Emanzipation
(erstellt: Februar 2019)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Emanzipation.200375
Einleitung
Wenn es je eines Beweises für die Behauptung Hegels gebraucht hätte, dass jede Philosophie und damit alle philosophischen Begriffe ihre Zeit in Gedanken erfassen (Hegel, 1833, 19), dann ist es die Verwendung des Begriffs der Emanzipation in der Religionspädagogik. Ende der 1960er-Jahre fungierte er geradezu als Schlüsselterminus einer nach den theologischen und hermeneutischen Verkürzungen der → Evangelischen Unterweisung
50 Jahre später wird dieser Begriff in der Religionspädagogik kaum noch verwendet. Auch wenn im Selbstverständnis mancher Religionslehrkräfte noch darauf Bezug genommen wird (Feige/Tzeetzsch, 2005): Weder in neuen Handbüchern zur Religionsdidaktik noch zur Religionspädagogik findet sich im Register ein Stichwort oder in den einzelnen Texten eine nähere Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit (Hilger/Leimgruber, 2001; Kalloch/Leimgruber/Schwab, 2009; Rothgangel/Adam/Lachmann, 2012; Mendl, 2018; auch nicht in den thematisch es durchaus nahelegenden Ausführungen von Kunstmann, 2018). Allenfalls blickt die Religionspädagogik resümierend und vor allem historisierend auf ihre eigene Geschichte zurück (Zilleßen, 2001; Schröder, 2012). Man wird angesichts gegenwärtiger Debatten um die politische Dimension religiöser Bildung, um → Bildungsgerechtigkeit
Ist er aber damit obsolet geworden? Sind die Prozesse von Macht, von Subjektivierung von Selbststeuerung im Dienste fortwährender Optimierung des Selbst zu universal geworden, sodass etwa Gedanken der Emanzipation bei Studierenden gar nicht mehr aufkommen können, wenn „die Steuerungstechniken den Studienalltag bestimmen“ (Messerschmidt, 2013, 69)? Hat sich unter der Hand der Begriff der Emanzipation von einem Befreiungs- und Freiheitsbegriff zu einem Machtbegriff gewandelt, der im Muster hegemonialer Überformungen die Subjekte einer subtilen Fremdbestimmung aussetzt und von daher auch allen religionspädagogischen Maximen entgegenliefe? Oder birgt er für die Religionspädagogik gerade unter den Bedingungen zunehmender → Heterogenität
1. Begriffsgeschichte
Auch wenn man sich vor einem etymologischen Fehlschluss hüten muss, so enthüllt gleichwohl die Geschichte des Emanzipationsbegriffs bereits einen wesentlichen Teil seiner semantischen Bedeutung. Etymologisch stammt er aus dem römischen Recht und bezeichnet jenen Rechtsakt, in dem der Eigentümer etwas aus seiner Verfügungsgewalt entlässt. Dies gilt für Personen wie für Objekte, und zwar insbesondere auch dann, wenn hier der pater familias als Inhaber der souveränen potestas gesehen wird. In der verwickelten wie komplexen Geschichte des Begriffs sind aufs Ganze gesehen drei Entwicklungsstrukturen erkennbar: erstens die Prozessualisierung eines ursprünglichen punktuellen Rechtsaktes; zweitens die Ausweitung aus der Sphäre des Rechts in die der Gesellschaft, Kultur und Politik und drittens der Prozess der Selbstreflexivität, worin die → Subjekte
Emblematisch findet der Emanzipationsbegriff schließlich in den Postulaten der Aufklärung seine programmatische Verdichtung. Im Sapere aude bringt Kant dies in eine Formulierung, die bis in die Gegenwart den Emanzipationsbestrebungen Begriff und Orientierung gibt: Aufklärung sei „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen [...]. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ und deshalb im Kern – Emanzipation (Kant, 1783, 452). Was bei Herder, bei Humboldt, bei Hegel anthropologisch, sprachhermeneutisch und geschichtsteleologisch ausformuliert wird, gewinnt bei Marx dann materialistisch-revolutionäre Signatur als dem säkularisierten normativen Horizont der Gattungsgeschichte: „Die schlechten, korrumpierten Zustände, als die die sozialen Verhältnisse der Gegenwart im Sinne eines säkular verstandenen Sündenfalls gedeutet werden können, sollen durch eine Emanzipation überwunden werden, in der die Menschheit sich als eine Vereinigung assoziierter Produzenten von der