Deutsche Bibelgesellschaft

Philosophie, philosophische Bildung

(erstellt: Februar 2017)

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1. Philosophie – was ist das?

Was Philosophie sei, zu dieser Frage gibt es seit mehr als 2000 Jahren verschiedenste Antwortversuche (Regenbogen, 2010; Kranz u.a., 1984). Grob sind dabei vier, bedingt auch sich überschneidende Ebenen zu unterscheiden:

  1. 1.Zuweilen wird Philosophie als Fach der elementaren, besonders schwierigen oder großen Fragen gesehen. So hat die anthropologische Grundfrage, was überhaupt der Mensch sei, bereits im 6. Jh. v. Chr. Thales umgetrieben, weshalb er als erster Philosoph bezeichnet wird (Platon, Theait 174a; Aristoteles, Met 983b). Dabei deutet Aristoteles an, dass die philosophische Frage nach bestimmten Inhalten stets eine nach den Prinzipien von allem Seienden ist. Unter dieser Perspektive setzt sich Philosophie tatsächlich mit verschiedensten Gegenständen auseinander, kennt z.B. Sprach-, Moral-, Rechts-, Natur-, Geschichts- oder auch Religions-Philosophie, heute noch spezialisierter Bewusstseins-, Technik-, Medien-Philosophie oder angewandte Ethik.
  2. 2.Die einem gegenständlichen Verständnis entgegengesetzte Position versteht unter Philosophie einen ganz bestimmten Zugang zu allen möglichen Gegenständen, genauer eine besondere Form oder Methode wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Inhalten ganz unterschiedlicher Fächer. Insofern zählen im akademischen Bereich parallel zu den oben genannten Philosophien traditionell die nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Denkform zu charakterisierenden Disziplinen Metaphysik, Ontologie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie usw. wie auch divergierende philosophische Schulen, z.B. Analytische Philosophie, Logik, Hermeneutik, Phänomenologie, Dialektik.
  3. 3.Wieder andere verbinden mit Philosophie bestimmte Weltanschauungen. In der Tat könnte man dem Platonismus, dem Neuplatonismus, der Stoa, dem Deutschem Idealismus oder der (Frankfurter) Kritischen Theorie weltanschauliche Standpunkte unterstellen, in geographischer Perspektive auch der kontinentalen, angelsächsischen oder chinesischen Philosophie. Nicht weltanschaulich, vielmehr positionell grenzt Kant kritische Philosophie ab von Dogmatismus; auch die Bezeichnung bestimmter Denktraditionen als Empirismus, Rationalismus, Idealismus, Realismus, Nominalismus ist positionell gefärbt. Programmatisch und ideologisch nimmt Positionalität dann der Marxismus für sich in Anspruch, polemisch-kritisch eine feministische oder eine interkulturelle Philosophie.
  4. 4.Diesem Verständnis abgeschaut ist schließlich eine heute oft gebräuchliche, aber nicht wissenschaftliche Verwendung von Philosophie, etwa wenn Firmen die Philosophie ihres Unternehmens anpreisen oder Sport-Trainer über die Philosophie ihrer Taktik oder Strategie sinnieren.

All diese Ansichten können den Ausdruck Philosophie insofern für sich beanspruchen, als mit Philosophie eine irgendwie reflektierte Auseinandersetzung mit etwas gemeint ist. Wissenschaftstheoretisch und im akademischen Kontext ist jedoch festzuhalten, dass Philosophie nicht verwechselt werden sollte mit dem Ausdruck Weltanschauung, obgleich viele Denker stets bestimmte Positionen und auch Weltanschauungen vertreten haben. Vor allem hat Philosophie ihre Pointe im Unterschied zu anderen Fächern nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre besondere wissenschaftlich-theoretische Sicht auf alle möglichen Gegenstände. Dieses theoretische Verständnis ist genauer zu erläutern:

