Deutsche Bibelgesellschaft

Objektive Hermeneutik

(erstellt: Februar 2018)

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1. Einführung

Die objektive Hermeneutik, auch strukturale Hermeneutik genannt, ist ein von Ulrich Oevermann und seinen Mitarbeitern entwickeltes interpretativ-rekonstruktives Verfahren (Oevermann/Allert/Konau/Krambeck, 1979), das darauf abzielt, die objektiven Bedeutungsstrukturen jenseits der subjektiv intendierten Sinngehalte herauszuarbeiten. Diese Intention hat sie gemeinsam mit anderen rekonstruktiven Verfahren der qualitativen Sozialforschung, etwa der dokumentarischen Methode (Bohnsack, 2013), der Narrationsanalyse (Schütze, 1982;1984) und der Grounded Theory (Strauss, 1996).

Gemeinsam ist diesen Verfahren, dass das zu untersuchende Praxis- und Handlungsfeld nicht als nach methodischen Regeln ,von außen‘ beobachtbares und vermessbares Feld von sozial strukturierten ,Gegebenheiten‘ betrachtet wird, sondern als eine ,kommunikativ verfasste Sphäre‘, die durch permanente Deutungen der Akteure konstituiert und verändert wird. Interpretativer Sozialforschung geht es um die Rekonstruktion von Beziehungen, Verhältnissen, Verbindungen, Bezügen. Man kann sagen: das Ziel interpretativer Sozialforschung ist es, die scheinbar festen Objekte in der sozialen Realität in Relationen aufzulösen (Kleining, 1982, 229). Würde der Strukturbegriff allerdings allein relational verstanden, so liefe das auf eine mechanistische und zweidimensionale Betrachtungsweise hinaus. Soziale Strukturen bauen sich entlang einer Zeitachse auf und sind dreidimensional. Erst aufgrund der zeitlichen (historischen) Dimension können sich Strukturen reproduzieren und transformieren (Reichertz, 1991, 224).

2. Zur Methodologie der objektiven Hermeneutik

Die objektive Hermeneutik stellt ein Verfahren dar, das in einem ersten Schritt die objektiv möglichen Handlungs- und Sinnoptionen sichtbar macht und danach jene Entscheidungen, die den Handlungsverlauf eines Falls charakterisieren. Dabei ist methodologisch von ganz entscheidender Bedeutung, dass zuerst die Vielfalt der möglichen Handlungs- und Sinnoptionen und damit das Allgemeine rekonstruiert wird, bevor das Besondere des Falls, die konkret vollzogenen Handlungsschritte des zu untersuchenden Subjekts analysiert werden.

Bevor das forschungspraktische Vorgehen dargestellt wird, müssen noch einige für das Verständnis der objektiven Hermeneutik wichtige methodologische Implikationen erörtert werden.

2.1. Intentionale und latente Sinnstrukturen

Wenn man eine Perspektive auf die Welt einnimmt, die sich über Sprache in eine präsente und eine repräsentierte Wirklichkeit aufteilt, so kann auch die soziale Praxis – als Sammelbegriff für alle Varianten sozialen Handelns – in eine Praxis im ‚Hier und Jetzt‘ und eine weitere Praxis unterschieden werden, die die je aktuelle Wirklichkeit überschreitet, indem sie gedanklich eine hypothetisch konstruierte Welt von Möglichkeiten generiert. Das ,erkennende‘ Subjekt kann also „durch begrifflich vermittelte Repräsentanz von Welt das unmittelbar gegebene Hier und Jetzt seiner Positionalität in der hypothetischen Konstruktion von Welt konzeptuell überschreiten und kontrastiv zum Gegebenen Möglichkeiten konstruieren und das jeweils Gegebene auf der Folie dieser Möglichkeiten kritisch abbilden" (Oevermann, 1996, 33). Die Konstruktion ‚hypothetischer Welten‘ vollzieht sich im sozialen Handeln nicht beliebig und es werden auch nicht jeweils ganz neue Welten erzeugt. Welche Optionen des Handelns vorliegen und welche Konsequenzen daraus folgen, darüber entscheidet nicht die Handlungspraxis, sondern darüber hat die ‚Welt der sozialen Regeln‘ bereits entschieden. Welche Optionen aber lebenspraktisch realisiert werden, das entscheidet nicht die Regel, sondern das handelnde Individuum (Wernet, 2000, 15). Die im sozialen Handeln konstruierten ‚hypothetischen Welten‘ sind aus dieser Perspektive unterschiedliche Ausdrucksgestalten von gesellschaftlich etablierten, latent wirkenden Sinnstrukturen und sozialen Deutungsmustern. Individuelles Handeln ist nur im Horizont gesellschaftlich konstituierter Sinnstrukturen möglich und prinzipiell intersubjektiv verstehbar. Der mental realisierte intentionale Sinn eines Subjekts stellt auf dieser Folie immer eine Auswahl einzelner Handlungsoptionen dar, die sich sinnlogisch auf vorhergehende beziehen und sich zugleich auf zukünftige ausrichten (Oevermann, 1991, 297f.; Fischer/Schöll, 1998, 27-31).

