Schleiermacher, Friedrich (1768-1834)
(erstellt: Februar 2019)
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1. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der Religionspädagogik: Leben und Werk im geistesgeschichtlichen Kontext
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) hat im Rahmen seiner umfassenden akademischen Tätigkeit auf verschiedenen Gebieten der Philosophie, der Ethik, der Hermeneutik, der Ästhetik sowie der Psychologie Wegweisendes geleistet und gilt als einer der Begründer und spät entdeckten Klassiker der wissenschaftlichen Pädagogik (vgl. Brachmann, 2002, 12; Winkler, 1997; Mollenhauer, 1985). Vor allem aber wird er in der Theologie als Kirchenvater des 19. und 20. Jahrhunderts, als „Genius“ und bedeutendster evangelischer Theologe nach Luther und der Reformation hochgeschätzt (Meyer-Blanck, 2003, 63, der damit Urteile von Dilthey bis in die Gegenwart aufnimmt). Selbst aus Perspektive der inhaltlich divergierenden dialektischen Theologie konnte Karl Barth bei aller Kritik eingestehen, mit „Schleiermacher auf der ganzen Linie nicht fertig zu“ sein (Karl Barth, 1968, 309). Entsprechend wird Schleiermacher in der Religionspädagogik als Klassiker wahrgenommen, der Vergangenheit repräsentiert, „die Zukunft hat“ (Schröer, 1989, 132), weil es in seinem komplexen Werk um Fragen geht, die sich aus den geistesgeschichtlichen Konstellationen seit der → Aufklärung
Aufgrund der gebotenen Kürze dieses Artikels, der dem umfänglichen Werk und Wirken Schleiermachers in keiner Weise gerecht werden kann, werden genau diese für die heutige Religionspädagogik noch relevanten spannungsreichen Grundkonstellationen seines Denkens sowohl in biographisch-historischer als auch theologisch-systematischer Perspektive fokussiert dargestellt.
1.1. Frömmigkeit und Bildung: Stationen der Biographie und Werkgeschichte Schleiermachers
Schleiermachers Werk lässt sich ohne Grundkenntnisse seiner Biographie (vgl. ausführlich Nowak, 2001; Fischer, 2001a, 15-50) kaum verstehen, weil die Spannung von Frömmigkeit und → Bildung
Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau als Sohn eines reformierten Feldgeistlichen geboren, den nach jahrelangen Glaubenszweifeln die pietistische Frömmigkeit Herrnhuter Prägung so beeindruckte, dass er seine Kinder in die Obhut der Brüdergemeine gab. Schleiermacher wurde nach einem kurzen Aufenthalt in Gnadenfrei 1783 als Internatsschüler in das Pädagogium zu Niesky aufgenommen. Dort sog er die intellektuellen Anregungen auf und überließ sich der Herrnhuter Frömmigkeit mit ihrer mystischen Christusliebe und starken Erlösungssehnsucht. Aufgrund seiner Begabung wurde er schon 1785 an das theologische Seminar der Herrnhuter in Barby versetzt. Dort geriet er jedoch schnell in eine tiefe adoleszente Krise: Obwohl die Schriften aus dem Einflussbereich der → Aufklärung
1787 durfte Schleiermacher schließlich nach Halle wechseln, wo der Aufklärungstheologe, Exeget und Kirchenhistoriker Johann Salomo Semler lehrte. Schleiermachers vorrangiger akademischer Lehrer wurde jedoch August Eberhard, der ihm die griechische Philosophie erschloss, der er von da an nicht zuletzt durch langjährige Platon-Übersetzungen (vgl. KGA IV/3) verbunden blieb. Zugleich setzte sich Schleiermacher in dieser Zeit kritisch mit Immanuel Kant und vor allem dessen Vorstellungen vom höchsten Gut auseinander.