  1. 1.Im Unterschied zu vielen wissenschaftlichen Lehren von bestimmten Gegenständen, der Bio-Logie, der Sozio-Logie oder auch der Theo-Logie, setzt sich bereits das Wort Philosophie zusammen aus dem Verb philein (lieben, intensiv zugewandt sein, sich bemühen um) und dem Objekt sophia (Wissen, Weisheit), meint also nicht eine Lehre von der Weisheit, gar eine weise Lehre, sondern die intensive, reflektierte sowie kritisch-prüfende Auseinandersetzung mit dem, was wir an unterschiedlichen Gegenständen wissenschaftlich untersuchen. Solide Einführungen in Philosophie belegen das dadurch, dass Philosophie nicht zuletzt eine Haltung oder Praxis ist, auch sprachlich ursprünglich als Verb philosophieren und Adjektiv philosophisch vorkommt (Heidegger, 1956; Kranz u.a., 1989, 573;576; Rosenberg, 1984; Petermann, 2011); entsprechend sollte im wissenschaftlichen und auch pädagogischen Kontext die Rede von einer, der oder gar meiner Philosophie von etwas vermieden werden.
  2. 2.Bereits für Sokrates ist Philosophie weder exakte Kenntnis von etwas noch Weisheit als eine Art Allwissenheit, sondern die ständige Auseinandersetzung mit etwas, das ich eben noch nicht genau oder zur Gänze weiß, durch das ich mich aber gleichwohl herausgefordert sehe, es genau zu befragen, zu untersuchen und zu erforschen, im Wissen, nie zu einem definitiven und festen Wissen kommen zu können (Platon, Men 80d-81e;86b).
  3. 3.Als entscheidende philosophische Untersuchungsfrage gilt seit Sokrates die Frage ti estin: was ist ein erfragtes Etwas eigentlich (programmatisch Platon, Men 72a). Mit dieser Frage ist auch Religions-Philosophie von Theologie, von Religionswissenschaft, auch von einer Philosophie der Religion(en) zu unterscheiden (Hailer, 2014). Aristoteles hat in eben diesem Sinn Philosophie als die Wissenschaft von den grundlegenden Prinzipien und Begründungen aufgefasst (Met 982b). Diese Auffassung greift Kant auf, wenn er explizit z.B. reine Natur-Wissenschaft (im Sinne einer Untersuchung der wissenschaftlichen Prinzipien forschender Auseinandersetzung mit Natur) als philosophische Disziplin verstanden hat im Unterschied zu empirischer oder angewandter Naturwissenschaft oder deskriptiver Naturkunde (Kant, 1786, A III-VII).
  4. 4.Den Grundstein systematischen Philosophierens hat Aristoteles gelegt, wenn er zu Beginn seiner Metaphysik Philosophie auf das menschliche Streben nach Einsicht gründet und das auch ausdifferenziert durch aufeinander aufbauende spezifisch menschliche Einsichtsformen: Verwunderung (thaumazein), sinnliche Wahrnehmung (aisthesis), Erinnerung, → Erfahrung (empeiria), Kunstfertigkeit und Praxis (techne), Theorie, Verstehen und Wissenschaft (episteme) (Met 980-983).
  5. 5.Auch der andere große Philosophie-Systematiker Kant hat Philosophie im Philosophieren begründet, mit der These, dass sich Philosoph nur nennen könne, der selbsttätig philosophieren könne, aber auch in der Formulierung des Kanons philosophischer Themen: Der tiefere Sinn seiner vier Fragen „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ (Kant, 1800b, 26;27) liegt eben vorrangig nicht in ihrem Gegenstand – auf das „Was“ antworten Daten, Informationen, Moralvorstellungen, Religionen –, sondern in der Auslotung der Bedingungen der Möglichkeit der fragenden Auseinandersetzung; betont sind darum die Verben „kann“, „soll“, „darf“ und „ist“.
  6. 6.Im 19. Jh. verliert Philosophie ihre hervorgehobene Stellung im Kanon der Wissenschaften. Zuweilen wird ihr Wissenschaftlichkeit sogar abgesprochen, der Begriff science wird zunehmend für die sog. exakten Wissenschaften reserviert. Gegen Tendenzen einer faktizitären, empiristischen, szientistischen, technokratischen Reduktion von Wissenschaftlichkeit macht Philosophie im interdisziplinären Diskurs des beginnenden zweiten Jahrtausends jedoch bleibend den Anspruch auf Reflexion von Wissen und Wissenschaft geltend, und sei es nur noch skeptizistisch als Inkompetenzkompensationskompetenz (Marquard, 1981).

