Performativer Religionsunterricht, katholisch
(erstellt: Februar 2019)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Performativer_Religionsunterricht_katholisch.200631
1. Herkunft und Herausforderung
Der → Religionsunterricht
Die Entwicklung performativer Ansätze wurde von unterschiedlichen soziologischen, theologischen und bildungstheoretischen Herausforderungen aus motiviert:
1.1. Soziologische Herausforderung
Die zentrale soziologische Herausforderung besteht darin, wie mit dem sogenannten Traditionsabbruch umzugehen ist: Nur noch eine Minderheit der → Kinder
1.2. Theologische Herausforderung
Die theologische Herausforderung kann man so auf den Punkt bringen: Wie kann Religion in seiner ganzen Breite und Tiefe, in Theorie und Praxis, in Wort und Tat verstanden werden (Mendl, 2017, 37-40)? Wenn Religion mehr ist als nur ein in Formeln gegossenes Glaubenswissen, wenn sie auch gekennzeichnet ist von geprägten Formen und einer sozialen und gemeinschaftlichen Praxis, dann scheint ein rein diskursiv angelegter Religionsunterricht nicht mehr auszureichen, um den Gegenstand Religion zu durchdringen und zu verstehen. Religion hat dann einen Mehrwert, wenn sie „in Form“ bleibt (Klie/Leonhard, 2003, 147). Um die formgebundene Eigenart der Offenbarungsreligion und der damit verbundenen sich auf Praxis die beziehenden christlichen Religion zu verstehen, bedarf es deshalb einer „szenischen und gestischen, → leiblichen
Es geht also um das Verstehen der christlichen Religion; man muss lernen, dass sich hier Vollzugsformen und Vorstellungsgehalte auf spezifische Weise miteinander verbinden. Wie kann aber die pragmatische Dimension von Religion unterrichtlich → verantwortlich
1.3. → Bildungstheoretische Herausforderung
Schließlich wurde die Entfaltung von performativen Ansätzen auch von bildungstheoretischen Herausforderungen gespeist: Wir wissen von der Lernpsychologie her um die Bedeutung einer Vernetzung verschiedener Lerndomänen, damit träges Wissen vermieden und intelligentes Wissen aufgebaut werden kann (Wahl, 2006; Mendl, 2017, 51-60). Verstehen und Behalten werden gefördert, wenn prozedurale, implizite und deklarative Wissensebenen miteinander intelligent verschränkt werden. Nach einem grundlegend konstruktivistischen Lernverständnis ereignet sich Lernen als ein aktiver und konstruktiver Prozess des lernenden → Subjekts
1.4. Sprechakttheorie als gemeinsame Ausgangsbasis
→ Wissenschaftstheoretisch
Die religionspädagogische Folgerung ist evident: Kann ich die Bedeutung eines Gebets, eines Segens, eines Lobpreises oder eines Versprechens begreifen, ohne solche Akte selber vollzogen zu haben? Kann ich die → Ethik
2. Der evangelische Weg
Evangelische Religionspädagoginnen und Religionspädagogen waren zunächst federführend bei der Reflexion über die Bedeutung und bei der didaktischen Entfaltung eines performativen Ansatzes (Dressler, 2002; Husmann/Klie, 2005; Klie/Leonhard, 2003; Domsgen, 2005; siehe auch den Überblick zu evangelischen und katholischen Ansätzen: Dremel, 2017, bes. 84). Kurzgefasst (ausführlicher → Performativer Religionsunterricht
Die Argumentation ist nachvollziehbar, gleichzeitig führen diese Konzepte unausweichlich in diverse Dilemmata: Konzipiere ich religiöse Sprechhandlungen als Experiment oder → Spiel
3. Katholische Ursprünge und Querbezüge
3.1. Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen
Im Jahr 2005 veröffentlichten die Deutschen Bischöfe ein Schreiben zum Religionsunterricht, in dem die erste katholische Variante des Performativen aufscheint (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2005). Argumentativ sind die Ausführungen von den evangelischen Vorarbeiten geprägt, sie gehen aber in entscheidenden Aspekten darüber hinaus und bedienen sich einer eigenen → Hermeneutik
3.2. Kritische Diskussion des Bischofspapiers
Eine erste breitere Diskussion des Performativen erfolgte auf dem Arbeitsforum für → Religionspädagogik
3.3. Kompensation und Transformation?
In einer „Zwischenbilanz“ formulierte Rudolf Englert ein leider äußerst problematisches Deutungsmuster bei der Einordnung → konfessioneller
4. Religion erleben – das eigene Modell
4.1. Erleben – → Erfahrung
Die Frage nach dem angemessenen Status von performativen Lernformen zwischen „authentisch“ und „experimentell“ habe ich seit „Religion erleben“ (Mendl, 2017) wie folgend erläutert zu lösen versucht. Dabei ist der Begriff des „Erlebens“ als die Phase des Einstiegs einer Begegnung mit Religion bewusst gewählt, weil ich damit hermeneutisch andeuten möchte, dass es ein weiter didaktischer Weg ist, bis aus einem wiederholten „Erleben“ eine „Erfahrung“ wird, und unklar ist, ob dies überhaupt erfolgt (Mendl, 2017, 72-81).