Nach dem Examen arbeitete Schleiermacher 1790 zunächst als Hauslehrer bei der Familie des Grafen zu Dohna in Schlobitten (Ostpreußen). Es kam jedoch u.a. aufgrund seiner Begeisterung für die Französische Revolution zu Unstimmigkeiten, so dass Schleiermacher 1793 nach Berlin an eine Lehrerausbildungsstätte (Seminar von Friedrich Gedike) übersiedelte, bevor er dort Prediger an der Charité wurde. In Berlin nahm Schleiermacher an der lebendigen Salonkultur mit ihrer freien Geselligkeit und den anregenden Gesprächskreisen teil, vor allem im Haus von Marcus und Henriette Herz. Von größter Bedeutung für seine weitere Entwicklung war die Freundschaft mit Friedrich Schlegel, dem Vordenker der Frühromantik, mit dem er in intensivem Austausch über die Bedeutung der Individualität, der Geselligkeit, Freundschaft, Liebe, Ehe und insbesondere die romantischen Grundideen einer progressiven Universalpoesie stand, die alle Sinne ansprechen, die verschiedenen Literaturgattungen vereinen und Bezüge zwischen Poesie und Wissenschaft, Kunst und Rhetorik herstellen sollte (vgl. Nowak, 1986). In diesem geistigen Klima entstanden seine programmatischen frühen Werke, in denen auch das Bildungsthema schon prominent platziert ist: allen voran erschien 1799 sein wirkmächtigstes Werk „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (KGA I/2, 185-326). Es folgten die „Monologen. Eine Neujahrsgabe“ (1800), die in Form eines Selbstgespräches ein romantisches Manifest gebildeter Individualität darstellen und Selbsterkenntnis als Einheit von Reflexion und Leben aufscheinen lassen (KGA I/3, 1-61). Als Spiegel der Erfahrungen in der Salonkultur ist der fragmentarische „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1799) zu verstehen, der die Bedingungen eines freien anregenden Austausches als Grundlage kultureller Praxis reflektiert (KGA I/2, 163-184). Als eine literarische Konkretion dieser im Spannungsfeld von → Pietismus
1804 kehrte Schleiermacher als Professor an die Universität Halle zurück, wo er seine umfängliche Lehrtätigkeit über Dogmatik, Enzyklopädie, philosophische Ethik und Hermeneutik aufnahm, die er jedoch nur bis zur Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 und der damit verbundenen Schließung der Universität Halle ausüben konnte. Er ging nach Berlin zurück und wirkte dort an der Erneuerungsbewegung der preußischen Reformen mit, die Ideen der → Aufklärung
1.2. Theologie und Philosophie: Strukturen des Werkes Schleiermachers
So wie die Spannung von Frömmigkeit und Bildung seinen Werdegang bestimmt hat, ist seinem Werk selbst das Ringen um die Verhältnisbestimmung von Religion und Vernunft, Theologie und Philosophie eingeschrieben (vgl. Gräb, 2005; Birkner, 1996). Besonders anschauliche Bilder bietet er dafür in seinem Brief an Jacobi 1818 (ZThK 68/1971, 195-212). Dort spricht er mit Blick auf die unterschiedlichen Reflexionsformen Philosophie und Dogmatik von einer Ellipse mit zwei Brennpunkten, zwischen denen das Denken beständig oszilliert, d.h. hin- und herschwingt. Zudem bemüht er die Vorstellung einer „galvanischen Operation“ aus der Elektrizitätslehre, um die spannungsgeladene Anziehung und Abstoßung von Gefühl (Religion) und Verstand metaphorisch zu erfassen (vgl. Erhardt, 2005, 182). Die Pole fordern sich immer wechselseitig heraus und ihr Verhältnis ist auf einer Skala unterschiedlicher Nähe und Distanz je nach Perspektive und Kontext genauer zu bestimmen. So heißt es im Brief an Jacobi in der gekreuzten Kopplung beider Gegensätze auch, Aufgabe der Dogmatik sei es, durch den Verstand die im Gefühl präsente Religiosität zu dolmetschen und zwar „durch Formen der allgemein zugänglichen Vernunft und Reflexion“ (Bauer, 2015, 125). Dabei muss dann jedoch gelten, dass jede Übersetzung Interpretation ist und die Reflexionsformen den Inhalt beeinflussen und diesem nicht einfach äußerlich bleiben, auch dann nicht, wenn dezidiert kein semantisches Ableitungsverhältnis der Dogmatik aus der Philosophie angenommen wird. Schleiermacher war demnach alles daran gelegen, der religiösen → Erfahrung
Entsprechend lassen sich in Schleiermachers Werk vielfältige Bezüge zwischen Konvergenz und Divergenz im Sinne spannungsreicher Korrelationen herstellen, z.B. zwischen „Reden“ und „Monologen“ hinsichtlich der Rolle der Individualität in Religion und Ethik; zwischen seiner „Dialektik“, die das System des Wissens entwirft und nach dem Grund des Wissens fragt, und der „Glaubenslehre“, die das fromme Bewusstsein und seine Bezugnahme auf den Grund des Seins in christlicher Perspektive auslegt; zwischen seinen ethischen Entwürfen, die das ganze Feld der Gesellschaft und der kulturellen Praktiken vermessen und der „Christlichen Sittenlehre“, die das Kulturhandeln im Raum der Kirche entfaltet; zwischen seinen Kunstlehren der Hermeneutik und der Pädagogik, dieRahmenbedingungen des Verstehens sowie der Erziehung und anzuregender Bildungsprozesse entwerfen und seiner Praktischen Theologie mit ihren Vorstellungen religiöser Kommunikation und deren Vermittlung.