Gewalt der Materie befreit“ (Honneth, 2009, 16). Ob Emanzipation der Sklaven, der Frauen, der Juden, ob Freisetzung der Bildung aus kirchlichen, ständischen und überhaupt obrigkeitlichen Bevormundungen, ob Abschaffung der Ausbeutung, ob politische und kulturelle Unterdrückung: Emanzipation wird ab dem 19. Jahrhundert zum normativen Orientierungshorizont aller Befreiungsbewegungen und zum gemeinsamen „Nenner für alle Forderungen, die auf Beseitigung rechtlicher, sozialer, politscher oder ökonomischer Ungleichheit zielten“ (Koselleck, 2010, 189; Hoff, 2016). Wird spätestens im Aufbruch der 1968-Bewegung, der Vietnamunruhen, der Studierendenrevolte, den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Wiederbewaffnung und Restauration dieser Emanzipationsbegriff im Zusammenhang mit einem neuerlichen Modernisierungsschub zum kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leitbild einer ganzen Epoche, in der sich unterschiedliche Emanzipationsbestrebungen auf regionaler, lokaler, nationaler wie auf globaler Ebene gegenseitig durchdringen und dynamisieren (Rickers/Schröder, 2010), so wird dieser auch wissenschaftlich wirksam. In seiner kritischen Reformulierung in Jürgen Habermas Theorie kommunikativen Handelns findet ein solcher Emanzipationsbegriff seine geschichtsphilosophische, soziologische und wissenschaftstheoretische Verdichtung, aus der heraus er in verschiedene Wissenschaften als hermeneutisches, wissenschaftstheoretisches wie normatives Grundgerüst hinein diffundiert (Habermas, 1981).
2. Emanzipation als wissenschaftlicher Leitbegriff
Exemplarisch soll in diesem Zusammenhang auf drei wissenschaftliche Rezeptionen näher eingegangen werden.
2.1. Politische Bildung
Aus dem fortschrittsoptimistischen Geist gesellschaftlicher Befreiung schossen Konzepte der Emanzipation durch politische Bildung in den 1960er-Jahren geradezu „wie Pilze aus dem Boden“ (Sutor, 1988, 51; Sander, 2003; Hufer, 2011). Sahen die einen, eher konservativ gestimmten Wissenschaftler darin eine ungebührliche Politisierung der Bildung und damit einen Rückfall in eine längst überholt geglaubte politische Instrumentalisierung, fungierte für andere nun die politische Bildung als Moment und Werkzeug der Demokratisierung, Befreiung und Partizipation auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft. Getreu der von Habermas entwickelten Interdependenz von Erkenntnis und Interesse versahen sich einschlägige Konzepte einer solchen Politischen Bildung mit einer bestimmten Option. Sie wurde parteilich, auch wenn Indoktrination und die grundsätzliche Aufhebung der Trennung von → Pädagogik
2.2. Pädagogik
Wiederum signifikant für die Relevanz der Kontextualität des Emanzipationsbegriffs ist der Umstand, dass dieser bis etwa 1965 im pädagogischen Diskurs nur selten wie marginal verwendet wurde, seine „explosionsartige Verbreitung“ jedoch sich ab 1970 zu Grundlinien einer emanzipatorischen Pädagogik verdichtete (Ruhloff, 2010, 283). Wegleitend war sicher Adornos → Erziehung
Mit dieser emanzipatorischen Ausrichtung will Mollenhauer drei Probleme des erziehungswissenschaftlichen Diskurses lösen: das prekäre Theorie-Praxis-Verhältnis, indem sich nun in der emanzipatorischen Pädagogik Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis durchdringen; das Normproblem, indem mit der Emanzipation die Pädagogik in einen übergreifenden und letztbegründeten Leithorizont gestellt wird und schließlich das Methodenproblem, indem durch diese ideologiekritische Rationalität Empirie und Hermeneutik kritisch-produktiv zusammengeführt sind (Ruhloff, 2010, 283-285; auch Ruhloff, 1980). Auch wenn Mollenhauer erkenntnistheoretisch seine Kriterien nicht durch eine utopische Ausmalung eines imaginierten Endzustandes vollendeter Emanzipation, sondern durch konkrete Negationen entfremdeter Wirklichkeit durch deren Konfrontation mit der kritisch-produktiven Kraft des Möglichen gewinnt, so will er dennoch dadurch „dem geschichtlichen Fortschritt“ pädagogisch eine „neue Chance“ geben (Mollenhauer, 1973, 69).
