Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: März 2019)

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1. Kirchliche Beauftragung von Religionslehrern- und -lehrerinnen

Vocatio oder Vokation (von lat. vocare: rufen) bezeichnet seit ca. 1945 als Fachausdruck die Berufung von Lehrerinnen und Lehrern zur Erteilung von evangelischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen durch die zuständige Religionsgemeinschaft bzw. Kirche (ähnlich der missio canonica: kirchliche Sendung für die Erteilung von katholischem Religionsunterricht, CIC, 1983, c.805). In den landeskirchlichen Regelungen changieren dabei die Bezeichnungen: Kirchliche Bevollmächtigung, kirchliche Beauftragung, kirchliche Bestätigung, kirchliche Unterrichtserlaubnis, Vocatio oder Vokation.

Dass Religionslehrerinnen und -lehrer neben den staatlichen Ausbildungs- und Anstellungsvoraussetzungen für das Lehramt zusätzlich die kirchliche Vocatio benötigen, hat seinen Grund in der doppelten Zuständigkeit von Staat und Religionsgemeinschaften für den Religionsunterricht (res mixta). Gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ist er an allen öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach (→ Religionsunterricht, Recht). Das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates beschränkt seine Zuständigkeit dabei auf die Einordnung des Religionsunterrichts in die Schulorganisation, den Lehrplan sowie die Ausbildung und die Dienstaufsicht über die Lehrkräfte. Für die Inhalte des Unterrichts dagegen sind die Religionsgemeinschaften zuständig: „Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ (Art. 7 Abs. 3 GG).

Die Vocatio schließt daher auf Seiten der Lehrkräfte die Versicherung ein, den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Kirche zu erteilen, die sie beruft. Die grundgesetzliche Formulierung „Grundsätze der Religionsgemeinschaft“ bezeichnet dabei nicht lediglich den Kanon von Bekenntnisschriften oder Lehrsätzen einer Religionsgemeinschaft bzw. Kirche. Vielmehr ist damit ein grundlegendes hermeneutisches Prinzip für die Erteilung des Religionsunterrichts gemeint, das einen „weiten und an das Gewissen der einzelnen Religionslehrkraft orientierten Rahmen für die Praxis des Religionsunterrichts“ einschließt (Schröder, 2012, 577).

Die Kirchen verpflichtet die Vokation zur Unterstützung und Begleitung der Religionslehrkräfte durch geeignete Beratungs- und Fortbildungsangebote, für die sie vom Staat anerkannte Pädagogische Institute unterhalten. Dieser unterstützende Aspekt der Vokation steht gegenüber dem Recht zur Einsichtnahme in den Religionsunterricht im Vordergrund. Dieses Recht darf nicht mit der allein dem Staat zustehenden Schulaufsicht verwechselt werden: Dem Einsichtsrecht der Religionsgemeinschaften fehlt Weisungsrecht und Disziplinargewalt über die Religionslehrkräfte. Die Religionsgemeinschaften können lediglich gegenüber der Schulaufsicht Beanstandungen vorbringen, selbst aber nicht korrigierend eingreifen. Im Fall erfolgloser Beanstandung haben sie freilich die Möglichkeit, die Vokation zu entziehen und die betreffende Lehrkraft von der Erteilung des Religionsunterrichts auszuschließen.

Der Religionsunterricht ist zwar ordentliches Unterrichtsfach und insofern den anderen Pflichtfächern gleichgestellt. Die Teilnahme am Religionsunterricht ist aber aufgrund des Grundrechts der Religionsfreiheit in die freie Entscheidung der erziehungsberechtigten Eltern, der religionsmündigen Schüler und Schülerinnen bzw. in die freie Entschließung der Lehrerinnen und Lehrer gestellt, die nicht gegen ihren Willen dienstlich zur Erteilung von Religionsunterricht verpflichtet werden dürfen bzw. die Vokation widerrufen können, wenn sie in Wahrnehmung ihres Rechtes auf Religionsfreiheit nicht mehr Religionsunterricht erteilen wollen (Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“; Art. 7 Abs. 3 GG: „[...] Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen“).

Der Aspekt der Kontrolle der Übereinstimmung mit den „Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ hat immer wieder kritische Rückfragen an die Vocatio und deren Praxis ausgelöst. So hat beispielsweise Gert Otto den verpflichtenden Charakter der Vokation zugunsten eines „freiwilligen Angebots der Kirche“ an die Lehrkräfte abgelehnt: Die Vokation habe „ihr Recht und ihre Bedeutung auf personaler Ebene, nicht auf institutioneller“ (Otto, 1968, 61).

Auch in einzelnen Kirchen überwogen zunächst die Bedenken. So haben die evangelischen Kirchen in Niedersachsen auf die durch den Staatskirchenvertrag 1955 eröffnete Möglichkeit einer Vocatio zunächst verzichtet, um den Eindruck einer Wiederbelebung der geistlichen Schulaufsicht aus der Zeit vor 1919 zu vermeiden.

