Apokryphen (AT)
(erstellt: Mai 2007; letzte Änderung: Februar 2018)
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1. Definition
2. Die „apokryphen“ Schriften und ihr gemeinsamer Nenner
Bei den „Apokryphen“ handelt es sich um folgende Schriften der einzelnen Teile des biblischen Kanons :
1) Gesetzes- und Geschichtsbücher
- 3. Esra (in der Vulgata zusätzlich 4. Esra sowie die Zusätze 5./6. Esra; → Esra-Schriften, außerbiblisch
) - Zusätze zu → Ester
- → Judit
- → Tobit
- 1. und 2. (selten auch 3. [und 4.]) → Makkabäerbuch
2) Poetische Bücher
- (→ Oden
, darunter Oratio Manassis [kann auch alleine begegnen]) - → Sapientia Salomonis
- → Jesus Sirach
- (→ Psalmen Salomos
)
3) Prophetische Bücher
- → Baruch
- → Brief Jeremias
- Zusätze zu → Daniel
(nämlich die Erzählungen von → Susanna und Daniel [ZusDan 1 ], von Bel zu Babel, vom → Drachen zu Babel [ZusDan 2 ], das Gebet Asarjas und der Gesang der drei Männer im Feuerofen [ZusDan 3 ]).
Die „apokryphen“ Schriften sind vermutlich (je nach Eingrenzung zumindest überwiegend) jüdischen Ursprungs und im Zeitraum vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. entstanden. Daher besteht zwischen den ältesten dieser Bücher und den jüngsten Schriften und Fortschreibungen der „kanonischen“ Bücher der Hebräischen Bibel keine zeitliche Lücke.
Die „Apokryphen“ bieten „einen Einblick, wie zumal das palästinische, aber auch das in der ägyptischen und in der westasiatischen Diaspora lebende Judentum sich über seinen Glauben an seine göttliche Erwählung und die damit verbundene Verpflichtung auf den Gehorsam gegen die Tora oder Weisung seines Gottes in einer zunehmend hellenisierten Umwelt Rechenschaft ablegte und dabei die alten biblischen Themen einschließlich der seiner geschichtlichen Führungen und Fügungen neu durchbuchstabierte.“ (Kaiser, 8).
3. Die Bedeutung der „Apokryphen“
3.1. In der jüdischen Tradition
Die drei Teile der Hebräischen Bibel, 1. tôrāh „Gesetz“, 2. nəbî’îm „Propheten“, 3. kətûbîm „Schriften“ – aus deren Anfangsbuchstaben die Bezeichnung tnk, vokalisiert Tanak, gebildet ist – werden erstmals in Sir 39,1
Festzustehen scheint der Umfang der Sammlung der heiligen Schriften einschließlich des dritten Teils, der Schriften, jedoch erst gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr., denn 4Esr 14 weiß von 24 öffentlich zugänglichen Schriften und Josephus (Contra Apionem I,8; Text gr. und lat. Autoren
Die Zahl 24 ist dadurch zu erklären, dass 1./2. Samuelbuch, 1./2. Königsbuch, 1./2. Chronikbuch, Esra/Nehemia und die zwölf kleinen Propheten jeweils als ein Buch gerechnet werden. Auf 22 Bücher kommt man, wenn man entweder damit rechnet, dass zwei der Schriften nicht berücksichtigt wurden, oder wenn Rut in das Richterbuch einbezogen sowie die Klagelieder mit dem Jeremiabuch verbunden gedacht werden.
Dass es im Zeitraum des 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr. zu einem Abschluss einer autoritativen Schriftensammlung, insbesondere des dritten Teils, der Schriften, gekommen ist, braucht trotz weitergehender Diskussionen um einzelne Schriften, etwa → Prediger
„Gesetz“ und „Propheten“ lagen bereits in der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. fest, wie die Einordnung von Daniel (entstanden um 165 v. Chr.) unter die „Schriften” und der Umfang des sog. „Lobs der Väter“ in Sir 44-49 zeigt.
Bei der Herausbildung des Tanak war wohl von vornherein die Vorstellung vom Ende der Prophetie (Sach 13,2-6
Obwohl die „apokryphen“ Bücher nicht in die Hebräische Bibel aufgenommen wurden, stehen sie in gewissem Ansehen. Sirach wird sogar wie ein heiliges Buch behandelt: im Traktat Baba Qamma des Babylonischen Talmud begegnet Sir 27,9a
Man kann daher fragen, ob der Tanak die Reduktion einer ehemals umfangreicheren, die „Apokryphen“ mitenthaltenden Schriftensammlung darstellt. Doch zum einen ist die beliebte These abzulehnen, dass das rabbinische Judentum auf der Synode von Jamnia aus einer antichristlichen Tendenz heraus die Apokryphen ausgeschieden und den hebräischen Tanak verbindlich festgelegt habe. Denn der Mischna-Traktat Jadaim 3,5 (→ Mischna
3.2. In der frühen Kirche sowie in der römisch-katholischen und ostkirchlichen Tradition
Der Begriff „apokryph“ begegnet in sog. „Kanonverzeichnissen“ der Kirchenväter auf zweifache Weise. 1) Im Sinn der oben gegebenen Definition wendet z.B. → Hieronymus
Trotz dieser Unterscheidung zwischen im Tanak gesammelten und „draußen stehenden“ bzw. „apokryphen“ Büchern ziehen die Kirchenväter die nur im griechischen Alten Testament stehenden Bücher in der gleichen Dignität heran wie die Bücher des hebräischen Tanak, z.B. Tobit als „Schrift“ (so Origenes, Commentatio in epistula ad Romanos, XI,17), Sirach als „scriptura sancta“ (so Hieronymus, Epistula ad Julianum). Entsprechend werden die „apokryphen“ Bücher bereits in der Alten Kirche und zuletzt durch das Florentiner Unionskonzil 1442 sowie das Trienter Konzil auf seiner 4. Session vom 8.4.1546 (trotz Meinungsverschiedenheiten im Vorfeld) als kanonisch anerkannt. Ein Rangunterschied zwischen diesen Schriften und den auch im Tanak enthaltenen Büchern wird nicht festgehalten.
