Politikunterricht
Andere Schreibweise: Politische Bildung; civic education; citizenship education
(erstellt: Februar 2017)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Politikunterricht.100322
1. Politikunterricht als schulisches Unterrichtsfach – institutionelle Aspekte
Der Begriff Politikunterricht wird im deutschsprachigen Raum als Bezeichnung für das schulische Unterrichtsfach der politischen Bildung verwendet. Ein solches Unterrichtsfach wurde in Deutschland, nach recht halbherzigen Versuchen in der Weimarer Republik, erst nach 1945 in den westdeutschen Ländern eingeführt. Allerdings waren die Unsicherheiten in dieser Sache zunächst groß. So betonte die Kultusministerkonferenz in ihrem ersten Beschluss zur politischen Bildung im Jahr 1950, dass politische Bildung „ein Unterrichtsprinzip für alle Fächer und Schularten [ist]“, konnte sich bezüglich eines eigenständigen Fachunterrichts aber nur zu folgender vager Empfehlung an die Länder durchringen: „Es wird empfohlen, zur Vermittlung dieses Stoffwissens und zur Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen, soweit dies nicht in anderen Unterrichtsfächern möglich ist, vom 7. Schuljahr ab Unterricht in besonderen Fachstunden zu erteilen.“ Ausdruck dieser Unsicherheit – mit fatalen Folgen bis in die Gegenwart – war auch der anschließende Satz in diesem Beschluss: „Die Benennung dieses Faches wird freigestellt (Gemeinschaftskunde, Bürgerkunde, Gegenwartskunde, Politik)“ (zitiert nach Sander, 2013a, 114).
Zu dieser Namensliste sind in den folgenden Jahrzehnten weitere Fachbezeichnungen hinzugekommen (wie z.B. Sozialkunde, Gesellschaftswissenschaften, Politik und Wirtschaft), was zu einem im schulischen Curriculum einmaligen Wirrwarr an Bezeichnungen für das im Kern gleiche Fach geführt und die Profilierung dieses Faches in der öffentlichen Wahrnehmung erheblich erschwert hat. Der wissenschaftliche Fachverband in der politischen Bildung, die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), hat 2004 vorgeschlagen, das Fach bundeseinheitlich „Politische Bildung“ zu nennen (Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung, 2004, 12), allerdings ohne durchgreifenden Erfolg.
Dieses Fach ist auch insofern noch immer in einer prekären Situation, als der Anteil an den Stundentafeln in den meisten Ländern eher gering ist. Insgesamt bewegt er sich im Vergleich der Bundesländer in der Sekundarstufe I zwischen 0,5% und 4,4% der Unterrichtszeit (Pohl, 2022, 146). Allerdings ist ein exakter Vergleich dadurch erschwert, dass einige Länder das Fach in einigen Schulformen oder Schuljahren integriert mit anderen fachlichen Schwerpunkten etwa aus Geschichte und Geographie anbieten. Der häufig relativ geringe Stundenanteil des Faches fördert zudem die Neigung von Schulleitungen, es fachfremd von Klassenlehrern und Klassenlehrerinnen unterrichten zu lassen. Nach Schätzungen beläuft sich der Anteil fachfremden Unterrichts in der politischen Bildung auf 30 bis 50 Prozent.
Auf der anderen Seite hat die Einführung eines eigenständigen Unterrichtsfachs in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Professionalisierungsschub in der politischen Bildung nach sich gezogen. Hierzu hat die wissenschaftliche Fachlehrerausbildung beigetragen (siehe auch Abschnitt 3), aber auch die Entwicklung von Schulbüchern und anderen fachbezogenen Lernmaterialien sowie die Gründung von Fachzeitschriften und Fachverbänden (neben der 1999 gegründeten Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung gibt es die 1965 gegründete Deutsche Vereinigung für politische Bildung [DVPB], die anders als die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung in erster Linie Lehrerinnen und Lehrer organisiert). Von großer Bedeutung für die Infrastruktur des Faches sind auch die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung, die eine Fülle von Materialien für Fortbildung und Praxis bereitstellen sowie eine Vielzahl von Tagungen und Kongressen veranstalten. Trotz der genannten Schwächen sind Infrastruktur und Professionalität der schulischen politischen Bildung in Deutschland heute im internationalen Vergleich gut entwickelt (Sander/Pohl, 2022, 565-621).
