Erkennen / Erkenntnis (AT)
(erstellt: März 2007)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/17640/
→ Einsicht (AT)
1. Allgemeines
Im Hebräischen wird das Erkennen durch die Wurzel ידע jd‛ zum Ausdruck gebracht, die im gesamten semitischen Sprachraum vorkommt. Im Alten Testament finden sich dafür 1068 Belege, hinzu kommen 51 aramäische Belege und 42 Belege im Sirachbuch. Statistisch gesehen gehört damit die Wurzel jd‛ zu den am häufigsten verwendeten hebräischen Vokabeln. Ihre Bedeutung lässt sich in die beiden Grundaspekte „erkennen“ und „wissen“ auseinanderlegen, ohne dass beide immer säuberlich voneinander zu trennen wären. Danach bezeichnet die hebräische Wurzel zum einen den prozessualen Erkenntnisvorgang und zum anderen sein resultatives Ziel.
1.1. Erkennen als prozessualer Vorgang
Der Weg, um zu einer Erkenntnis zu gelangen, lässt sich als ein äußerer und als ein innerer Erkenntnisakt beschreiben. Der äußere Erkenntnisakt nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer sinnlichen Wahrnehmung, die spontan oder beabsichtigt sein kann. Dem Erkennen geht darum häufig ein Sehen (Dtn 4,35
1.2. Erkenntnis als resultatives Ziel
Das Ziel, das durch den Erkenntnisakt verfolgt wird, besteht in der Gewinnung konkreter Erkenntnisse bzw. in der Aneignung von Wissen. Im Hebräischen wird auch dieser zweite Grundaspekt durch dieselbe Wurzel jd‛ bezeichnet. Das Fehlen einer sprachlichen Differenzierung zwischen dem Vorgang „erkennen“ und seinem Ergebnis „wissen / verstehen“ verdeutlicht nochmals ihren engen sachlichen Zusammenhang.
In weiten Teilen des Alten Testaments wird das Erreichen des Ziels als möglich und damit die Erkennbarkeit des jeweiligen Erkenntnisgegenstands als gegeben vorausgesetzt. Ob es freilich zu einer Erkenntnis kommt, hängt nicht nur an den sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, sondern auch an seinem Willen. Darum kann ein Nicht-Erkennen von Fall zu Fall als ein Nicht-Erkennen-Wollen und damit als eine Schuld des Menschen in den Blick rücken (Reiss, 75-88). In der deuteronomistischen Theologie findet dies ihren charakteristischen Ausdruck im Nicht-Hören-Wollen des Volkes Israel (1Sam 8,19
Im Alten Testament wird freilich auch gesehen, dass Gott am Zustandekommen oder Nicht-Zustandekommen von Erkenntnis beteiligt ist. Im negativen Fall bewirkt Gott eine Verhärtung des Herzens (Ex 7,3
1.3. Verbale Bedeutungsaspekte
1. ידע Qal. Das hebräische Verb ידע jāda‛ begegnet in allen Stammesmodifikationen. Die meisten Belege entfallen auf den Grundstamm, wobei sich folgende Bedeutungen unterscheiden lassen: (1) Je nachdem, ob jāda‛ den Erkenntnisvorgang oder den Wissensgewinn zum Ausdruck bringt, steht es mit den Verben בקשׁ biqqeš „suchen“, בחן bāchan „prüfen“, תור tûr „erforschen“ oder mit מצא māṣā’ „finden“ und בין bîn „verstehen“ zusammen. (2) Über den kognitiven Bereich hinaus kann jāda‛ den durch praktische Erfahrung erworbenen Sachverstand in den Blick nehmen und entsprechend das Sachkundig-Sein eines Kunsthandwerkers, Musikers, Jägers oder Seemanns aussagen (2Chr 2,6
2. ידע Hifil. Im Kausativstamm bedeutet jāda‛ „in Kenntnis setzen“, womit die Belehrung der Söhne durch die Väter ausgesagt werden kann (Dtn 4,9
1.4. Nominale Bedeutungsaspekte
Den resultativen Grundaspekt des Verbs vertritt die wichtigste, dem Infinitiv constructus im Grundstamm entsprechende Nominalbildung דעת da‛at „Erkenntnis / Wissen“. Das Alte Testament zählt 90 Belege, hinzu kommen 4 aramäische Belege und 9 Belege im Sirachbuch. Wie schon die verbalen Bedeutungsaspekte erkennen ließen, bedeutet Wissen mehr als eine rein intellektuelle Erkenntnis. Es teilt sich nicht allein durch den Verstand mit, sondern auch durch Lebenserfahrung. In der älteren Weisheit stehen darum חכמה chåkhmāh „Weisheit“ und דעת da‛at „Wissen“ gerne in einem Parallelismus membrorum (Spr 24,3-4
Unter den nominalen Derivaten verdient noch das mit der Endung -ôn gebildete ידעני jiddə‛onî „Wissender“ einen besonderen Hinweis. Denn im Alten Testament erscheinen sämtliche Belege (einschließlich Lev 20,27