2. Philosophie und Bildung

Als Wissenschaft, in der das Denken nicht nur etwas, sondern auch sich selbst, sein Denken denkt (Aristoteles, Met 1074b), ist Philosophie wesentlich → Bildung: Vor diesem Hintergrund wirft Platon zu Beginn seines Menon die Frage, ob man Gutsein (und Philosophie) lernen und lehren könne, programmatisch als philosophische Frage auf. Im Höhlengleichnis behauptet er dann explizit Philosophie als Bildungs-Wissenschaft und erläutert zudem Philosophieren als den zentralen Bildungsprozess: Philosophisch agiert, wer den Weg vom Schein zur Wahrheit als periagoge (Umwendung) unseres Geistes hin zur andauernden Suche nach höchstem Wissen geht (Platon, Pol 514-517;518d) und dies auch anderen weiterzugeben versteht (Pol 520c). Die Fähigkeit, Wissen und Wissenserwerb nicht nur auszubilden, sondern auch zu vermitteln und zu lehren (didaskein), ist für Aristoteles sogar spezifisches Merkmal des Wissenschaftlers (Aristoteles, Met 982a).

Zugrunde liegt dem die Auffassung vom Menschen als Bildungswesen: Jeder Mensch ist darauf angelegt, durch die laufende Betätigung seines Geistesvermögens nicht nur daher zu leben, sondern sein Leben zu gestalten (Aristoteles, EN 1098a) und sich so zu bilden. Ganz in diesem Sinne ist auch für Kant jenes sapere aude, die aufklärerische Betätigung des je eigenen Verstandes (Kant, 1783, 484), → Bildung. Als philosophisch-immanente Didaktik hat Kant dies ausdifferenziert zu den Maximen, selbst zu denken, sich „an die Stelle des anderen“, d.h. dialogisch zu denken, sowie einstimmig, d.h. begrifflich klärend zu denken (Kant, 1798, A122). Diese Maximen sind freilich nicht misszuverstehen als eine ohne Kenntnisse vorhandene Anlage, sie müssen vielmehr in der Auseinandersetzung mit einem konkreten Inhalt geübt und entwickelt werden.

Von daher ist didaktisch auch kein Widerspruch zu sehen zwischen Philosophieren und Philosophie, was mit Bezug auf Kant gegen Hegel zuweilen unterstellt wird: Auch für Hegel besteht Philosophie nicht aus der bloßen Kenntnis philosophischer Positionen und Denkformen, sondern ist stets die Darstellung der einem Inhalt impliziten Struktur und Entwicklung. Kant ist umgekehrt mit seinem Plädoyer für Philosophieren als Weltweisheit gegen eine auf Schulwissen reduzierte Philosophie (Kant, 1800, 23-25) ganz einig mit Hegels Polemik gegen ein Verständnis von Methode als einer Inhalten gegenüber äußeren, bloß technisch und handwerksmäßig anwendbaren Form ihrer Vermittlung: Die philosophische Methode ist eine von ihrem jeweiligen Inhalt nicht zu trennende, sondern die auf sich selbst reflektierende und insofern denkende Entwicklung und Organisation einer Sache aus sich selbst (Hegel, 1807, Vorrede).

Dieser philosophisch-didaktische Hinweis ist von besonderer Relevanz angesichts der bildungswissenschaftlich virulenten Kompetenzdebatte (→ Kompetenzen): Die Ausdifferenzierung von fachlichen Inhalten in ein Unterricht organisierendes Raster von Kompetenzen, Operatoren und Standards birgt die Gefahr von Technizismus, bloßer Funktionalität und auch Unübersichtlichkeit, als ob es schulisch nur mehr um Lernformen, nicht um Inhalte und ihre Reflexion ginge. Philosophie-Didaktik hat hier die Aufgabe, gegen ein Zurechtstutzen schulischen Lernens auf operationable Lerndesigns und die Vermittlung bloß formaler Schlüsselkompetenzen Bildung stark zu machen als einen Prozess der laufenden Übung und Entwicklung wirklich bildender Kompetenzen: Neben den oben angeführten Dimensionen des Selbst-, dialogisch und begrifflichen Denkens sind das die ästhetischen, kognitiven und praktischen Formen menschlicher Welterschließung, zusammengefasst in der Trias sehen – urteilen – handeln, und so bereits von Aristoteles (s.o., Met 982a) als Formen der Einsicht vorgedacht (Petermann, 2007; 2013; Liessmann, 2014; Ladenthin, 2015). Als dialogisches Philosophieren stellt Philosophie darüber hinaus auch konkrete didaktische Konzepte eines fragenden und Fragen entwickelnden, auf kritische Gesprächsführung ausgerichteten Lernens und Lehrens bereit (Platon, Men; Raupach-Strey, 2002; Petermann, 2011).