2. Rechtliche Regelungen in den Gliedkirchen der EKD

Zwischenzeitlich existieren in allen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland rechtliche Regelungen zur Vocatio, meist im Rahmen von Rechtsverordnungen, in Bayern und Niedersachsen im Rahmen von Kirchengesetzen.

2.1. Gemeinsame Regelungen

Ihnen gemeinsam sind folgende Bestimmungen als Voraussetzung für die Erlangung einer Vokation:

  • Mitgliedschaft in der für die Vocatio zuständigen Kirche oder einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland,
  • Regelungen für die Mitglieder einer Evangelischen Freikirche,
  • abgeschlossene staatliche Ausbildung zum Lehramt mit Lehrbefähigung für das Fach Evangelische Religion,
  • oder: entsprechende Zusatzqualifikation durch Weiterbildungsangebote der Kirchen,
  • Erklärung der Bereitschaft, den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der berufenden Kirche zu erteilen,
  • Teilnahme an einer Vokationstagung, in der Regel mit anschließender Überreichung der Vokationsurkunde im Rahmen eines Gottesdienstes.

In allen Ordnungen wird ausdrücklich das gegenseitige Verpflichtungs- und Vertrauensverhältnis zwischen den berufenen Lehrerinnen und Lehrern und der zuständigen Kirche festgestellt, das einerseits die erklärte Bereitschaft der berufenden Kirche enthält, für die Anliegen der Lehrkräfte gegenüber kirchlichen und staatlichen Stellen und in der Öffentlichkeit einzutreten sowie fachliche Fortbildung zu fördern und das andererseits die Verpflichtung der Lehrkräfte einschließt, die Übereinstimmung mit den Grundsätzen der berufenden Landeskirche im Religionsunterricht zu wahren.

Alle Ordnungen unterscheiden mit Bezug auf die praktische Ausbildung im Vorbereitungsdienst oder mit Bezug auf eine zusätzliche Qualifizierung durch Weiterbildungsmaßnahmen befristete, vorläufige und dauerhafte Berufungen.

In allen Ordnungen sind Regelungen für die Aberkennung bzw. Beendigung der Rechte aus der Vocatio enthalten. Die zuständige Landeskirche kann die Vokationsrechte widerrufen, wenn sie zu dem begründeten Urteil kommt, dass die Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen nicht (mehr) gegeben ist. Die Berufung wird unwirksam, wenn Lehrkräfte nicht mehr bereit sind Religionsunterricht zu erteilen oder sie ihre Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche beenden.

2.2. Besondere Regelungen

Besondere Regelungen enthalten die Vokationsordnungen

  • in der Evangelischen Kirche Anhalts:

Zusätzliche Voraussetzung der Vokation ist eine schriftliche Erklärung der Lehrkraft, „[...] die die Motivation zur Erteilung von Religionsunterricht erkennen lässt“ (Vokationsordnung § 5,2).

  • in der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg:

Zusätzlich ist bei der Beantragung der Vokation eine Teilnahmebescheinigung „an Pflichtveranstaltungen des Programms zur ‚Kirchlichen Begleitung von Lehramtsstudierenden im Fach Evangelische Theologie/Religionspädagogik‘“ vorzulegen (Vokationsordnung Baden, § 2,5; Kirchliche Verordnung Württemberg, § 2,1).

  • in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern:

Die Vokation bezieht sich ausdrücklich auf den kirchliche Verkündigungsauftrag: „Lehrkräfte für den evangelischen Religionsunterricht nehmen am Verkündigungsauftrag der Kirche [...] teil, auch wenn sie nicht in einem kirchlichen Dienst- oder Arbeitsverhältnis stehen“ (Kirchengesetz Bayern, § 1). Entsprechend berechtigt die Vokation zur „Wortverkündigung bei Andachten und Schulgottesdiensten“ und schließt die seelsorgerliche Verantwortung der Lehrkräfte ein (Kirchengesetz Bayern § 4). Zusätzlich zu den üblichen Voraussetzungen wird ein Nachweis der Teilnahme an einem schulformbezogenen homiletisch-liturgischen Ausbildungsmodul verlangt (Kirchengesetz Bayern, § 2).

  • in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:

Zusätzlich zu den üblichen Voraussetzungen wird eine einjährige Unterrichtspraxis im Religionsunterricht sowie der Unterrichtsbesuch durch einen kirchlichen Beauftragten und dessen positives Votum verlangt (Rechtsordnung, § 2,5).

  • in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland:

Im Land Schleswig-Holstein:

Die „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ wird durch die Beteiligung von kirchlichen Bevollmächtigten bei den Abschlussexamina festgestellt, die die Unterrichtsbevollmächtigung am Examenstag überreichen.