2. Politische Bildung in der Schule – Traditionslinien und historische Grundmuster
Obwohl der Politikunterricht als eigenständiges Fach sich landesweit erst in der Bundesrepublik durchsetzen konnte, steht er doch in einer wesentlich längeren Tradition politischer Bildung und → Erziehung
Der wichtigste schulpädagogische Ort für diese Art politischer Bildung war über lange Zeit die religiöse Erziehung. Dieser Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Erziehung deutet sich bereits in der zitierten brandenburgischen Kirchenordnung an. Noch deutlicher wurde er nach dem Westfälischen Frieden von 1648, mit dem die jeweilige christliche Konfession faktisch zu einer vom persönlichen Bekenntnis des Landesherrn unabhängigen Staatseinrichtung wurde. Für die politische Identität des absolutistischen Territorialstaates wurden Glaube und kirchliches Leben bedeutsame Faktoren. Bezogen auf die Aufgaben der Schule wurde damit der Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Erziehung offenkundig – wobei einschränkend anzumerken ist, dass sich schon auf Grund der begrenzten materiellen Möglichkeiten die Pflichtschule für alle Kinder erst über einen längeren Zeitraum hinweg in der Praxis durchsetzte. Es dauerte bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis tatsächlich alle Kinder die Schule besuchten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte aber der Religionsunterricht seine dominante Stellung schon verloren und für die politische Bildung waren nun in den Volksschulen vor allem der Geschichts-, der Geographie- und der Deutschunterricht zu den wichtigsten Fächern geworden; nicht anders als in den Gymnasien, in denen die alten Sprachen noch hinzu kamen, mit denen der Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Intention verbunden hatte, durch die Auseinandersetzung mit der Kultur der Antike politisch bildend zu wirken.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann auch eine intensivere politische und pädagogische Diskussion um die Einführung eines eigenes Unterrichtsfaches für die politische Bildung oder zumindest eigener Unterrichtsstunden im Anschluss an den Geschichtsunterricht. Politische Bildung firmierte in dieser Debatte unter dem Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung oder der Staatsbürgerkunde, eine Fachbezeichnung, die sich bis 1989 in der DDR hielt. Für die Problemlage in dieser Debatte ist eine „Allerhöchste Ordre“ charakteristisch, die Wilhelm II. am 1. Mai 1889 erließ. Der Kaiser fordert hierin, „die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken.“ Weil, so lässt sich die Argumentation des Kaisers pointiert zuspitzen, der Religions- und der Geschichtsunterricht vor dieser Aufgabe versagt haben, muss die Schule sich intensiver mit Gegenwartsfragen befassen: „Sie muß die neue und neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen [...]. Sie muß ferner durch statistische Tatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben“ (zit. nach Kuhn/Massing/Skuhr, 1993, 35). Es ist unübersehbar, dass hier politische Bildung gedacht war als eine Art Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln, als Instrument zur Bekämpfung der innergesellschaftlichen Opposition und zur Legitimation bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Dieses Grundmuster prägte später auch die politische Bildung im Nationalsozialismus und in der DDR.
Ein zweites Grundmuster betrachtet politische Bildung ebenfalls als ein Instrument der Politik, nun aber nicht mit dem Ziel der Legitimation bestehender gesellschaftlich-politischer Verhältnisse, sondern mit dem Ziel von deren Veränderung. Politische Bildung erscheint hier als probates Mittel zur „Befreiung der Menschheit von den moralischen und politischen Übeln, die sie so sehr drücken“, wie es Johann Wilhelm Süvern in einer Vorlesung 1807/08 sagte, wenngleich ohne den Begriff der politischen Bildung zu erwähnen, aber doch ausdrücklich auf die beiden „Künste“ der Politik und der Pädagogik bezogen (Sander, 2013a, 24-25). Metaphorisch gesprochen wird politische Bildung in diesem Grundmuster zu einer Art von Mission. Dieses Grundmuster findet sich beispielsweise in manchen Aufgabenverständnissen politischer Bildung im Umfeld der Studentenbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre, aber auch in manchen öffentlich geäußerten Erwartungen an Werte- und Moralerziehung.