2. Das Erkenntnisproblem in der Weisheit
Als Quellen der Erkenntnis gelten im Alten Testament allgemein (1) die Erfahrung, (2) die Tradition und (3) die Offenbarung. Dabei schöpft die Weisheit vor allem aus den Bereichen der Erfahrung und der Tradition, die insofern eng zusammengehören, als sich das überkommene Wissen als ein über Generationen verdichteter Schatz von Erfahrungen darstellt. Dagegen spielt die unmittelbare Offenbarung kaum eine Rolle. Und sie muss es auch nicht, weil die menschliche Erkenntnisfähigkeit in der biblischen Weisheit allgemein vorausgesetzt wird. Freilich lässt sich in der jüngeren Weisheit die Tendenz beobachten, dass das Gelingen von Erkenntnis stärker an die Gottesbeziehung gebunden und damit als ein Zusammenspiel von menschlichem Suchen und göttlichem Geben verstanden wird: „Die Jahwefurcht ist Anfang der Erkenntnis.“ (Spr 1,7
2.1. Der Prediger Salomo
Die Eigenart, mit der sich → Kohelet
Möchte man beim Prediger Salomo von einer empirischen Wende der biblischen Weisheit sprechen (Müllner, 149), lassen sich bei ihm die Grenzen der Erkenntnis durch die der menschlichen Erfahrung entzogene Zeit, durch den Tod und durch das Tun Gottes bestimmen. Dem Menschen bleiben das Vergangene (Pred 1,10
2.2. Das Buch Hiob
Das Erkenntnisproblem entzündet sich im Hiobbuch am → Tun-Ergehen-Zusammenhang
In der Diskussion wird darum auch und verschiedentlich die Erkennbarkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs angefragt, wobei sich jedoch rhetorische Strategie und Erkenntnisreflexion mischen (Hi 11,7-8
2.3. Die Paradieserzählung
Noch einmal von anderer Seite wird die Erkenntnisfrage in der biblischen Urgeschichte im zweiten Schöpfungsbericht beleuchtet (→ Paradieserzählung
Alternativen zur Deutung auf die sittliche Entscheidungskompetenz des Menschen sind: (1) Die sexuelle Deutung, die das Wissen um Gut und Böse auf das Entdecken von Freud und Leid der Liebe bezieht. (2) Die funktionale Deutung, die das Erkennen von Gut und Böse mit der freien Entscheidung darüber gleichsetzt, was dem Leben förderlich oder was ihm schädlich ist. (3) Die universale Deutung, die Gut und Böse als einen Merismus auslegt und dadurch die Erkenntnis als umfassendes göttliches Wissen bestimmt.
2.4. Jesus Sirach
Etwa 1-2 Generationen nach Kohelet wirkt der Weisheitslehrer Jesus Sirach / Ben Sira (Anfang 2. Jh. v. Chr.). Einflüsse des Hellenismus, die das Erkenntnisthema berühren, lassen sich bei ihm nachweisen: Er kennt das Reisen in fremde Länder als eine die Erfahrung bereichernde Erkenntnisquelle (Sir 39,4-5
(1) Gott hat den Menschen als Subjekt des Erkennens geschaffen: „Er bildete Zunge, Augen und Ohren und gab ihnen ein Herz, um zu verstehen. Mit Verstand und Erkenntnis erfüllte er sie und zeigte ihnen Gutes und Böses.“ (Sir 17,6-7
(2) Grundsätzlich ist der Mensch auch in der Lage, die Schöpfungswerke in der Natur zu erkennen, weil Gott sie nach ihren Zwecken in Harmonie und Schönheit geschaffen hat (Sir 42,15-25
(3) Bleibt dadurch der Abstand von Schöpfer und Geschöpf gewahrt und dem Menschen universale Erkenntnis entzogen, wird dieser Mangel hinreichend durch den im Gesetz offenbarten Gotteswillen kompensiert: „Begehrst du Weisheit, halte die Gebote, dann wird sie dir der Herr geben.“ (Sir 1,26
3. Der Erkenntnishorizont in der Apokalyptik
Während Jesus Sirach Gesetz und Weisheit zusammenführt, beschreitet die jüdische → Apokalyptik
Entsprechend lassen sich zwei Arten von Apokalypsen unterscheiden: Jenseits- oder Himmelsreisen, die Auskunft über die Topographie der sichtbaren und unsichtbaren Welt geben, und Geschichtsapokalypsen, die das Geschehen in der Endzeit erschließen. Auch hier konzentriert sich das apokalyptische Wissen nicht primär auf die empirische Geschichte als eines historischen Geschehens, sondern auf die Metahistorie, die den dahinter verborgenen Geschichtsplan Gottes enthüllt (Haag, 134f.).