Sozialisierte Subjekte verfügen über ein Regelsystem, das ihrem sozialen Handeln in der Art eines latenten Sinnsystems unterlegt ist und in dem sie alltagspraktisch kompetent operieren. Dieses Regelsystem wurde qua Sozialisation erworben (Oevermann, 1979, 353).

Aus methodologischer Perspektive führen die bisherigen Ausführungen zu der Einsicht, dass die analytisch zu rekonstruierende Fallstruktur immer über die protokollierten Äußerungen eines Individuums hinausweist – das ergibt sich aus der Annahme der Unvermeidlichkeit kollektiv wirkender latenter Sinnmuster. Zugleich kann sie aber immer nur über das Individuum und seine protokollierten Äußerungen dargestellt werden. Es bedarf eines Analyse- und Interpretationsverfahrens, das es ermöglicht, von der Ebene des ‚je subjektiv gemeinten Sinns‘ auf die Ebene der ‚latenten allgemeinen Sinnstrukturen‘ vorzustoßen, also auf die sozialen, letztlich die gesellschaftlichen Bedingungen der Genese von sozialen Deutungsmustern, die den interviewten Menschen selbst nicht ohne weiteres zugänglich sind.

Auf der ersten Ebene bleibt ,Sinn‘ an die Perspektive und Intentionalität der jeweilig Handelnden gebunden. Untersuchungen, die auf dieser Ebene verfahren, geht es vor allem um die Herstellung von ,kommunikativer Validität‘: Die Forscherinnen und Forscher wollen verstehen, was die Interviewten ausdrücken wollten. So könnte man beispielsweise die Ergebnisse der Interpretation mit den interviewten Personen besprechen, um zu prüfen, ob sie sich richtig verstanden fühlen.

Auf der zweiten Ebene interessiert man sich dagegen nicht vorrangig dafür, was eine Person auszudrücken beabsichtigt, sondern dafür, was sie faktisch ausgedrückt hat: also für die ,protokollierte Spur‘, die sie hinterlässt. Der Gegenstand der Analyse sind ,Ausdrucksgestalten‘, die man protokollieren und lesen kann wie einen Text. Diese zweite Ebene sind die dem Individuum nicht notwendig bewussten Deutungs- und Handlungsstrukturen, die unabhängig davon wirksam sind, ob die handelnde Person um sie weiß oder nicht. In der Terminologie der objektiven Hermeneutik sind das die ‚latenten Sinnstrukturen‘.

2.2. Regelgeleitetheit sozialen Handelns

Die objektive Hermeneutik geht – das folgt aus den bisherigen Ausführungen – von der grundlegenden These aus, dass „jede wissenschaftlich begründete Analyse von Gegenständen in der sinnstrukturierten Welt … methodisch ihren Ausgang von der stringenten Auslegung der objektiven, latenten Sinnstruktur der Texte nehmen (muss), in denen die interessierenden Phänomene oder interessierenden Untersuchungsgegenstände protokolliert sind“ (Oevermann, 1986, 22). Weil der Fall eine objektive Bedeutung hat, kann es dafür eine Regel geben. Aus diesem Grund charakterisiert Oevermann seine Methode als ‚Explikation von Regeln in der Sprache des Falls‘, wobei die Regeln sich explizit als Fallstruktur darstellen (Schöll/Fischer, 1993, 25). Es bedarf eines gesicherten Wissens, sowohl zur Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen, die durch soziale Regeln generiert werden, als auch zur Begründung der Geltung dieser Rekonstruktionen. Zur Lösung dieses Problems werden in der objektiven Hermeneutik zwei Typen von Regeln analytisch unterschieden:

Zu dieser Kategorie von Regeln, die als bedeutungsgenerierende Regeln soziales Handeln mit Sinn ausstatten, gehören u.a. universal grammatische Regeln, logisches Schließen, Regeln der Moral, sofern darunter „ein Formalismus bzw. ein rekursiver Algorithmus der sozialen Kooperation und nicht ein Gebäude ethischer Prinzipien verstanden wird“ (Oevermann, 1986, 29). Das Regelgeleitet-Sein sozialen Handelns resultiert folglich „aus der objektiven Strukturiertheit von Sozialität ... eine Sozialität, in der sich Subjektivität und Bewußtsein allererst konstituieren“ (Oevermann, 1986, 29f.).

2. Davon unterscheiden sich Regeln vom Typ historisch spezifischer Normen mit unterschiedlicher Reichweite und Allgemeinheit. Sie sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Bei ihnen ist nicht nur die Rekonstruktion kritisierbar, sondern sie selbst können Gegenstand rationaler Kritik sein. Während universelle Regeln sich stets reproduzieren, kann die Kritik an Regeln des zweiten Typus zu Transformationsprozessen führen.

In Fallanalysen zur Religiosität von Jugendlichen zeigen sich Transformationsprozesse etwa in einem okkasionellen Modus der Aneignung von religiösem Sinn, der sich deutlich von bisherigen traditionellen Modi abhebt. Die Transformation von einem traditionellen in einen okkasionellen Modus kann als Folge und Teil der umfassenden gesellschaftlichen Individualisierung betrachtet werden (vgl. dazu → Jugend, Religion, 5.3).