Mit diesem bestimmten Fortschrittsoptimismus wird Mollenhauer zum Exempel einer emanzipatorischen Pädagogik, die durch Erziehung selber emanzipatorische Prozesse anstoßen und in Gesellschaft, Politik und Bildung realisieren will. Sie verfolgt den Anspruch, „Menschen in Bildungsprozessen zum Durchschauen von Herrschaftsstrukturen zu befähigen und bei ihnen gezielt Prozesse der Selbstbestimmung in Gang zu setzen“ (Christof/Ribolits, 2013, 5), die selber auch die in pädagogischen Beziehungen performativ geltenden Machtverhältnisse kritisieren.
2.3. Religionspädagogik
Hat es Religion unter den Bedingungen von Aufklärung ohnehin schwer, so verschärft sich dies im normativ aufgeladenen Horizont von Emanzipation. Sich in einer Tradition und Institution zu verankern, die auf → Offenbarung
Vor diesem theologischen Hintergrund wie unter dem Eindruck der gesellschaftlichen wie vor allem pädagogischen Emanzipationsbestrebungen artikuliert sich in dieser Drift eine starke Strömung in der Religionspädagogik. Im Wesentlichen ist die Konturierung der Problemorientierung in deren Absetzung von Evangelischer Unterweisung, Kerygmatik und Hermeneutischem Religionsunterricht genau durch diese emanzipatorische Motivation gespeist. → Problemorientierter Religionsunterricht
- Neubestimmung der Lernziele (→ Lernen
), die in der Bezugnahme auf die Curriculumsdidaktik mit einer Abkehr von einer Fixierung auf Inhalte einhergeht; - Umstellung von einer reinen Vermittlungsdidaktik auf eine Aneignungsdidaktik;
- Veränderung des Lernbegriffs von einem vornehmlich behavioristischen Konzept zu einem stärker hermeneutisch-ideologiekritischen Lernen in der Orientierung an den Lebenswelten und Erfahrungen der Heranwachsenden, die nun didaktisch in ein relevantes dialogisch-kritisches Verhältnis zur Tradition gesetzt werden;
- mit dem Bewusstsein für die gesellschaftliche und politische Verwurzelung religiöser Bildung resultiert daraus eine Theorie-Praxis-Dialektik, durch die die religiösen Lernprozesse zugleich zur kritischen Analyse wie zur kritisch-produktiven Umgestaltung von Gesellschaft, Kirche und Politik aus dem Geiste der biblischen Überlieferung beitragen sollen;
- mit schwindender Akzeptanz konfessionell (→ Schule, konfessionell
) getrennten Lernens im Religionsunterricht die Umstellung von Glaube auf Religion als zentralen Gegenstand des → Religionsunterrichts , die Forderung nach der Loslösung des Religionsunterrichts aus seiner konfessionellen Bindung hin zu einem wertebezogenen Unterricht (Grewel, 1987) und schließlich nicht zuletzt die Trennung von Katechese und Religionsunterricht (Otto, 1975; Zilleßen, 1982; 2001; Mette, 2010; Knauth, 2010; Schlag, 2010b).
Solche Impulse für Kritik, Demokratisierung, Emanzipation und Partizipation aus der biblischen Tradition heraus wurden etwa vom katholischen Religionspädagogen Hubertus Halbfas auch im Bereich der katholischen Kirche dezidiert institutionenkritisch und sogar unter Bezug auf die performativ-ästhetischen Techniken zeitgenössischer Machtkritik in den Studierendenrevolten zur Geltung gebracht – bis hin zu gewaltfreien Aktionen und Hungerstreik (Halbfas, 1965; 1960; dazu Mette, 2010, 320-322). Siegfried Vierzig wendet als protestantischer Religionspädagoge eine solche kirchlich adressierte Institutionenkritik nach innen wie nach außen, verdeutlicht damit die politisch-emanzipatorische Relevanz der Kirche in Gesellschaft und Politik und markiert damit zugleich den emanzipatorischen Gehalt der biblischen Botschaft für die religiöse Bildung der Heranwachsenden: „Die Gesellschaft braucht den christlichen Glauben, denn von ihm gehen trotz aller Entartungen starke Impulse zur Befreiung des Menschen zu sich selbst aus. Aber es muss als Aufgabe aller, nicht nur der Christen angesehen werden, daß die emanzipatorischen Kräfte des Glaubens Wirksamkeit bekommen und nicht die Kräfte der Inhumanität, des Fanatismus und der Intoleranz. Alle Einsichtigen sollten den christlichen Glauben dort unterstützen, wo er sich für die Vorrangstellung des Menschen gegenüber allen Sachen einsetzt, wo er sich gegen die Einseitigkeit des reinen zweckrationalen Denkens wehrt und so eine Lanze bricht für die Freiheit des Menschen“ (Vierzig, 1972, 46f.; 1975; 1979).