3. Philosophie im schulischen Unterricht

Als kritisch-fragendes Denken hat Philosophie seit ihren Anfängen ein eher distanziertes Verhältnis zu Organisation und Schule. Sokrates lehnte in seinen heftigen Auseinandersetzungen mit den sog. Sophisten einen funktional auf Kenntnisse ausgerichteten instruierend-belehrenden Unterricht ab. Ruhm und Geltung als Weisheitslehrer wies er von sich, verstand sich vielmehr als jemand, der seinen Mitmenschen wie eine Hebamme (maieutisch) zum selbständigen Nachdenken verhilft, zur → Kritik unbedachter Meinungen und zu begründeter Urteilsfindung, doch nicht durch Belehrung, sondern durch stechmückenartig inquirierende Gespräche (Platon, Apol 21bc;23b; Theai 150).

Der diskursive Anspruch von Philosophie förderte von Beginn an die Bildung philosophischer Gesprächskreise. In seinen Werken setzte Platon nicht nur seinem Lehrer Sokrates ein Denkmal, sondern etablierte damit zugleich die Auffassung von Philosophieren als Gespräch: Seine Dialoge bildeten den Grundstock der von ihm gegründeten und Jahrhunderte überdauernden Akademie. Aristoteles machte die Idee eines philosophischen Lehrhauses mit dem Lykeion in anderer Form zu einer festen Institution. Auch in der chinesischen Tradition bieten die konfuzianischen Lehrgespräche die Basis für bis heute fest institutionalisierte philosophische Wettstreite. Dass Philosophie mit ihrem dialogischen Anspruch über ein Streitgespräch hinaus „ins Offene des Weitersprechens weist“, ist explizit Anliegen auch gegenwärtiger Denker wie Gadamer (1970, 198) oder Derrida (1993).

Institutionalisierte Lehr-Lern-Formen bergen jedoch stets die Gefahr von Verschulung. Die systematische Aufgliederung von Philosophie in die septem artes liberales durch Platon gab bis in die Neuzeit das Grundgerüst der Philosophischen Fakultäten an Universitäten ab. Doch Platons Idee, dass wir über den Viererweg, das quadrivium mit Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonie, und den Dreierweg (trivium) von Logik und Rhetorik zur Dialektik als höchster Wissenschaft gelangen, dieses Konzept von Philosophie wurde in der Scholastik herabgestuft zu einem Propädeutikum, auf das die eigentlich erst wissenschaftlichen Studien Theologie, Recht, Medizin folgten. Eingebunden in ein fest organisiertes Ausbildungs- und auch Disputationssystem verkam Philosophie dabei nicht selten zu einem Fach, dessen Inhalte und Argumentationsformen eher wie ein Katechismus zur Kenntnis zu nehmen und zu lernen waren.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Verschulung begann im 19. Jh. die Diversifikation ursprünglich der Philosophie zugeordneter unterschiedlichster Einzelfächer, die mit ihrer Wende zu positiven Fakten auch ein anderes, nämlich exaktes Verständnis von Wissen versprachen, der Naturwissenschaften, ebenso der Sprach-, Geistes-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Dieses Auseinanderbrechen konnte auch durch Hegel nicht aufgehalten werden, der oft als letzter Systemphilosoph bezeichnet wird, weil er in seiner Enzyklopädie Wissenschaft enden lässt in der „Idee der Philosophie, welche die wissende Vernunft […] als absoluten Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (Hegel, 1830, § 577).

In der Schule unterrichtete Hegel noch traditionelle philosophische Fächer in einer für untere Schulstufen umgesetzten Weise. Auch in Frankreich ist Philosophie-Unterricht bis heute ein prominentes Fach, freilich eher philosophisch-historisch als problemorientiert ausgerichtet. In Deutschland spielt Philosophie im Kanon schulischer Fächer heute nur noch eine Nebenrolle. Bis in die 80er-Jahre des 20. Jh. hinein galt das Philosophikum immerhin in allen Lehramtsstudien als tragender Baustein; in heutigen sog. Grundfragenstudien, oft in pägagogische, psychologische, soziologische Studienanteile eingebunden, ist das nur noch marginal zu erkennen. Als eigenständiges Unterrichtsfach ist Philosophie an den Rand gedrängt. → Ethikunterricht kann dafür nicht als Ersatz gelten: Trotz demografischer Indikation (weit mehr als 30 % der Menschen in Deutschland sind konfessionslos) ist er Anfang des 21. Jh. noch nicht flächendeckend eingeführt; zudem steht er als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht gar nicht allen Schülerinnen und Schülern offen; vor allem ist er, selbst wenn zuweilen als Philosophie-Unterricht firmierend, oft einseitig fokussiert auf moralphilosophische Inhalte.