Es versteht sich von selbst, dass universelle Regeln nie in empirisch reiner Form auftreten, sondern immer verwoben mit historisch-konkreten Gestalten. Die Explikation der Regeln erfolgt nicht über die Deduktion aus einer explanativen Theorie, sondern über die sukzessiv höhere Grade der Explikation annehmende Rekonstruktion von Regeln und Strukturen. Eine Struktur gilt als rekonstruiert, wenn mindestens eine Phase der Strukturreproduktion in einem Protokoll vollständig nachgezeichnet werden kann.

2.3. Zur Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit

Die methodisch angeleitete Rekonstruktion von Sinn ist auf die Vorlage textförmiger Protokolle angewiesen. Daraus zieht die objektive Hermeneutik den methodischen Nutzen eines streng immanenten Verfahrens und vermeidet von vornherein, Bedeutungen mittels externer Zuschreibungen zu analysieren. Texte in Form von Protokollen sind Kriterium für die Gültigkeit einer Interpretation, weil Angemessenheitsurteile nur am Text überprüft werden können. Dies wiederum erlaubt, an der These vom dialektischen Verhältnis von Ausdrucksgestalt (der Sprache) und Lebenspraxis (des sozialen Handelns) festzuhalten. Lebenspraxis wäre prinzipiell nicht offen, wenn ihr die Einsicht in die objektive Sinnstruktur ihrer gültigen Ausdrucksgestalt verwehrt wäre und damit auch der Weg zu ihrer zukunftsoffenen Selbsttransformation.

So wie sich im historischen Verständnis Vergangenheit als konkrete Wirklichkeit nicht wiederherstellen lässt, sondern nur die Bedeutungsstruktur der Spuren, die sie hinterlassen hat, können in der objektiven Hermeneutik Texte, die eine konkrete Praxis zeitenthoben protokollieren, in ihrer Bedeutung rekonstruiert werden. Dabei ist die Sinnstruktur Gegenstand der Rekonstruktion, nicht die zeitgebundene Praxis selbst (Oevermann, 1991, 297-302).

2.4. Zur Frage der Fallstruktur

Die Unterscheidung von objektivem und subjektiv gemeintem Sinn findet nun Eingang in das Verfahren der Textinterpretation: Es geht darum, die Differenz, d.h. das Verhältnis der beiden Ebenen von (a) latenter Sinnstruktur bzw. der objektiven Bedeutungsstruktur eines Textes und (b) der Bedeutungen, die vom Sprecher als intentionalem Sinn realisiert wird, zu erfassen. Diesen beiden Ebenen schließt sich eine dritte Ebene an. Sie betrifft die Fallstruktur. Die wird darin erkennbar, dass (a) das, was als ,latenter Sinn‘ in einer Äußerung zum Ausdruck kommt, sich an mehreren Stellen wiederholt; und sie wird (b) in dem Verhältnis deutlich, in dem der subjektiv gemeinte Sinn zur latenten Sinnstruktur steht (Przyborski/Wohlrab-Sahr, 2010, 247).

Das zeigt sich in mehrfacher Hinsicht:

  • Die Fallstruktur verdeutlicht uns, wie der Erzähler sich der Allgemeinheit der bedeutungsgenerierenden Regeln (s)einer Praxis und des durch sie eröffneten Spielraums bedient. Die Rekonstruktion der spezifischen Selektivität eines Falls rekurriert mithin auf die objektiven Bedingungen des Selektionsprozesses und damit auf Allgemeines.
  • Die durch die Selektionen der Erzählerinnen und Erzähler geformten fallspezifischen Verläufe repräsentieren jeweils eine konkret-individuelle Antwort auf eine allgemeine Problemstellung – eine Antwort, die zumindest Anspruch auf Begründbarkeit, wenn nicht gar auf allgemeine Geltung erhebt.
  • Schließlich drückt die fallspezifische Struktur immer auch eine exemplarische Realisierung eines einbettenden – mithin: allgemeineren – Milieus und dessen Regelsystem aus (Oevermann, 1991, 272).

Die objektive Hermeneutik rekonstruiert – unter der Prämisse einer möglichen Handlungsautonomie des Subjekts – latente Sinnstrukturen, die die Erfahrung, das Deuten und Handeln des Subjekts bestimmen, sowie jene ,Regeln‘, die die Erfahrungen und Deutungen in Handeln transformieren. Sie bezieht sich auf einzelne Textabschnitte einer Lebensgeschichte, analysiert also nicht die gesamte lebensgeschichtliche Erzählung. Unmittelbar geht es darum, den spezifischen Selektionsprozess (die Fallstruktur) freizulegen, der in der vom Interviewten vorgenommenen erzählenden Rekonstruktion zum Ausdruck kommt: Das Besondere eines Falls kann man sich nur vergegenwärtigen, wenn man die Handlungsoptionen mitbedenkt, die dem Interviewten auch möglich gewesen wären, aber vom/im ,konkreten Fall‘ nicht realisiert wurden.