Wie sich damit zeigt, schlägt sich der Emanzipationsbegriff in den konzeptionellen Selbstverständigungsprozessen der Religionspädagogik wissenschaftstheoretisch, didaktisch-methodisch und hermeneutisch nieder. Durch ihn werden Orientierungen an Religion, an Tradition und → Bibel
3. Kritik
Es mag sein, dass nach vierzig Jahren gegenwärtig massive Verständnishindernisse vorliegen, um überhaupt die Leidenschaftlichkeit, das Pathos und die Ernsthaftigkeit nachzuvollziehen, mit der der Religionsunterricht zu Mündigkeit und Emanzipation und politischen Deutung des eigenen Lebens beitragen wollte: „Hier hat historisches Wissen über das Scheitern kleiner und großer Utopien und emanzipatorischer Projekte z.T. eine Bewusstseinslage resignativer Skepsis erzeugt“ (Knauth, 2010, 307). Gewiss: der ungeheure Fortschrittsenthusiasmus der 1970er-Jahre ist neben der Einsicht in die Grenzen des Wachstums einer grundsätzlichen Skepsis in holistische, auf Fortschritt abstellende Konzepte gewichen. Der Kontext hat sich massiv gewandelt. Doch die Lage scheint komplizierter, die Kritik am Emanzipationsbegriff komplexer, die weit über das Feld der Religionspädagogik hinausreicht und sicher zu der eingangs skizzierten Absenz in gegenwärtigen Diskursen führt. Eine grobe Systematisierung kann drei Problembereiche identifizieren:
3.1. Didaktik
Nicht immer scheint in der Emanzipatorischen Religionspädagogik die Eigenlogik der Religionspädagogik und der → Didaktik
Bleibt nicht in der Ausrichtung auf Emanzipation religionspädagogisch insofern unterbestimmt, als ihr eine bildungstheoretische Grundierung fehlt, die nach den Beweggründen und der Zielsetzung fragt? Zwischen der Freisetzung aus undurchschauten Abhängigkeiten und der Befähigung zur Selbstbestimmung bleibt ein pädagogisch erheblicher Unterschied (Benner, 1994, 59-77; Ruhloff, 2010, 285). Religionspädagogisch würde dies bedeuten, die Fixierung auf Emanzipation aufzulösen und durch einen kritischen Rekurs auf Tradition korrelativ zu ergänzen. Tradition und Emanzipation stehen in einem wechselseitigen Begründungs- und Orientierungszusammenhang, der bildungstheoretisch nicht einseitig aufgelöst werden darf. Theologisch wird dies noch verschärft. Denn zu diesem Fundierungszusammenhang gehört zugleich, rechtfertigungs- und gnadentheologisch gesprochen, die vorlaufende Rückgründung auf Gottes erlösende und befreiende → Freiheit
3.2. Erkenntnistheoretischer Status des Emanzipationsbegriffs
Man braucht nicht in die relativistische Drift der postmodernen Negation großer Erzählungen verfallen, die inzwischen (in einem gewissen performativen Selbstwiderspruch) zu einem der Großnarrative des gegenwärtigen Diskurses geworden ist. Aber klar ist doch, dass unter den Bedingungen der Spätmoderne und des nachmetaphysischen Zeitalters ein Konzept wie das der Emanzipation nicht vertreten werden kann, wo es sich selber metaphysisch überhöht. Emanzipation als Ziel zu imaginieren, arbeitet mit ontologisierenden und essentialisierenden Effekten, die der endlichen Vernunft zu viel zutrauen. Emanzipation basiert auf der idealisierenden Vorstellung wahren und geglückten Menschseins und vollendeter Befreiung. Dies ist nicht nur deshalb problematisch, weil dies mit einem Universalismus einhergeht, der alles Partikulare vereinheitlichend übergeht und die Geschichte der Emanzipation undialektisch als ungebrochene Fortschrittsgeschichte auf das imaginierte Ziel der realisierten Emanzipation zu betrachten droht (Ruhloff, 2010, 287). Ein solcher idealistisch-metaphysischer Emanzipationsbegriff, der insinuiert, er wüsste bereits um das Ziel von Emanzipation, droht