Eine Beantwortung zentraler Anfragen zum Performativen findet man hier: http://www.phil.uni-passau.de/religionspaedagogik/forschung/performativer-ru/
4.2. Einladung – subjektive Bedeutungszuweisung
Mit performativen Unterrichtsformen laden die Lehrenden zum Erleben religiös relevanter Handlungsformen ein (vgl. die Entfaltung von 20 möglichen Praxisfeldern: Mendl, 2017, 88-413). Diese Einladung muss aber geprägt sein von der Möglichkeit, dem Erleben eine subjektive Bedeutung zuzuweisen. Die Schülerinnen und Schüler können selbst entscheiden, ob sie sich in die Teilnehmerrolle begeben oder auf einer Beobachterebene bleiben wollen – und dazwischen gibt es noch viele weitere Schattierungen einer Bedeutungszuweisung! Ich begründe dies mit einem Rückgriff auf die Sprechakttheorie (Mendl, 2017, 42f.): Was jemand tut, indem er etwas sagt, nennt John Austin einen illokutionären Akt – entscheidend sind Kontext und Absicht des Sprechers, wie er sich den gelungenen Sprechakt vorstellt. Was die Äußerung tatsächlich bewirkt, wird als perlokutionärer Sprechakt bezeichnet; die tatsächliche Wirkung entzieht sich dem Einfluss des Sprechers. Ein Beispiel aus dem Alltag: Ich will in einem Kompliment meine Bewunderung ausdrücken – und scheitere grandios, weil mein Gegenüber meine Worte oder Gesten missversteht. Übertragen auf den Religionsunterricht: Eine gemeinsam vollzogene performative Handlung kann also → individuell
4.3. Freiheitssicherung: Kognition, Erleben, Reflexion
Ob aus einzelnen Erlebnissen → subjektiv
Denn die Schülerinnen und Schüler müssen wissen, was auf sie zukommt und wie sie sich verhalten können, und sie sollen angeleitet werden, das Erlebte dann auch zu reflektieren. Auf der Basis dieser Überlegungen wurde ein formales Planungsmodell erstellt (erstmals für die Rottenburg-Stuttgarter Zeitschrift „Notizblock“, Mendl, 2011b, 10), das seitdem als kriteriologisches Element die Ausgestaltung einer performativen Praxis prägt. Man sollte es idealtypisch und nicht → dogmatisch
4.4. Lehrende: Respekt und Differenzverträglichkeit
Ein solches differenziertes Modell des Performativen erscheint übrigens auch im Kontext der Kompetenzorientierung (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht
5. Praxiserfahrungen und Zukunft
Sowohl in der evangelischen (Klie/Leonhard, 2003; Leonhard, 2006; Husmann/Klie, 2005; Klie/Leonhard, 2008; Dressler/Klie/Kumlehn, 2012) als auch in der katholischen Religionspädagogik (Überblick: Mendl, 2016a, 219-224) wurden von den konzeptionell Verantwortlichen Praxismodelle entwickelt und erprobt bzw. Praxisbeispiele gesammelt, präsentiert und analysiert. Diese zeigen, wie ein performativer Religionsunterricht gelingen kann. Die Beispiele stimmen insofern optimistisch, als die oftmals beschworene Gefahr einer Re-Katechetisierung des Religionsunterrichts durch einen performativen Ansatz von Ausnahmen abgesehen so nicht beobachtet werden kann. Gerade die skizzierten differenzierten Modelle mit ihren deutlichen Grenzziehungen führen dazu, dass auch Praktikerinnen und Praktiker ein Problembewusstsein für einen respektvollen Umgang mit performativen Elementen entwickeln. Im Zentrum der Diskussion stehen nach wie vor die besonders sensiblen Felder eines spirituellen und liturgischen Lernens (Gebet, → Gottesdienst
Literaturverzeichnis
- Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1972.
- Benner, Dietrich, Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht, in: Religionspädagogische Beiträge 53 (2004), 5-19; auch in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 3 (2004) 2, 22-36.
- Domsgen, Michael, Der performative Religionsunterricht – eine neue religionsdidaktische Konzeption?, in: Religionspädagogische Beiträge 54 (2005), 31-49.
- Dremel, Martina, Performativ orientierter Religionsunterricht, in: Religionspädagogische Beiträge 76 (2017), 73-84.
- Dressler, Bernhard, Art. Performativer Religionsunterricht, evangelisch (2015), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de
, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Performativer_Religionsunterricht.100017 , PDF vom 10.10.2017). - Dressler, Bernhard, Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), 11-19.