3. Methodische Prämissen und Regeln

Aus diesen methodologischen Grundgedanken ergeben sich mehrere methodische Prämissen und Regeln:

3.1. Das Prinzip der Sequentialität

Texte müssen sequenziell interpretiert werden. Bei transkribierten Interviews ist zu fragen: Welches Ausdrucksproblem stellt sich der befragten Person bezüglich der Situation, von der er/sie erzählt, weil sich dort (seinerzeit) das Handlungsproblem gestellt hat? Was wäre an Ausdrucks- bzw. Handlungsoptionen prinzipiell gegeben gewesen? Und was hat die Person tatsächlich ausgedrückt/wie gehandelt und vor welcher Konsequenz für anschließende Ausdrucks- bzw. seinerzeitige Handlungsentscheidungen steht sie damit? Deswegen beginnt man den deutenden Nachvollzug strikt mit dem ersten Interakt, weil man davon ausgeht, dass gerade zu Beginn eines Interviews die Elemente der Fallstruktur und deren Lesarten in besonders verdichteter Weise auffindbar sind.

3.2. Gedankenexperimentelle Explikation von Lesarten

Damit ist auch die zweite Regel angesprochen: die gedankenexperimentelle Explikation von Lesarten. Man nähert sich dem Phänomen dadurch, dass man es zu anderen, gedankenexperimentell ermittelten möglichen Äußerungen/Handlungen in Beziehung setzt. Oder man unterlegt – im Sinne einer Hypothese – einen anderen Kontext, der (auch) zu dieser Äußerung/Handlung ein Passungsverhältnis eingeht. Die zu entwickelnden Lesarten gehen dabei bewusst spekulativ über das vorliegende Interviewprotokoll hinaus, gerade um das Protokoll über das differierende Vorgehen und vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten in seiner Eigenart besser verstehen zu können und sich nicht vorschnell durch das eigene Vorverständnis (Subsumtionslogik) leiten zu lassen.

3.3. Unterscheidung zwischen äußerem und inneren Kontext

Zwischen dem äußeren und inneren Kontext eines Falls muss strikt unterschieden werden. Der äußere Kontext dient zur Bildung von möglichst vielfältigen Lesarten. Insofern ist die objektive Hermeneutik nicht theorie- bzw. geschichtslos, da man sich über den sozialen, kulturellen und historischen Kontext kundig machen muss, in dem die Interviewtexte lokalisiert sind. Mit dem Fortschreiten der Fallanalyse geht es aber dann darum, die erzählte Geschichte als inneren Kontext selbst zu erhellen. Das sequenzielle Verfahren wird dem inneren Kontext eines Falles dadurch gerecht, dass die rekonstruierten Bedeutungen der jeweils vorausgehenden Interakte in den nachfolgend zu interpretierenden Interakten zu berücksichtigen sind, d.h. den neuen hinzugerechnet werden (müssen). Dadurch erst wird ein kumuliertes Wissen über den Fall erlangt, das zur Explikation einer vollständigen Fallstruktur beiträgt. Die Gültigkeit einer Fallstruktur ist durch den inneren Kontext getragen, der aber erst über den äußeren Kontext eruiert werden kann. Letzterer dient in diesem Verfahren zur Hypothesenbildung. Diese Hypothesen (Lesarten) können dann über die zu rekonstruierende Logik des inneren Kontextes des Falls gegebenenfalls falsifiziert werden. Über das gedankenexperimentelle Erstellen eines Horizonts möglicher Ausdrucks-/Handlungsalternativen können zudem die Randbedingungen der Entscheidungen und Handlungen stärker berücksichtigt werden.

3.4. Sparsamkeitsregel

Obwohl es um einen möglichst extensiven Interpretationsprozess geht, gilt auch die Sparsamkeitsregel. Diese besagt, dass nur solche Lesarten verwendet werden, die ohne Zusatzannahmen mit dem Text kompatibel sind. Sie bezieht sich auch auf das Erfinden von Umständen, die den Text motiviert haben könnten, aber keine adäquate Verbindung zu ihm aufzeigen. Die Sparsamkeitsregel soll die Interpreten auf den Text verpflichten (Wernet, 2000, 35).

3.5. Wörtlichkeit und Totalität

Das gilt auch für das Prinzip der Wörtlichkeit, denn „dem methodologischen Postulat der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit korrespondiert methodisch das Wörtlichkeitsprinzip“ (Wernet, 2000, 23). Auch jene Äußerungen in einer Textsequenz werden interpretiert, die auf den ersten Blick entweder als vernachlässigbar erscheinen oder die zu innertextlichen Widersprüchen führen. Der Text selbst markiert eine Differenz, ohne dass dazu irgendein Vorwissen in Anschlag gebracht werden muss. Etwa indem man Versprecher oder freud’sche Fehlleistungen im Interpretationsprozess vorab ‚korrigiert‘. Ein Text ist dazu in der Lage, sowohl seine Intention als auch die Abweichung davon zum Ausdruck zu bringen. Der Verzicht auf die wörtliche Interpretation würde nur jene Bedeutung offenlegen, die der offensichtlichen Intention des Textes entspricht. Die wörtliche Interpretation zielt dagegen auf latente Sinnschichten, die nicht mit der Intention des Textes übereinstimmen müssen. Das Wörtlichkeitsprinzip erlaubt erst einen direkten Zugang zur Differenz zwischen intentionalem Sinngehalt und latenter Sinnstruktur des Textes (Wernet, 2000, 24-26).