Beide Grundmuster stellen für die politische Bildung in der → Demokratie
Für dieses Grundmuster einer an der Leitidee der politischen Mündigkeit orientierten politischen Bildung steht paradigmatisch der Beutelsbacher Konsens, der rückblickend auf die Ergebnisse einer Tagung führender Politikdidaktiker im Jahre 1976 formuliert wurde. Hiernach wurde eine allgemeine Übereinstimmung zu drei Prinzipien politischer Bildung konstatiert:
- 1.„Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinn erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ [Minssen] zu hindern. [...]
- 2.Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. [...]
- 3.Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. [...]“ (Wehling, 1977, 179-180).
Diese Prinzipien gelten bis heute in der deutschen Fachdiskussion zur politischen Bildung als allgemein akzeptiert und werden auch in vielen neueren Lehrplänen und anderen offiziellen Dokumenten zum Politikunterricht direkt oder indirekt zitiert (vgl. zu den Wirkungen des Beutelsbacher Konsenses Frech/Richter, 2017). Sie werden vielfach als Kern einer Berufsethik des pädagogischen Personals in der politischen Bildung verstanden, die in den letzten Jahrzehnten nicht nur in der schulischen, sondern auch in der außerschulischen politischen Bildung breite Zustimmung gefunden hat. Mit ihnen und der Leitidee der politischen Mündigkeit wird ein spezifische Differenz zwischen politischem und pädagogischem Handeln festgehalten: Politische Bildung befasst sich inhaltlich mit Politik, ist aber eine Form pädagogischer Praxis, die letztlich eigenständiges Denken und Urteilen der Lernenden fördern möchte.
3. Wissenschaft
Theoretisch-programmatische Überlegungen zur politischen Bildung wurden schon lange vor der Etablierung eines eigenen Faches in der Schule publiziert. Einflussreiche Autoren waren vom 19. Jahrhundert bis zu den 1950er-Jahren vor allem Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824-1893), Georg Kerschensteiner (1854-1932), August Messer (1867-1937), Theodor Litt (1880-1962) und Theodor Wilhelm (1906-2005). Eine kontinuierliche und systematische wissenschaftliche Forschung und Theoriebildung konnte sich aber erst mit der Gründung der ersten Professuren für Politikdidaktik ab den 1960er-Jahren entwickeln, die im Zuge des Ausbaus der Lehrerausbildung an den Universitäten und der Ausdifferenzierung der Fachdidaktiken als Wissenschaften im Überschneidungsfeld zwischen der jeweiligen Fachwissenschaft und der Erziehungswissenschaft geschah.
Zunächst nahm diese junge Disziplin einen raschen Aufschwung. Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit standen in erster Linie fachdidaktische Konzeptionen, die sich auf die wissenschaftliche Grundlegung des Politikunterrichts in der Schule konzentrierten. Angesichts des Ausbaus des Faches in der Schule und einer starken Nachfrage bei Studierenden in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren stießen insbesondere Arbeiten von Kurt Gerhard Fischer, Hermann Giesecke, Wolfgang Hilligen und Rolf Schmiederer auf starke Resonanz (May/Schattschneider, 2011). Aber bereits Anfang der 1970er-Jahre geriet die junge Wissenschaft in den Strudel von massiven politischen Konflikten um neue Lehrpläne und neue Schulbücher für die politische Bildung, die in mehreren Bundesländern als Teil der bildungs- und kulturpolitischen Konfrontationen jener Zeit zwischen den großen Parteien geführt wurden (vgl. die differenzierte Darstellung dieser Auseinandersetzung bei Mambour, 2007). Innerwissenschaftlich konnte diese Konfrontation entlang des politischen Links-Rechts-Koordinatensystems jedoch bereits 1976 mit dem oben zitierten Beutelsbacher Konsens beendet werden.