Die einzige apokalyptische Schrift, die in den hebräischen Kanon gelangte, ist das → Danielbuch
4. Die Gotteserkenntnis im Alten Testament
An den zahlreichen Stellen im Alten Testament, an denen Gott das Objekt der Erkenntnis bildet, überwiegt der verbale Sprachgebrauch „Gott / Jahwe erkennen“. Wie nicht anders zu erwarten, bedeutet Gotteserkenntnis im biblischen Kontext mehr als den Erwerb eines intellektuellen Wissens um Gott. Erkenntnisziel ist auch und besonders ein angemessenes Gottesverhältnis sowie eine an ihm orientierte Lebenspraxis. Darum können zum Ausdruck des Erkenntnisvorgangs weitere Verben hinzutreten wie דרשׁ dāraš „(Gott) suchen“, ירא jāre’ „fürchten“, האמין hæ’ämîn „vertrauen“ und עבד ‛ābad „dienen“. Da der Gott Israels nicht an und für sich, sondern vielmehr in seinem Wirken an oder für jemanden erkannt wird, gewinnt die Gotteserkenntnis stets auch eine existentielle Dimension. Darum wird sie häufig mit der Forderung an das Volk Israel verknüpft, Jahwe als ihren Gott anzuerkennen. Trotzdem bleibt die Möglichkeit der Gotteserkenntnis nicht allein Israel vorbehalten, sondern steht auch den fremden Völkern offen (Jes 45,6
4.1. Das Buch Hosea
Folgt man der neueren Prophetenforschung, die für die Entstehung der Prophetenbücher jeweils einen längeren und komplexen Redaktions- und Fortschreibungsvorgang annehmen, lässt sich die Diskussion um die Gotteserkenntnis am Hoseabuch exemplarisch darstellen. Danach lassen sich vier Phasen der Reflexion und Identitätsbestimmung Jahwes nachzeichnen: (1) Erkenntnis Gottes in der Außen- und Innenpolitik Israels, (2) im israelitischen Kult, (3) in der Geschichte des Gottesvolkes und (4) im fertigen Prophetenbuch (Kratz, 3-18).
Die erste Phase gehört in die Zeit der assyrischen Bedrohung (8. Jh. v. Chr.), in der Israel versucht, sich durch politische Bündnisse gegen die Assyrer abzusichern: „Ephraim (= Israel) ist wie eine Taube, / leicht zu betören, ohne Verstand. Ägypten riefen sie / nach Assur liefen sie.“ (Hos 7,11
In der zweiten Phase reflektiert das Hoseabuch, dass Jahwe im israelitischen Kult noch immer unter seiner → Baal
Die Neuentdeckung Jahwes führt in der dritten Phase, die bereits auf den Untergang der Staaten Israel und Juda zurückschaut, zu einem Wiedererkennen und Identifizieren Jahwes in seinem geschichtlichen Handeln: „Ich bin Jahwe, dein Gott, / vom Lande Ägypten her. Ich lasse dich nochmals in Zelten wohnen / wie in den Tagen der (ersten) Begegnung.“ (Hos 12,10
Die vierte Phase setzt den literarischen Abschluss der Prophetenschrift voraus und überführt sie in eine weisheitliche Lebenslehre: „Wer weise ist, verstehe dies / wer verständig ist, erkenne es: Ja, gerade sind die Wege Jahwes / und die Gerechten wandeln auf ihnen, / aber die Frevler kommen auf ihnen zu Fall.“ (Hos 14,10
4.2. Die Priesterschrift
Innerhalb der → Priesterschrift
4.3. Das Buch Ezechiel
Welche herausragende Rolle die Gotteserkenntnis im → Ezechielbuch
In den weiteren Fällen, in denen die Erkenntnisformel in eine Heilsankündigung eingebunden ist, darf nicht übersehen werden, dass sie das inzwischen vollzogene Gericht voraussetzen (Ez 16,62
Die bereits apokalyptische Züge tragende Erzählung von → Gog
4.4. Das Deuteronomium
Im → Deuteronomium
Ergänzend zur Vergegenwärtigung der Geschichtstaten Jahwes in den Summarien erinnert das sog. → Deuteronomistische Geschichtswerk