Mit dem Prinzip der Wörtlichkeit korrespondiert das Prinzip der Totalität, das besagt, dass eine Textsequenz vollständig, d.h. jedes Textelement auf seinen Sinn hin zu analysieren ist. Es geht darum, die innere Gesetzmäßigkeit eines Falles zu erschließen, und dazu gehören auch alle scheinbar ‚nicht passenden‘ Elemente. Sie müssen daraufhin analysiert werden, ob sie mit der bisherigen Interpretation stimmig sind oder dieser widersprechen (Przyborski/Wohlrab-Sahr, 2010, 254).

4. Interpretation der Eingangssequenz eines Interviews

Nachdem die Methodologie in ihrem Umriss und die wichtigsten methodischen Prämissen und Regeln dargestellt wurden, soll die Praxis des Verfahrens zumindest in Ansätzen vorgestellt werden. Die Analyse beginnt grundsätzlich mit dem Anfang eines Interviews bzw. des Protokolls einer Interaktion, da dort entscheidende Weichen für den weiteren Verlauf des Interviews gestellt werden und noch kein ‚innerer Kontext‘ vorliegt (Oevermann, 2000, 98). Als Beispiel einer Interpretation wurde deshalb der Beginn eines Interviews mit einer zum Zeitpunkt des Interviews 19-jährigen Jugendlichen ausgewählt (Schöll, 1993, 28-30).

I: So, jetzt geht’s los.

Was soll losgehen? Was kann – als mögliche Lesart – gemeint sein? Es kann der Beginn einer Urlaubsreise, der Start eines Rennens, der Beginn eines erwarteten Gewitters, eine Fernsehsendung, ein Gespräch oder eine andere beliebige Handlung sein, deren Beginn angekündigt wird. Der denkbaren Möglichkeiten wird es viele geben. Eindeutig ist der Bezug auf eine gegenwärtige, nicht vergangene Handlung und dass diese Handlung mit einem irgendwie gearteten ‚technischen‘ Verlauf in Verbindung gebracht wird. In Fragen von Beziehungen oder bei rituellen Anlässen wird man so nicht beginnen. Es wäre der Situation und dem Anlass nicht angemessen, wenn ein Pfarrer einen Gottesdienst oder der Gastgeber ein Festmahl mit diesen Worten beginnen würde. Wiederum der Situation angemessen wäre bei einem Festmahl, wenn der Gastgeber mit diesem Ausspruch das Signal zum Auftragen der Speisen an die Kellner geben würde.

Bereits im ersten Interakt wird deutlich, dass alle praktisch handelnden Menschen – und damit auch die Interpreten dieses Interviews – qua Sozialisation ein Wissen um die Angemessenheit von Regeln in unterschiedlichen Situationen erworben haben, mit denen sie alltagspraktisch kompetent operieren und diese auch angemessen zu rekonstruieren in der Lage sind.

I: Ich möchte Dich gerne fragen

Der zweite Akt grenzt die zunächst herangezogenen Lesarten ein. Die wahrscheinlichste Lesart ist der Beginn eines Gesprächs. Die Handlung, deren Beginn angekündigt wurde, ist eine Gesprächssituation, in der I. eine Frage stellt. Allerdings ist die Art des Gesprächs noch offen. Handelt ist sich um eine kurze Frage oder um den Beginn eines längeren Gesprächs? Eine kurze Frage kann bereits mit hoher Plausibilität ausgeschlossen werden, da sie normalerweise nie zusammen mit der Aussage des ersten Interakts eingeleitet wird (So, jetzt geht’s los).

Der/Die Angesprochene wird geduzt. Das wiederum eröffnet neue Lesarten: Entweder sind die beiden miteinander bekannt, vielleicht gleichaltrig, freundschaftlich, familiär oder milieuspezifisch miteinander in Verbindung. Oder aber der/die Gefragte ist noch so jung, dass er/sie von einem älteren I. geduzt wird.

Gibt es in diesem Interakt bereits Hinweise auf die Art des Gesprächs? In Alltagssituationen werden Fragen eher selten mit einer derartigen Rahmung eingeleitet, vielmehr wird zumeist eine Frage direkt gestellt, es sei denn, die Situation erfordert solche Vorkehrungen der Höflichkeit oder der vorsichtigen Annäherung.