Die wissenschaftlichen Schwerpunkte der Politikdidaktik liegen heute im Wesentlichen in vier Bereichen: in der fachdidaktischen Theoriebildung (vgl. zum Stand Pohl, 2016; May/Hameister, 2025), in der fachgeschichtlichen Forschung, in fachbezogenen Entwicklungsarbeiten (wie Lernmethoden und Lernmaterialien) sowie – mit zunehmendem Gewicht seit den 1990er-Jahren – in empirischen Forschungen zur Praxis der politischen Bildung (vgl. insgesamt zum Stand der wissenschaftlichen Fachdiskussion Sander/Pohl, 2022).
In der Politikdidaktik wird heute der Politikunterricht ganz überwiegend als interdisziplinäres sozialwissenschaftliches Fach verstanden, das sich in fachwissenschaftlicher Hinsicht auf Perspektiven und Wissen aus Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften bezieht (z.B. Autorengruppe Fachdidaktik, 2025). Das entspricht auch dem Profil des Faches in den meisten Bundesländern. Als weithin konsensfähig hat sich daher die Bestimmung des Gegenstandsfelds für das Fach in einem Entwurf der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung für nationale Bildungsstandards erwiesen: „Das Unterrichtsfach Politische Bildung bringt in den Gesamtzusammenhang der politischen Bildung die fachlichen Perspektiven der Sozialwissenschaften ein. [...] Hierbei stützt sich das Fach auf einen umfassenden Politikbegriff, der sich auf die Regelung von grundlegenden Fragen und Probleme des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens bezieht. Hierzu gehören:
- Politik im engeren Sinn. Damit ist im Wesentlichen Politik als ein kollektiver, konflikthafter und demokratischer Prozess zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen gemeint. Zur Analyse dieses Prozesses in der politischen Bildung haben sich politikwissenschaftliche Modelle bewährt, die Politik als zyklischen Prozess der Problembewältigung (Politikzyklus) sowie in Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch als mehrdimensionales Geschehen unter inhaltsbezogenen Aspekten (policy), institutionellen Aspekten (polity) und prozessualen Aspekten (politics) der Machtverhältnisse und Durchsetzungschancen der Akteure betrachten. [...]
- wirtschaftliche Fragen und Probleme. Ökonomische Prozesse und ihre Ergebnisse sowie wirtschaftliche Strukturen definieren einerseits Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Entwicklung und bilden Voraussetzungen für politische Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Andererseits greift die Politik in mannigfache Weise in die Wirtschaft ein. Politik und Wirtschaft stehen in so enger Interdependenz, dass weder Politik ohne Ökonomie noch Ökonomie ohne Politik verstanden werden können. [...]
- Fragen und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens. → Gesellschaft
ist sowohl Voraussetzung als auch Objekt von Politik. [...] - rechtliche Fragen und Probleme. Recht und Politik bedingen einander wechselseitig. Recht entsteht als Ergebnis politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, und Recht ist, einmal geschaffen, jedenfalls in Rechtsstaaten die strukturelle Voraussetzung für weiteres politisches Handeln [...]“ (Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung, 2004, 9-11).
Dem gegenüber stehen in jüngerer Zeit Forderungen aus der Wirtschaft und von interessierten Verbänden nach einem eigenen Fach „Wirtschaft“, was zu einer Aufsplitterung des ohnehin recht kleinen Politikunterrichts in mindestens zwei Fächer führen müsste. Wollte man auf diesem Weg das Prinzip der Interdisziplinarität für das Fach aufgeben, müssten allerdings streng genommen an die Stelle des Politikunterrichts vier Mikrofächer treten, was schon aus schulpraktischen Gründen weder realistisch noch sinnvoll wäre. Eine weitere Kontroverse hat sich seit den 2010er-Jahren um Theorieansätze entwickelt, die von ihren Vertretern dezidiert als „kritische politische Bildung“ bezeichnet werden (Chehata u.a., 2024). Diese Richtung kommt sehr stark aus der außerschulischen Bildung, hat aber in der schulbezogenen Fachdidaktik ebenfalls Resonanz gefunden. Ihren Vertretern geht es – bei vielen Unterschieden im Einzelnen – um eine gesellschaftskritische Positionierung politischer Bildung, die auf Emanzipation und Demokratisierung zielt. Vieles daran erinnert an ältere Ansätze aus den 1970er-Jahren, wenngleich neuere Aspekte hinzukommen, vor allem aus dem Postkolonialismus und den Gendertheorien. Kritiker dieser Richtung halten ihr insbesondere den Versuch einer Monopolisierung des Kritikbegriffs, die Verwischung der Unterschiede und Grenzen zwischen pädagogischer und politischer Praxis und einen Mangel an Originalität, was konkrete Unterrichtskonzepte anbelangt, vor (vgl. zu dieser Kontroverse Widmaier/Overwien, 2013; Sander, 2023, 56-80).