Ostkirche. Vergleichbar verfährt zunächst die Ostkirche. Jedoch werden die „Apokryphen“ zurückgedrängt: Eine Druckbibel von 1526 setzt die Apokryphen in einen gesonderten Teil, und 1629 lehnt der Patriarch von Konstantinopel die über den Tanak hinausgehenden Bücher ab. Die Synode von Konstantinopel beurteilt die „Apokryphen“ 1642 jedoch als nützlich und beizubehalten. Die Synode von Jerusalem 1672 nimmt nur die Bücher Tobit, Judit, Sirach und Sapientia Salomonis an. 1950 wird jedoch eine sämtliche „apokryphe“ Schriften enthaltende Bibelausgabe autorisiert.
3.3. In den reformatorischen Kirchen
Die reformatorischen Kirchen erkennen allein die im Tanak enthaltenen Bücher als kanonisch an. Dafür ist zum einen der humanistische Drang „ad fontes“ ausschlaggebend, zum anderen beruft man sich auf die Maxime „veritas Hebraica“ des Hieronymus. Wegweisend ist Karlstadts Schrift „De canonicis scripturis libellus“ (eine deutsche Popularversion lautet: „Weliche biecher Biblisch seind“) von 1520.
Lutherische Tradition. Luther gibt in seinen Bibelübersetzungen von 1534 und 1545 die „Apokryphen“ als Anhang an das Alte Testament bei. Die Überschrift formuliert er folgendermaßen: „Apocrypha: Das sind die Bücher: so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ In lutherischen Bekenntnisschriften sind keine Kanonverzeichnisse enthalten.
Reformierte Tradition. Ähnlich wie Luther verfährt zunächst die Züricher Bibelausgabe.
Später wird im Calvinismus jedoch gefordert, auf die „apokryphen“ Bücher in Bibelausgaben völlig zu verzichten. Entsprechend urteilen auch die Confessio Gallicana von 1559 und die Confessio Belgica von 1561. Letztere lautet in Artikel 6: „Wir machen ferner einen Unterschied zwischen diesen heiligen Büchern und denen, die man Apokryphen nennt, so dass die Kirche zwar die Apokryphen lesen und aus ihnen Beweise entnehmen kann in Dingen, welche mit den kanonischen Büchern übereinstimmen; aber sie haben keineswegs ein solches Ansehen und eine solche Kraft, dass nach ihrem Zeugnisse irgendein Satz des Glaubens oder der Religion der Christen sicher festgestellt werden kann, geschweige dass sie das Ansehen der andern entkräften oder verringern können.“
Anglikanische Tradition. Die Church of England formuliert im 6. der 39 Artikel von 1562: „Unter dem, was wir die Heilige Schrift nennen, verstehen wir diejenigen kanonischen Bücher des Alten und Neuen Testaments, an deren Autorität in der Kirche nie ein Zweifel gewesen ist. [Es folgt eine Aufzählung der Bücher des Alten Testaments ohne die Apokryphen.] Die übrigen Bücher liest zwar die Kirche, wie Hieronymus sagt, als Vorbilder für das Leben und als Sittenregeln, aber sie gebraucht dieselben nicht zum Beweise für Glaubenslehren. Es sind dies: [Es folgt die Aufzählung der „Apokryphen“ des Alten Testaments.] Alle Bücher des Neuen Testaments – so wie sie allgemein angenommen sind – nehmen wir an und betrachten sie als kanonisch.“ Haben die Bishop’s Bible von 1568 und die King James Version von 1611 die „Apokryphen“ zunächst in einem eigenen Teil und ohne Abwertung enthalten, werden diese im 17. Jh. aus den Bibelausgaben verdrängt.
Gegenwärtig ist die Situation nicht weniger verwickelt. Dabei begegnen im Protestantismus die „Apokryphen“ auf der einen Seite stets als eigene, von den übrigen biblischen Büchern gesonderte Gruppe. Auf der anderen Seite jedoch erscheinen sie durchaus in Bibelleseplänen und Perikopenordnungen (zumindest als Marginaltexte). Ebenfalls können sie in Kommentarreihen ausgelegt werden. Auch die aufkommende Bezeichnung als „deuterokanonisch“ (etwa Kaiser, 8) signalisiert ein versachlichteres, wertneutraleres Verständnis.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004 (Apokryphen; Bibel)
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff. (Apokryphen / Pseudepigraphen; Bibel)
2. Weitere Literatur
- Brandt, P., Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin / Wien 2001.
- Kaiser, O., Die alttestamentlichen Apokryphen. Eine Einleitung in Grundzügen, Gütersloh 2000.
- Kautzsch, E., Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2 Bde., Tübingen u.a. 1900.
- Rost, L., Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen einschließlich der großen Qumran-Handschriften, Heidelberg / Wiesbaden 3. Aufl. 1985.
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