2014, 14). Insbesondere in der zeitgenössischen katholischen Fundamentaltheologie wird solche Theologie der Migration im engeren Sinne in erkenntnistheologischem Interesse vorangetrieben. Flucht und erzwungene Wanderbewegungen müssen als „Zeichen der Zeit“ gelesen werden, auf die das Glaubenszeugnis von Christen zu beziehen ist. Die alte Fragestellung nach der Erkennbarkeit Gottes in (stets unsichtbarer) Präsenz wird mit Blick auf die „Andersorte“ des Lebens an den Rändern der sozialen Macht (unter Aufnahme von Foucaults Begriff der Heterotypie) neu interpretiert (Sander, 2014; 2015). Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Kirche auf Migration als Lernort angewiesen ist. „Damit wird die Erkenntnis der Zeichen der Zeit
eine Frage der Relationalität: Nicht mehr die Kirche allein vermag sie zu erkennen, sondern sie erschließen sich nur gemeinsam mit jenen, die nicht zur Kirche gehören“ (Polak, 2014, 10).
Diese theologische Reflexion auf Migration nimmt eher eine differenztheoretische Argumentationslinie auf.
6. Bildung: Herausforderungen und Aufgaben
Etwa die Hälfte der durch Krieg zur Flucht getriebenen Menschen ist unter 25 Jahren. Migration im Zusammenhang mit Flucht verschlechtert in aller Regel zumindest kurzfristig die Bildungschancen. Über die Ausgangsbedingungen des deutschen Bildungssystems generell sowie speziell im Blick auf Bildung und Migration gibt der seit 2006 vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) erstellte Bildungsbericht Auskunft (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, o.J.). Da Bildung und insbesondere sprachliche Grundbildung ein wesentliches Element der Integration ausmacht, sind hier in den letzten Jahren in Deutschland lokal, regional wie national verstärkte Anstrengungen unternommen worden.
Die begleitende wissenschaftliche Forschung hat begonnen einen qualitativen Wechsel von einer eher defizitorientierten „Ausländerpädagogik“ hin zur Migrationspädagogik im Sinne interkulturellen Lernens, das an Subjekten des pädagogischen Prozesses orientiert ist (Mecheril, 2004; Mecheril u.a., 2010), zu vollziehen, dies u.a. auch mit rassismuskritischer Sensibilität. Auch ein Lernverständnis in der Perspektive des „globalen Lernens“ ist hilfreich (vgl. die von „Brot für die Welt“ seit 1995 herausgegebene Zeitschrift „Global lernen“).
Neben anderen Fachdidaktiken (Geschichtsunterricht; Politische Bildung) ist auch in der Religionsdidaktik in den letzten Jahren das Thema Migration in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten. Entwickelt wurden didaktische Strategien, um deutschen Schülern und Schülerinnen interkulturelle und interreligiöse Basiskompetenzen zu vermitteln. Dazu gehören altersgemäß passende Anbahnung von Sensibilität für Lebensbedingungen und Lebensschicksale und ethische Urteilsbildung aus biblischer Perspektive angesichts der extremen Notlagen sowie angesichts inhumaner politischer Tendenzen rechtspopulistischer Gruppen in unserer Gesellschaft (Sekundarstufe II; Berufsschule). Zu berücksichtigen ist auch, dass religiöse Bildung keineswegs immer nur in integrativer Wirkung wahrgenommen wird (Schweitzer, 2012).
In Bezug auf schulische Unterrichtsfächer ist allerdings der Umstand zu berücksichtigen, dass der größte Teil der Kinder und Jugendlichen aus islamisch geprägten Herkunftsländern kommt. Deshalb geht eine Fokussierung auf Lernen im Religionsunterricht angesichts des konfessionell bestimmten Religionsunterrichts in Deutschland fehl. Notwendig ist es zunächst, die Herausforderungen der Schule insgesamt in den Blick zu nehmen, ohne allerdings Bildung mit Migranten auf religiöse Merkmale festzulegen. Dann gilt: „Schulen können modellhafte Orte wertschätzender religiöser Pluralität sein – etwa wenn religiöse Schulfeiern von Angehörigen verschiedener Religionen gemeinsam vorbereitet und verantwortet werden“ (Simojoki, 2016, 115; ferner Raiser u.a., 2004).
Zu den relevanten Feldern der Bildungsbemühungen mit Migranten im Kindes- und Jugendalter in Deutschland gehört zweifellos Schulsozialarbeit und Schulseelsorge. Erste Ansätze einer multireligiös strukturierten Schulseelsorge sind entwickelt worden (Mohagheghi, 2010; Bauer, 2016). Sie zeigen in aller Regel ein realistisches Bild über Bedarf, aber auch über Grenzen der beratenden Arbeit angesichts des Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Lebensformen, unterschiedlichen moralischen und nicht zuletzt religiösen Orientierungen zwischen Migrantenfamilien und säkularer Schule in Deutschland. „Eine interkulturell und interreligiös ausgerichtete Schulseelsorgearbeit muss Grenzen und Konfliktfelder wahrnehmen, erkennen und reflektieren, um einerseits in einer pluralen Schulsituation wirksam und handlungsfähig zu sein, andererseits aber auch nicht gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen anmaßend und übergriffig zu werden“ (Bauer, 2016, 262).
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