4. Zieldimensionen des Politikunterrichts
Im bereits zitierten Entwurf der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung für nationale Bildungsstandards werden in der Sprache der Kompetenzorientierung drei Zielbereiche definiert (und in schulstufenbezogenen Standards von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II auch konkretisiert:
4.1. Politische Urteilsfähigkeit
Der Politikunterricht will Lernende befähigen, politische Fragen – unter Einschluss von ökonomischen und gesellschaftlichen Bezügen – kompetent zu beurteilen. Dies schließt konstatierende und analysierende Aspekte (Sachurteile) sowie qualifizierende bzw. normative Aspekte (Werturteile) ein, die in der Regel bei konkreten Gegenständen eng miteinander verzahnt sind. Unter dem Aspekt des Sachurteils geht es dem Fach um Komplexitätszuwachs und zunehmende Differenziertheit von Urteilen und Urteilsgründen bei den Adressaten sowie um die Einbeziehung sozialwissenschaftlichen Wissens in die Analyse und Beurteilung politischer Phänomene. Unter dem Aspekt des Werturteils geht es darum, die Maßstäbe, nach denen normative Fragen von Lernenden entschieden werden, nach und nach so zu verallgemeinern, dass sie dem Anspruch nach für alle Menschen gelten können. Diese universalistische Perspektive politischer Bildung entspricht den Wertgrundlagen moderner Verfassungsstaaten. Umstritten ist in der Politikdidaktik, ob und inwieweit das Kohlbergsche Modell der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit für die Beschreibung eines solchen Lernprozesses geeignet ist. Der Politikunterricht überlässt zwar auch unter Wertaspekten die konkrete inhaltliche Beurteilung politischer Streitfragen den Lernenden selbst; dennoch ist politische Bildung als pädagogische Veranstaltung nicht wertneutral, weil diese Offenheit für verschiedene Ergebnisse von Lernprozessen die Anerkennung der bürgerlichen Freiheitsrechte impliziert, für die politische Bildung durch ihre eigene Praxis eintritt (vgl. zur Debatte über normative Orientierungen und kulturelle Identität in der politischen Bildung Wohnig/Zorn, 2022; Sander, 2023, 81-106).
4.2. Politische Handlungsfähigkeit
Der Politikunterricht will Lernende befähigen, an der Öffentlichkeit teilzunehmen und hierbei die eigenen Interessen in angemessener Form und mit Aussicht auf Erfolg zur Geltung zu bringen. Hierfür vermittelt und trainiert das Fach konkrete Fähigkeiten, beispielsweise im Umgang mit und in der aktiven Nutzung von Medien, im persönlichen öffentlichen Auftreten, im Wechsel von Perspektiven und im Umgang mit Differenz, Pluralität und Konflikten.
4.3. Methodische Fähigkeiten
Ein großer Teil der für die Praxis des Politikunterrichts bedeutsamen methodischen Fähigkeiten ist nicht fachspezifisch, sondern auch für andere Fachgebiete wichtig. Hierzu gehören beispielsweise Fähigkeiten aus den Bereichen Lesekompetenz, Selbstorganisation oder Arbeiten in Teams. Zusätzlich vermittelt der Politikunterricht aber auch fachbezogene methodische Fähigkeiten, die im Wesentlichen auf eine elementarisierte Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden für die Analyse politischer Phänomene abzielen. Hierzu gehören beispielsweise das methodisch reflektierte Beobachten sozialer Situationen, die Planung und Realisierung von Experteninterviews oder die Planung, Durchführung und Auswertung kleiner Fragebogenerhebungen.