seine Ziele zu konterkarieren, indem er ein „Ideal des Humanen“ zeichnet, „auf das hin die Menschen dann zugerichtet werden oder sich selber zurichten sollen“ (Bröckling, 2017, 38). Nicht allein empirisch ist der Spätmoderne das ungebrochene Vertrauen in die Möglichkeiten humaner Befreiung abhandengekommen. Es ist überdies theologisch problematisch, sich diesem Emanzipationsoptimismus unirritiert durch die Opfer der Emanzipationsgeschichte zu überlassen. Und es ist nicht zuletzt pädagogisch nicht frei von Aporien, weil die „metaphysische Überhöhung von Emanzipation zur Bedingung von Wahrheitsansprüchen“ die Gegenwart „zugunsten einer vermeintlich real möglichen Zukunft zu entwerten, Illusionen zu nähren und das Bewusstsein zu verblenden“ droht (Ruhloff, 2010, 286).
3.3. Vernunft und Emanzipationsdiskurs
Genau darin scheint das Problematische der zugrundeliegenden Vernunftkonzeption auf. Eine solche Vernunft steht dann im Banne „ungebrochener Verfügungsrationalität“ (Zilleßen, 2001, 395), wenn sie sich unbeeindruckt von der Heterogenität der Kontexte und der Unbedingtheit des Anderen auf Emanzipation ausrichtet. Sie wird selbstwidersprüchlich, weil sie sich als eine an Emanzipation und Autonomie der Subjekte ausgerichtete Vernunft versteht, faktisch aber zu deren idealistischer Überformung beiträgt. Damit wird die Einsicht in die Grenzen der Vernunft erforderlich, die aber zugleich ihre eigenen Mechanismen selbstreflexiv analysiert. Insbesondere eine von Michel Foucault und Judith Butler her und durchaus Habermas-kritische und ambitionierte Diskursanalyse, die auf hegemoniale Strukturen, auf Subjektivierungsprozesse und performativ vollzogene Exklusionen aufmerksam macht, kann tiefgreifende Aporien im Emanzipationsdiskurs identifizieren. Einerseits sei dieser von einem „geradezu naiv anmutenden Glauben an eine überhistorische und unabhängig von den jeweils gegebenen Machtverhältnissen existierende Rationalität getragen“ (Ribolits, 2013, 24). Zum anderen sei der Autonomiegedanke bereits hegemonial so sehr unterwandert, dass die angezielte Subjektwerdung und Mündigkeit der Subjekte faktisch auf die Reproduktion des gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell dominanten unternehmerischen Selbst hinauslaufe. Autonomie und Kritik sind so gesehen als „avancierteste Form der Macht zu deuten“ (Masschelein, 2003, 130). Der Begriff eines emanzipierten Subjekts steht so bereits im Banne subjektivierender „Menschenregierungskünste“ (Bröckling, 2017, 3). Bildung droht im Banne der Subjektivierungsprozesse affirmativ zu werden und die Freiheit der Subjekte zu konterkarieren (Ricken, 2006; Bürger, 2013; Han, 2014). Mitverantwortlich hierfür aber ist – der Emanzipationsgedanke, jedenfalls solange er sich im Banne einer objektiv geltenden Vernünftigkeit artikuliert, wie wir dies bei Mollenhauer artikuliert gefunden haben. Dadurch bleibe, trotz aller Grundsatzkritik, diese emanzipatorische Kritik rein immanent und damit letztlich affirmativ. Emanzipatorische Pädagogik bindet sich damit an das herrschende System. „Unter dem Fokus, das gegebene Gesellschaftssystem überwinden zu wollen, ergäbe die Forderung, dass Bildung vernünftige Subjekte hervorbringen soll, nämlich nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es eine vom gesellschaftlichen Status quo unabhängige Rationalität gebe, die dem Menschen zugänglich sei und mittels der er sich der Logik des Systems kritisch gegenüberstellen könne“ (Ribolits, 2013, 29f.). Man kann damit sagen: Unversehens wird emanzipatorische Pädagogik nachgerade durch ihre Vernunft und ihren Diskurs aporetisch.