  • in der Hansestadt Hamburg:

Eine Vokation erfolgt nicht. Voraussetzung für die Erteilung des Religionsunterrichts ist neben der staatlichen Lehrbefähigung lediglich die Mitgliedschaft in der Nordkirche oder einer Mitgliedskirche der „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen“.

  • in Mecklenburg-Vorpommern:

Zusätzliche Voraussetzung der Vokation ist der Nachweis eines Gesprächs mit dem zuständigen Probst oder der Pröbstin.

  • in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland sowie der Evangelischen Kirche in Württemberg:

Mit der Vokation verbunden ist die Beauftragung zur Vorbereitung und Durchführung von Schulgottesdiensten (Ordnung Hessen-Nassau, §1,7; Verordnung Mitteldeutschland, §4,2; Kirchliche Verordnung Württemberg, §1).

3. Wechselseitige Anerkennung und Ausblick

Die Gliedkirchen der EKD haben in 2010 eine „Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung der Vocatio“ beschlossen (EKD, 2011, 61), die bei im Detail unterschiedlichen rechtlichen Bestimmungen die wechselseitige Anerkennung der Vokation ermöglicht. Die wechselseitige Anerkennung gilt dabei auch für die nach einer kirchlichen Weiterbildung erlangte Vocatio. Ein Wechsel des Bundeslandes ist daher unproblematisch, eine gliedkirchenübergreifende Vereinheitlichung der rechtlichen Vokationsregelungen keine vordringliche Aufgabe.

Angesichts der erheblichen Veränderungen der Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts (Teilnahme von konfessionslosen Schülerinnen und Schülern, nachlassende religiöse Sozialisation der Schülerschaft, Weiterentwicklung der religiös-weltanschaulichen Vielfalt) gewinnt neben der Weiterentwicklung der konfessionellen Kooperation und der Entwicklung geeigneter Formen interreligiösen Dialogs unter Beibehaltung der Konfessionsbestimmtheit des Religionsunterrichts insbesondere die Fokussierung der Vokation auf den Aspekt der Begleitung und Unterstützung der Religionslehrerinnen und -lehrer weiterhin zunehmende Bedeutung. Dies gilt nicht zuletzt für unterstützende Angebote zur Bewältigung ihrer eigenen Rolle bei der Bewältigung der aus der komplexen Grundsituation des Religionsunterrichts resultierenden Anforderungen.

Literaturverzeichnis

  • Bauerdorff, Harald/Ennuschat, Jörg/Bewersdorff, Harald, Art. Vokation, in: Mette, Norbert/Richers, Folkert (Hg.), Lexikon Religionspädagogik II (2000), 2178-2181.
  • Becker, Stefanie, Die Rechtsstellung des evangelischen Religionslehrers in der öffentlichen Schule am Beispiel der Evangelischen Landeskirche in Baden, o.O. 2011.
  • Campenhausen, Axel F. von, Staatskirchenrecht, München 1973.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung der Vocatio durch die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland 11 (2011) 3, 61f. Online unter: http://kirchenrecht-ekd.de/kabl/17867.pdf#page=5, abgerufen am 22.05.2018.
  • Kirchengesetz der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern über die kirchliche Bevollmächtigung zur Erteilung von Religionsunterricht, 2002. Online unter: http://www.ev-theologie.uni-wuerzburg.de/fileadmin/06070200/Vocatio/kirchengesetz.pdf, abgerufen am 22.05.2018.
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  • Kirchliche Verordnung der Evangelischen Kirche in Württemberg über die Bevollmächtigung zur Erteilung von Religionsunterricht an den Schulen, 1990. Online unter: http://www.kirchenrecht-ekwue.de/document/17849, abgerufen am 22.05.2018.
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  • Otte, Matthias, Rechtsfragen und Praxis der Vokation im Kontext aktueller Herausforderungen des Religionsunterrichts. Referat auf der Kirchenjuristentagung am 24. Juni 1998 in Stapellage, Stapellage 1998.
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  • Rechtsverordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-oberschlesische Lausitz über die kirchliche Bevollmächtigung (Vokation) zur Erteilung von Evangelischem Religionsunterricht (Vokationsordnung), 2012. Online unter: http://www.kirchenrecht-ekbo.de/document/2364, abgerufen am 22.05.2018.
  • Rothgangel, Martin/Schröder, Bernd (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 2009.
  • Schröder, Bernd, Religionspädagogik, Tübingen 2012.
  • Timmer, Rainer, Vocatio: Verpflichtung und Vertrauen. Die kirchliche Bevollmächtigung von Religionslehrerinnen und -lehrern, in: Ceylan, Rauf/Sajak, Clauß P. (Hg.), Freiheit der Forschung und Lehre?, Wiesbaden 2017, 191-215.
  • Verordnung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland für die kirchliche Bevollmächtigung zur Erteilung des Evangelischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, 2015. Online unter: http://www.kirchenrecht-ekm.de/pdf/33942.pdf, abgerufen am 22.05.2018.
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