4.5. Resümee
Im Alten Testament wird Gott nicht an und für sich erkannt, sondern in seinem Wirken an und für jemanden. Gotteserkenntnis umschließt darum immer auch ein existentielles Verhalten, das zur Anerkennung Gottes führt und in der Liebesforderung seinen angemessenen Ausdruck findet: „Du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5
Zusammenfassend lassen sich danach folgende erkenntnisleitende Momente unterscheiden. Gott wird erkannt: (1) An seinem Gericht, das er an seinem eigenen und den fremden Völkern vollstreckt; (2) an seinen Geschichtstaten, die in der Herausführung Israels aus Ägypten ihren paradigmatischen Ausdruck finden; (3) an seinen Zeichen und Wundern, durch die er seine Macht und Stärke der gesamten Völkerwelt offenbart; (4) an seinen Verheißungen und Worten, die ausnahmslos eintreffen; (5) an den Spuren seiner Weisheit, die sich in der schönen Ordnung der Welt finden lassen und auf ihn als den Schöpfer hinweisen; (6) an der Offenbarung seiner verborgenen Zukunft, die er durch spezielle apokalyptische Offenbarungsmittler ausrichten lässt und verbürgt (Sach 2,13
Umfassende Gotteserkenntnis kann der Mensch nicht erlangen. Hinter die Erkenntnisreflexion der späten Weisheit führt kein Weg zurück. Trotzdem wird sie im Alten Testament als eine eschatologische Hoffnung festgehalten; denn Gott wird in der künftigen Heilszeit seine Weisung in die Herzen der Menschen schreiben, so dass ihn alle erkennen und anerkennen (Jer 24,7
Literaturverzeichnis
Botterweck, G. J., 1982, Art. ידע II.-IV., ThWAT 3, 485-512
Fischer, A.A., 1997, Skepsis oder Furcht Gottes? Studien zur Komposition und Theologie des Buches Kohelet (BZAW 247), Berlin / New York
Haag, E., 2003, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr. (BE 9), Stuttgart
Kaiser, O., 2005, Weisheit für das Leben. Das Buch Jesus Sirach übersetzt und eingeleitet, Stuttgart
Kratz, R.G., 1997, Erkenntnis Gottes im Hoseabuch, ZThK 94, 1-24
Krüger, T., 2000, Kohelet (Prediger), (BK XIX Sonderband), Neukirchen-Vluyn
Lux, R., 1992, Die Weisen Israels. Meister der Sprache, Lehrer des Volkes, Quelle des Lebens, Leipzig
Müllner, I., 2006, Das hörende Herz. Weisheit in der hebräischen Bibel, Stuttgart
van Oorschot, J., 1994, Hiob 28: Die verborgene Weisheit und die Furcht Gottes als Überwindung einer generalisierten חכמה, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job (BEThL 114), Leuven, 183-201
Reiss, W., 1940-41, „Gott nicht Kennen“ im Alten Testament, ZAW 58, 70-98
Schottroff, W., 1984, Art. ידע jd‛ erkennen, THAT I, 4. Aufl., 682-701
Schellenberg, A., 2003, Erkenntnis als Problem. Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen (OBO 188), Freiburg, Schweiz / Göttingen
Wahl, O., 1995, Art. Erkennen, Erkenntnis II.1., LThK 3, 775-776
Wicke-Reuter, U., 2000, Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der Frühen Stoa (BZAW 298), Berlin / New York
Witte, M., 1998, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1-11,16 (BZAW 265), Berlin / New York
Wolff, H.W., 1984, Anthropologie des Alten Testaments, 4. Aufl., München
Zimmerli, W., 1963, Erkenntnis Gottes nach dem Buche Ezechiel (1954), in: ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze (TB 19), München, 41-119
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)