Plausibler erscheint, dass die Sprecherin oder der Sprecher eine positiv besetzte Beziehung für ein längeres Gespräch herstellen möchte, das über die Vermittlung von Fakten hinausgeht. Darauf deutet das gerne im Anschluss an den ersten Interakt. Die Höflichkeitsform drückt eine Bitte aus. Die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner kann, muss aber nicht antworten, kann sich die Entscheidung der Akzeptanz der Situation oder des Themas vorbehalten, ihre Einwilligung geben oder sich verweigern. Die Situation ist offen.

I: nach deinen Erinnerungen

Der dritte Interakt grenzt die potentiellen Lesarten weiter ein. Es geht um ‚Erinnerungen‘ der befragten Person, um einen persönlichen Rückblick auf Erfahrungen in der Vergangenheit, vermutlich in der lebensgeschichtlichen Vergangenheit, zumindest um erinnerte Geschichten, an denen der oder die Gefragte selbst beteiligt war. So könnte ein aus dem aktiven Berufsleben ausgeschiedener Mensch gefragt werden, der an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt steht und im Rückblick die Konturen für Bedeutungszuschreibungen der Gegenwart sucht. Erinnerungen können auch als Interpretamente gegenwärtiger Problemstellungen herangezogen werden, etwa zur Aufklärung aktueller Probleme. Die Frage nach Erinnerungen unterstellt einen potentiellen Geltungsanspruch für die Gegenwart der Gesprächspartner; der persönliche individuell-biografische Zugang ist gefragt.

I: wo du mit Glaube, mit Religion, mit Kirche in Kontakt gekommen bist.

Eine weitere Eingrenzung möglicher Dimensionierungen der Erinnerungen wird vorgenommen. Glaube, Religion und Kirche sollen die Bezugspunkte sein, als Differenzierungen eines breiten Bedeutungsfeldes: Glaube als persönliches Merkmal, Religion als der allgemeine Begriff, der mit Personen und Ereignissen in Beziehung zu setzen ist, und Kirche als institutioneller bzw. gesellschaftlich verfasster Niederschlag von Religion. Man kann die Reihung auch anders interpretieren: Es werden drei nicht besonders trennscharfe Begriffe eines alltagspraktisch eng miteinander verwobenen Bedeutungshorizontes als Synonyme genannt, die der/dem Befragten die Möglichkeit der für sie/ihn zutreffenden Auswahl anheimstellen. Er kann selbst entscheiden, worauf eingegangen werden soll. Die Wendung in Kontakt gekommen verstärkt das Angebot einer losen Verknüpfung der Begriffe. Die befragte Person kann Kontakte eingegangen sein und diese auch wieder gelöst haben. Sie braucht nicht zwingend als ganze Person in die Sache des Glaubens, der Religion, der Kirche involviert gewesen sein. Damit werden im Text unterschiedliche Deutungshorizonte der drei Begriffe thematisiert, die der/dem Fragenden selbst nicht unbedingt bewusst sein müssen. Das wiederum hat den Vorteil, dass der/dem Befragten eine große Bandbreite in seinen Antwortmöglichkeiten zur Verfügung steht und sie/er selbst entscheiden kann, wo und wie sie/er mit seinen Erinnerungen beginnt.

Wir unterbrechen hier die Interpretation. Sie hat gezeigt, dass innerhalb weniger Interakte die zunächst zahlreichen Lesarten auf einige wenige eingeschränkt werden können. Die potentiell passenden und für den Fall gültigen Lesarten erschlossen zumindest einen Teil der latenten Sinnstruktur (die über die Interpretation weiterer Sequenzen erweitert wird), die Falsifikation der Lesarten durch die folgenden Interakte bildeten den konkreten Verlauf des Falls, hier der ersten Sequenz ab. Eine Interpretation ist nie abgeschlossen, es können bei Bedarf neue Lesarten und Begründungen und Plausibilisierungen von Lesarten hinzukommen bzw. Lesarten falsifiziert werden. In der Regel ist die Interpretation eines Interakts (vorläufig) abgeschlossen, wenn sie einen in Bezug auf die Forschungsfrage ausreichenden Sättigungsgrad erreicht hat.

Um diese erste Sequenz zu interpretieren, wurden keine Kontextinformationen verwendet und es wurden auch keine Informationen aus nachfolgenden Sequenzen des Textes herangezogen. Auf diese Weise wird das etwa bei der Inhaltsanalyse nicht gelöste Problem der Subsumtionslogik, nämlich die Zuordnung eines Textes unter vorab definierte Kategorien, mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik gültig gelöst.

5. Analyseschritte konkret

Die im Folgenden dargestellten Analyseschritte wurden in Forschungsprojekten praktisch erprobt (Schöll/Dressler/Feige/Elsenbast/Fischer/Klie/Stahlberg, 2000; Dressler/Feige/Fischer/Korsch/Schöll, 2017). In beiden Publikationen sind sowohl das Verfahren, als auch die Kurzfassungen der Fallanalysen, die Explikation allgemeiner theoretischer Zusammenhänge und einige Langfassungen dokumentiert. (Zu den folgenden fünf Analyseschritten Schöll/Dressler/Feige/Elsenbast/Fischer/Klie/Stahlberg, 2000, 51-54.)