Im Entwurf der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung werden diese Intentionen als Kompetenzbereiche entwickelt und auf ein Verständnis von fachlichem Wissen als „konzeptuelles Deutungswissen“ bezogen. Gemeint ist damit, dass für den Politikunterricht in erster Linie Wissen im Sinn des Verstehens von bedeutsamen politischen Konzepten relevant ist, die ihrerseits im Unterricht auf bei den Schülerinnen und Schülern bereits vorhandene Vorverständnisse bezogen werden müssen. An diesen Ansatz hat sich in den Folgejahren eine intensive und kontroverse Diskussion um die Konkretisierung dieses Wissensverständnisses angeschlossen (Weißeno/Detjen/Juchler/Massing/Richter, 2010; Autorengruppe Fachdidaktik, 2011; Sander, 2013c). Die mit dem Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung-Entwurf recht früh aufgenommene Kompetenzorientierung klingt in der Politikdidaktik inzwischen ab und wird, was ihre Wirkungen, Möglichkeiten und Grenzen anbelangt, im Fachdiskurs zunehmend auch kritisch gesehen (Sander, 2022).
5. Ausblick: politische Bildung über den Politikunterricht hinaus
Nur knapp kann hier abschließend angedeutet werden, dass der schulische Politikunterricht zwar ein zentrales, aber nicht das einzige Arbeitsfeld politischer Bildung in Deutschland ist. Für das Gesamtbild der politischen Bildung im deutschen Bildungssystem ist auch die außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung von erheblicher Bedeutung (dazu Hafeneger, 2011; Hufer/Lange, 2016). In der Schule muss politische Bildung über den Politikunterricht hinaus auch als Unterrichtsprinzip aller Fächer betrachtet werden, weil die Fragen und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens, um die es in der politischen Bildung geht, in vielfältiger Weise auch mit den Gegenstandsfelder der anderen Schulfächer verwoben sind (Deichmann/Tischner, 2014; Ammerer/Geelhaar/Palmstorfer, 2020). Nicht zuletzt der Religionsunterricht ist hier anzusprechen, der angesichts der im nationalen, europäischen und globalen Maßstab im frühen 21. Jahrhundert deutlich wieder zugenommen politischen Relevanz der Religion einen bedeutsamen Beitrag zur politischen Bildung zu leisten hat und sich als wichtiger Partner für fächerübergreifende Kooperation mit dem Politikunterricht verstehen sollte (Grümme/Sander, 2008; Juchler, 2009; Gärtner/Herbst, 2020).
Literaturverzeichnis
Hinweis: Teile dieses Beitrags wurden aus „Sander, Wolfgang, Politische Bildung, in: Merten, Gerhard (Hg. u.a.), Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Handbuch der Erziehungswissenschaft 2, Paderborn 2011, 84-95“ übernommen und aktualisiert.
- Autorengruppe Fachdidaktik, Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Schwalbach/Ts. 2016.
- Autorengruppe Fachdidaktik, Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift, Schwalbach/Ts. 2011.
- Deichmann, Carl/Tischner, Christian K. (Hg.), Handbuch Fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2014.
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- Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Schwalbach/Ts. 2004.
- Grümme, Bernd/Sander, Wolfgang, Von der „Vergegnung“ (Martin Buber) zum Dialog? Das Verhältnis von Religionspädagogik und Politikdidaktik, in: Theo-Web 7 (2008) 1, 143-157. Online unter: www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2008-01/11.pdf
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- May, Michael/Schattschneider, Jessica (Hg.), Klassiker der Politikdidaktik neu gelesen. Originale und Kommentar, Schwalbach/Ts. 2011.
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- Pohl, Kerstin, Politikdidaktik – eine interdisziplinäre Sozialwissenschaft, in: politische bildung 47 (2012) 3, 132-147.
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- Weißeno, Georg/Detjen, Joachim/Juchler, Ingo/Massing, Peter/Richter, Dagmar, Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell, Schwalbach/Ts. 2010.
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