- Dressler, Bernhard/Klie, Thomas/Kumlehn, Martina, Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012.
- Dressler, Bernhard/Meyer-Blanck, Michael, Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik, Münster 1998.
- Englert, Rudolf, Performativer Religionsunterricht – eine Zwischenbilanz, in: Mendl, Hans (Hg.), Religion zeigen – Religion erleben – Religion verstehen. Ein Studienbuch zum Performativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016, 50-66; erstmals erscheinen in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 60 (2008), 3-16.
- Englert, Rudolf, „Performativer Religionsunterricht?“ Anmerkungen zu den Ansätzen von Schmid, Dressler und Schoberth, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), 32-36.
- Gärtner, Claudia, Performanz oder Reflexion, Selbstinszenierung oder Differenzerfahrung? Aktuelle Herausforderungen performativen Lernens, in: Religionspädagogische Beiträge 76 (2017), 50-57.
- Husmann, Bärbel/Klie, Thomas, Gestalteter Glaube. Liturgisches Lernen in Schule und Gemeinde, Göttingen 2005.
- Katechetische Blätter 141 (2016), Heft 6: Segen.
- Kittel, Joachim, Beten im Religionsunterricht. Überlegungen in religions-didaktischer Absicht, in: Glaube und Leben 85 (2012) 4, 376-387.
- Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hg.), Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008.
- Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003.
- Leonhard, Silke, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs, Stuttgart 2006.
- Mendl, Hans, Religion erleben. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht. 20 Praxisfelder, München 3. Aufl. 2017.
- Mendl, Hans (Hg.), Religion zeigen – Religion erleben – Religion verstehen. Ein Studienbuch zum Performativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016a; dort weitere Beiträge zur Diskussion des Performativen sowie ausführliche Literaturhinweise zur Theorie und Praxis des Performativen!
- Mendl, Hans, Sei gesegnet! Auch im Religionsunterricht?!, in: Katechetische Blätter 141 (2016b) 6, 313-317.
- Mendl, Hans, Abrakadabra – ich erschaffe, während ich spreche. Die narrative Wirklichkeitskonstruktion performativen Sprechens, in: Büttner, Gerhard/Reis, Oliver/Mendl, Hans (Hg. u.a.), Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 7: Narrativität, Babenhausen 2016c, 147-161.
- Mendl, Hans, Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 5. Aufl. 2016d.
- Mendl, Hans, Religion erleben, in: Thomas Klie/Rainer Merkel/Dietmar Peter (Hg.), Performative Religionsdidaktik und biblische Textwelten, Loccumer Impulse 3, Loccum 2012, 16-25.
- Mendl, Hans, Religion erleben. Konzeptionelle Rahmendaten eines performativ orientierten Religionsunterrichts, in: IRP-Impulse Frühjahr 2011a, hg. v. Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg, 4-9.
- Mendl, Hans, Religion erleben – Orte des Glaubens kennen lernen. Plädoyer für einen Religionsunterricht, der mehr ist als nur ein „Reden über Religion“, in: Notizblock. Materialdienst für Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Diözese Rottenburg-Stuttgart 49 (2011b), 8-11.
- Mendl, Hans, Mehr als Reden über Religion. Die Bedeutung eines performativen Religionsunterrichts, in: Bischöfliches Ordinariat Passau. Hauptabteilung Schulen und Hochschule (Hg.), Prisma RU. Impulse für den Religionsunterricht, Passau 2005, 4-16.
- Religionspädagogische Beiträge 58 (2007), Religion in schulischen Lernprozessen heute zur Geltung bringen.
- Rendle, Ludwig (Hg.), Mehr als reden über Religion. 1. Arbeitsforum Religionspädagogik 21. bis 23. März 2006. Dokumentation, Donauwörth 2006.
- Roose, Hanna, Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, in: Loccumer Pelikan (2006) 3, 110-115.
- Schambeck, Mirjam, Religion zeigen und Glauben lernen in der Schule? Zu den Chancen und Grenzen eines performativen Religionsunterrichts, in: Religionspädagogische Beiträge 58 (2007), 61-80.
- Schmid, Hans, Mehr als Reden über Religion, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), 3-10.
- Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn 2005; Kapitel 3.2 auch abgedruckt in: Mendl, Hans (Hg.), Religion zeigen – Religion erleben – Religion verstehen. Ein Studienbuch zum Performativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016, 66-69.
- Wahl, Diethelm, Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln, Bad Heilbrunn 2006.
- Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.), Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven, Weinheim u.a. 2007.
Abbildungsverzeichnis
- Soziologische, theologische und bildungstheoretische Herausforderungen © Hans Mendl, unveröffentlicht
- Performatives Arrangement © Hans Mendl, in: Mendl, 2016a, 220
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