5.1. Rekonstruktion der Fallstruktur und Formulierung einer Strukturhypothese

In der Regel beginnt man bei einem verschriftlichten Interview mit der ersten Sequenz. Zu dieser Sequenz werden möglichst viele und inhaltlich reichhaltige Lesarten erstellt. Zunächst auf dieses knappe Textelement beschränkt, stellt man sich gedankenexperimentell Situationen vor, in denen der interpretierte Satz hätte gesprochen werden oder zu denen er eine sinnvolle Aussage hätte machen können. Es werden solche (am Anfang zwangsläufig: viele) Lesarten produziert, die einen sinnvollen Bezug zur sozialen Realität herstellen und die vom Text der Sequenz sinnlogisch gedeckt werden. Je extensiver nun die Konstruktion von Lesarten vorgenommen wird, umso deutlicher werden der Kontext des interpretierten Satzes und die latent enthaltenen möglichen Handlungs- und Deutungsoptionen abbildbar. Als sequenziell ist dieses Verfahren deshalb zu bezeichnen, weil die Lesarten der jeweils unmittelbar anschließenden Sequenz die Lesarten der ersten Sequenz einschränken, da ja immer nur eine Handlungsoption in der sozialen Realität gewählt werden kann und diese vom Text zum Ausdruck gebracht wird. Durch diesen Prozess der sequenziellen Konstruktion von Lesarten, die mit dem Text kompatibel sind, und wegen der sukzessiven Einschränkung dieser potenziell möglichen Lesarten durch die sich anschließenden Textsequenzen und deren Lesarten wird sowohl das Allgemeine des Falls (die latente Sinnstruktur) als auch dessen Besonderung (die intentionale Sinnstruktur, nämlich die Entscheidung des Individuums jeweils eine unter mehreren sinnlogisch möglichen Handlungs- bzw. Ausdrucksoptionen realisiert zu haben) rekonstruiert.

Die Anfangssequenz wird so lange interpretiert, bis eine Fallstruktur herausgearbeitet ist, man den Fall also an der Charakteristik seiner Optionenrealisierung wiedererkennen kann. Diese Charakteristik wird als gehaltvolle Strukturhypothese formuliert. Nun können weitere Fragen an das Interview gestellt werden, die sich aus der Strukturhypothese ergeben. Erst dieses Vorgehen, das sich von der Fülle aller Informationen des Gesamtinterviews zunächst bewusst isoliert, gewährleistet, dass die Wahrnehmung des Erzählenden nicht bereits durch das Wissen um die gesamte Fülle der Einzelheiten und Besonderheiten überformt wird – nämlich nach Maßgabe der oft immanent bleibenden Relevanzkriterien der Interpretinnen und Interpreten. Vielmehr kann sich die Wahrnehmung voll auf die durch die sprachlichen Repräsentanten der Anfangssequenzen durchscheinende Fallstruktur konzentrieren. Und so wird bei korrektem Vorgehen eine Strukturhypothese erst dann formuliert, wenn weitere Analyseschritte erkennbar keine wesentlich neuen Aspekte zutage fördern.

Praktisch wird so verfahren, dass Interpretengruppen von je 3-5 Personen die Anfangssequenzen auf die beschriebene Weise interpretieren. In den Fällen, wo Interviewer auch Mitglied der Interpretengruppe sind, werden sie angehalten, keine Informationen aus der Kenntnis des Gesamtinterviews in die Gruppeninterpretation einfließen zu lassen.

Diese Interpretationssitzungen werden ebenfalls aufgezeichnet. Eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer erarbeitet anschließend aufgrund des Mitschnitts ein ausführliches, systematisiertes und mit zusätzlichen eigenen Überlegungen angereichertes Protokoll mit ausformulierter Strukturhypothese.

5.2. Rekonstruktion des Gesamtverlaufs

In der objektiven Hermeneutik geht es um die gültige Rekonstruktion der Allgemeinheit und Besonderheit einer Fallstruktur. Ist diese in einer Sequenz gefunden, kann an mehreren Textabschnitten eines Interviews deren Validität geprüft werden. Das ist insbesondere bei biografischen Interviews (sowohl bei Lebensgeschichten als auch berufsbiografischen Interviews) nicht ganz befriedigend, da man auch am Verlauf der gesamten Erzählung interessiert ist. Bei anderen Interviews können es unterschiedliche Themen, Gegenstandsbereiche oder Interaktionsverläufe sein, die für die weitere Analyse von Interesse sind.

Es hat sich unter diesem Aspekt als hilfreich herausgestellt, dass man in einer zweiten Phase der Auswertung das Gesamtinterview in Erzählsegmente gliedert und deren Relevanzabstufungen notiert. Erzählsegmente sind von Subsegmenten (solche von für die thematische Fokussierung nur nebensächlicher Bedeutung) und von supra-segmentalen Erzähleinheiten (solche, die auf den übergeordneten biografischen Erzählzusammenhang verweisen) zu unterscheiden (Schütze, 1984). Die Themenabschnitte werden extrahiert und einer extensiven Interpretation unterzogen, wobei zugleich die anfangs formulierte Strukturhypothese darauf überprüft wird, ob sie zu den Erkenntnissen aus den nachfolgenden Texten im Widerspruch oder eben im Einklang steht. Auf diese Weise werden die Ergebnisse der Strukturanalyse systematisch in der sich darstellenden Prozesslogik des Falls miteinander in Beziehung gesetzt, insoweit eben auch die Strukturhypothese ihrerseits die Interpretation der nachfolgenden Erzählsegmente kontrolliert.