4. Kritische Wiedergewinnung und Perspektiven
Doch muss man wegen einer solchen Kritik, die neben dem didaktischen Arrangement ans Grundsätzliche geht, religionspädagogisch bereits „das Ende der Emanzipation“ ausrufen? (Ribolits, 2013, 23). Das wäre durchaus angebracht, wenn man die damit für die Religionspädagogik verbundenen Verluste kompensieren könnte, was freilich schwer fallen dürfte. Wie eingangs bemerkt, markiert immerhin der Emanzipationsbegriff erhebliche Desiderate in der Religionspädagogik. Wenn es um deren Ausrichtung auf Befreiung geht, wenn es um Mündigkeit und Autonomie als Ziel religiöser Bildung geht, wenn es um deren politische Dimensionierung geht, die sich gerade durch deren korrelative Verbindung mit ästhetisch-kulturhermeneutischen und kognitiv-reflexiven Momenten gegen die schlichte Politisierung schützt, (Grümme, 2009, 145-160; Könemann, 2016) bleibt der Emanzipationsbegriff unverzichtbar insbesondere für ein ambitioniertes Verständnis religiöser Bildung (→ Politische Religionspädagogik
Die → Ethik
Auch in anderen Wissenschaften wird gegenwärtig der Emanzipationsbegriff wiederentdeckt oder an seinem unausgeschöpften Potential festgehalten, allerdings unter der Voraussetzung seiner selbstreflexiv-kritischen Wiedergewinnung unter spätmodernen-nachmetaphysischen Bedingungen. In Teilen der Politikdidaktik wie in Teilen der Erziehungswissenschaft avanciert Emanzipation zu einem ihrer wesentlichen Ziele (Greco/Lange, 2017; Messerschmidt, 2013). Diese können sich berufen auf Entwürfe der Sozialphilosophie, die sich in integraler Weise auf Emanzipation als Ziel gesellschaftlicher Prozesse ausrichten (Jaeggi/Celikates, 2017). Allerdings setzt dies voraus, dass dieser Emanzipationsbegriff in der Auseinandersetzung mit seiner Kritik neu gewonnen wird. Dazu gehören drei Bedingungen:
- 1.er muss nachmetaphysisch reformuliert werden;
- 2.er muss sich seiner Kontextualität selbstkritisch bewusst werden;
- 3.er muss seine diskursiven Konstruktionsmechanismen selbstreflexiv-kritisch bedenken.
Inwieweit hierfür eine alteritätstheoretisch fundierte, heterogenitätssensible Religionspädagogik prädestiniert ist, kann hier nicht mehr gezeigt werden (Grümme, 2017) – und ebenso wenig, wie dies nun unter den genannten Bedingungen in Verknüpfung mit einzelnen biblischen und theologischen Traditionen durchgespielt werden könnte. Aber es kann hier wenigstens angedeutet werden, inwieweit damit in materialer wie in formaler Hinsicht der Emanzipationsbegriff integraler Bestandteil der Religionspädagogik wird: material, insofern religiöse Lernprozesse die emanzipatorische Pointe der biblischen Botschaft markieren und zum Lerngegenstand des Religionsunterrichts werden lassen; formal, indem diese Lernprozesse selber freisetzenden Charakter haben müssen in einer als „Sprachschule für die Freiheit“ (Lange, 1980) begriffenen religiösen Bildung, um nicht die eigenen Ziele zu konterkarieren. Dadurch könnte er wesentlicher Bestandteil der religiösen Bildung in Katechese bzw. Gemeindepädagogik (→ Katechese/Katechetik
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- Vierzig, Siegfried, Christentum und Emanzipation, in: Offele, Wolfgang (Hg.), Emanzipation und Religionspädagogik, Einsiedeln/Köln/Zürich 1972, 39-48.
- Zilleßen, Dietrich, Art.: Emanzipation, in: Lexikon der Religionspädagogik (2001), 394-401.
- Zilleßen, Dietrich, Emanzipation und Religion, Frankfurt a. M. 1982.
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