4. Philosophieren im Religionsunterricht

Nach dem erläuterten Verständnis von Philosophie als kritischer Auseinandersetzung läge es nahe, Philosophie im Kontext von Schule nicht als gesondertes Fach im Kanon der Fächer anzusehen, vielmehr als integrales Element jedes Fachs hinsichtlich seiner Prinzipien, seiner transdisziplinären Bezüge, seiner lebensweltlichen Ausrichtung, vor allem aber in seinem kritisch befragenden und reflektierenden Anspruch. Im Religionsunterricht hat dialogisch-kritisches Philosophieren seinen Ort vor allem auf drei Ebenen:

  1. 1.Unverzichtbar scheint die religions-philosophische Perspektive bei der tieferen Erschließung existentieller und lebensweltlicher Themen im Religions-Unterricht, etwa zu Menschenbildern, Freiheit, Verantwortung, Ethik, Gerechtigkeit. Doch auch bei innertheologischen Themen wie Gott, Jesus Christus, Kirche, Schöpfung, Erlösung, Glaube wird nicht erst in der Sekundarstufe II die philosophische Frage aufbrechen und zur Auseinandersetzung kommen, was daran warum Religion ist.
  2. 2.Ein neueres Feld der eher methodischen Einbindung von Philosophieren in den Religionsunterricht eröffnet die sog. → Kindertheologie und → Jugendtheologie, die aus der Bewegung des Philosophierens mit Kindern entstanden ist. Aus Sicht der Philosophie ist hier freilich anzumerken, ob es sich bei den inzwischen zahlreichen Unterrichtskonzepten und -ideen nicht eher um Formen und Wege des Philosophierens im Religionsunterricht handelt, und auch mit welchem Sinn wirklich die Rede sein kann von einer Theologie der Kinder bzw. mit Kindern (kritisch dazu Petermann, 2002).
  3. 3.Am interessantesten und ergiebigsten scheint der Einsatz von Philosophieren im biblischen Arbeiten, konkreter als Teil biblischer → Hermeneutik: Dass für eine religionsunterrichtlich vernünftige, d.h. Sinn vernehmende Erschließung von Bibeltexten eine ausschließlich faktizitäre, historisch-kritische oder auch rezeptionsästhetische Lesart äußerlich bleibt, hat bereits das alte Schema vom sog. vierfachen Schriftsinn realisiert; das genaue Textverstehen auf einer literalen, allegorischen, moralischen, anagogischen Ebene setzt aber philosophisch-hermeneutische Kenntnisse voraus, um diese Ebenen nicht formalistisch, sondern sinnerschließend einzusetzen. Auch biblische Texte als Wort Gottes und als Offenbarung nicht nur zu behaupten, sondern auch zu verstehen, ist nicht möglich ohne die sprachphilosophisch unhintergehbare Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant eines Wortes und Satzes (Meddeb, 2006; Petermann, 2010). Dieser Hinweis indiziert zugleich die philosophische Perspektive auf die großen Texte der Religionen: Heiligkeit eignet ihnen nicht nur aufgrund ihrer besonderen Botschaft, sondern aufgrund ihres hoch reflektierten, gerade auch die Gläubigen zu ständiger und stets neuer Interpretation herausfordernden Anspruchs: fides quaerens intellectum – Glauben ist keine abgeschwächte Wissensform, sondern erstrebt und evoziert vernünftige Auseinandersetzung. In dieser Perspektive sind etwa die biblischen Schöpfungstexte keineswegs historisch-faktizitäre Berichte, sondern bieten komplexe und darum interpretationsbedürftige kosmologische Entwürfe (Gen 1) oder elementare Anthropologien (Gen 2-4). Ebenso dürfen Perikopen zum Thema → Auferstehung nicht als Berichte technischer Vorgänge gelesen werden, sondern können, ja müssen (auch) als philosophische Auseinandersetzungen bzw. Theorien gedeutet werden, was überhaupt unter Auferstehung zu verstehen sei (Petermann, 2016). Philosophie ist daher auch für Schriftexegese kein äußeres Handwerkszeug, sondern fordert wie keine andere Disziplin gerade auch pädagogisch heraus zu intensiver, differenzierter, kritischer und vor allem verstehender und einsehender Lesung und Einlassung auf den Text.

Literaturverzeichnis

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