Ziel dieser Analyse ist die Rekonstruktion von Verlaufsstrukturen. Im Fall von biografischen Interviews ist es die biografische Gesamtformung, d.h. die lebensgeschichtliche Abfolge der erfahrungsdominanten Prozessstrukturen in den einzelnen Lebensabschnitten, die erhoben wird. Besonderes Augenmerk wird auch auf Sprünge von narrativen zu berichtenden, evaluativen oder argumentierenden Darstellungsweisen gelegt, weil diese oft Indikatoren dafür sind, dass die Darstellung des vergangenen Geschehens brüchig wird, und weil sie auf Krisen, belastende Erfahrungen oder auch Transformationen in der Biografie der Befragten hinweisen.

Die in Erzählsegmente aufbereiteten Interviews werden sodann in einer erweiterten Interpretengruppe diskutiert und die Ergebnisse dieser Diskussion von den jeweiligen Verfasserinnen oder Verfassern in die Fallanalyse eingearbeitet.

5.3. Verfassen einer Fallanalyse anhand der Ergebnisse aus der Sequenz- und Erzählanalyse

Jetzt erst wird von je einer Verfasserin oder einem Verfasser die endgültige Fallanalyse erstellt. Sie ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird das zusammengefasste und überarbeitete Protokoll der ersten Sequenzanalyse einschließlich der Strukturhypothese dargestellt. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse des weiteren Interviewtextes anhand der zeitlich strukturierten Geschichte beschrieben. Im abschließenden dritten Teil werden die weiterführenden Erkenntnisse aus dem gesamten Interview mit der Strukturhypothese in Beziehung gesetzt und einer Validierung unterzogen. Diese findet dann in modifizierter Form Eingang in den dritten abschließenden Teil der Fallanalyse.

5.4. Zusammenfassung der Fallanalysen

Eine Fallanalyse hat in der Regel einen Umfang von 20-30 Seiten. Werden in einem Forschungsprojekt mehr als fünf Fallanalysen erstellt, so würden diese bereits den Umfang der meisten Publikationen sprengen. Es empfiehlt sich deshalb, die Fallanalysen nochmals in einem eigenen Arbeitsgang zu Kurzfassungen zu verdichten, die die bestimmenden Deutungsmuster und die Fallstruktur darstellen. Die Kurzfassungen lassen allerdings nur die bereits verdichtete Gestalt der Interpretationen erkennen, aber nicht den Hergang des methodisch aufwändigen Analyseverfahrens der ersten drei Schritte. Deshalb erscheint es sinnvoll, zumindest eine Fallanalyse als Langfassung zu dokumentieren.

5.5. Explikation allgemeiner theoretischer Zusammenhänge – Theoriegenerierung

Erst nach Abschluss der ersten vier Schritte werden in einem eigenen Arbeitsgang die Fallanalysen miteinander verglichen und Dimensionen identifiziert, in denen sich die Fälle zu einer Typologie ordnen lassen. Die verschiedenen theoretischen Kategorien werden systematisch aufeinander bezogen mit dem Ergebnis, dass je nach Untersuchungsfeld und Forschungsfrage verschiedene Prozessmodelle von Verläufen, Problembereichen und Bedingungszusammenhängen aufgezeigt werden. Die weitere theoretische Aufarbeitung kann diese Ausdrucksformen je nach Forschungsinteresse auf ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Milieukontexten, Reproduktions- und Transformationsbedingungen hin analysieren (Przyborski/Wohlrab-Sahr, 2010, 271).

Literaturverzeichnis

  • Becker-Lenz, Roland/Franzmann, Andreas/Jansen, Axel (Hg. u.a.), Die Methodenschule der Objektiven Hermeneutik. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2016.
  • Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michael (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 3. Aufl. 2013.
  • Dressler, Bernhard/Feige, Andreas/Fischer, Dietlind/Korsch, Dieter/Schöll, Albrecht, Innenansichten. Zum professionellen Umgang mit Religion im Pfarramt. 26 Qualitative Fallanalysen, Leipzig 2017.
  • Fischer, Dietlind/Schöll, Albrecht, Lebenspraxis und Religion. Fallanalysen zur subjektiven Religiosität von Jugendlichen, Gütersloh 2. Aufl. 1998.
  • Kleining, Gerhard, Umriss einer Methodologie qualitativer Sozialforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982) 2, 224-253.
  • Oevermann, Ulrich, Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Kraimer, Klaus (Hg.), Die Fallrekonstruktion, Frankfurt a. M. 2000, 58-153.
  • Oevermann, Ulrich, Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a. M. 1996, 70-182.
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