2. Sinn für das Unendliche und Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit: Schleiermachers Verständnis von Religion und Frömmigkeit
2.1. Sinn und Geschmack für das Unendliche: Die Religionstheorie der Reden
Schleiermacher erweist sich in seiner Religionstheorie (vgl. Albrecht, 1994; Mädler, 2005; Barth, 2014), wie er sie erstmalig in rhetorisch hymnischer Form in „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ entfaltet, als „Aufklärer höherer Ordnung“ (Beutel, 2000, 310), d.h., er nimmt wesentliche Anliegen der → Aufklärung
Schleiermacher sucht – trotz der grundsätzlichen Unverfügbarkeit der Erschließungsmomente – nach Anschlussstellen, die ein Öffnen des Sinns für Religion ermöglichen. Klassische Kontingenzerfahrungen wie „geboren werden und sterben“ (KGA I/2, 256) sind dafür besonders prädestiniert. Selbstreflexion, Weltanschauung und Kunstbetrachtung können darüber hinaus den Sinn auf Religion hin ausrichten. Die Kunst steht dabei als verwandte Seele neben der Religion, denn beide haben mit einer besonderen Ausdruckskultur des Gefühls zu tun. Kunst kann deshalb auch zur Sprache der Religion werden.
Für Schleiermacher ist „natürliche Religion“ wie Kant oder der englische Deismus sie propagiert haben, keine Option, sondern Religion ist immer positiv, auf bestimmte in der Erfahrung vermittelte Grundanschauungen angewiesen, die ihr dann in spezifischer Weise Inhalt und Form geben. Von daher ist evident, dass schon Schleiermachers Strukturbestimmung von Religion von seiner christlichen Position her mitbestimmt ist und zugleich auf die Bestimmung der Grundidee des Christentums in der fünften Rede hinführt, „daß Alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Gottheit zusammenzuhängen“ und dass Jesus Christus diese Vermittlung geleistet hat (KGA I/2, 321f.).
2.2. Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit: Das Frömmigkeitsverständnis der Glaubenslehre
In der Glaubenslehre schärft Schleiermacher seine Position schließlich begrifflich unter Rekurs auf bewusstseins- und subjektivitätstheoretische Bezüge, die sich schon in der grundlegenden Bestimmung zeigen, dass die Dogmatische Theologie Zustände des frommen Bewusstseins auslegt, die nur aus dem Gebiet der inneren → Erfahrung
Jesus Christus schließlich wird als Urbild schlechthinniger Vollkommenheit hinsichtlich der Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins verstanden, das „allen Lebensmomenten den Impuls zu geben und sie zu bestimmen“ (KGA I/13,2, § 93, 42) vermochte und als ein Sein Gottes in Christus verstanden wird. Die erlösende Kraft Christi bestimmt Schleiermacher dann als Aufnahme der Gläubigen „in die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins“ (KGA I/13,2, § 100, 104).
3. Individuelles Symbolisieren: Grundzüge religiöser Kommunikation
Die religiöse Erfahrung, die den Menschen in seinem Innersten betrifft, treibt ihn zugleich aus sich heraus, weil er vor dem Deutungshorizont des Unendlichen gewahr wird, „nur einen kleinen Theil von ihr zu umspannen, und was er nicht unmittelbar erreichen kann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen. Darum intereßiert ihn jede Äußerung derselben, und seine Ergänzung suchend, lauscht er auf jeden Ton, den er für den ihrigen erkennt. So organisiert sich gegenseitige Mitteilung, so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehrlich.“ (KGA I/2, 268). In Schleiermachers Perspektive, der die fundamentalistischen Formen von Religion kaum im Blick hat, folgt aus der Einsicht in den Reichtum der Religion, der sich nur im kommunikativen Kontext des freien Austauschs erschließt, auch religiöse → Toleranz
3.1. Die Theorie des individuellen Symbolisierens
Religiöse Kommunikation muss also durch eine bestimmte Ausdruckskultur symbolisierenden Handelns zum Austausch zwischen nur bedingt übertragbaren Erfahrungen und Positionen beitragen und dabei zum Umgang mit dem Differenten anleiten (zur ausführlichen Darstellung von Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation vgl. Kumlehn, 1999). Grundbedingungen dafür entfaltet Schleiermacher im Rahmen seiner ethischen, d.h. kulturtheoretischen Entfaltung menschlicher Praxisformen in Form von sozialen Gütern, die sich aus der Durchdringung von Vernunft und Natur ergeben: Individuelles Organisieren durch Darstellung des materiellen und geistigen Eigentums in freier Geselligkeit, identisches Organisieren durch Verkehr und Recht im Staat, identisches Symbolisieren durch Sprache und Wissen in den Bildungsinstitutionen und individuelles Symbolisieren durch Kunst und Religion in der vor allem letzterer zugeordneten Sozialform Kirche (vgl. Moxter, 1992, 220). Mit Blick auf Schleiermachers Symbolbegriff ist festzuhalten, dass er kommunikativ verfasst ist, indem die Tätigkeiten der menschlichen Vernunft, die Symbole hervorbringen und in interpretativen Aneignungsprozessen aufnehmen, im Zentrum stehen. Die Ausdrucksformen des individuellen Symbolisierens beziehen sich auf das Gefühl, das das Eigentümliche und die Unübertragbarkeit individuellen Erlebens repräsentiert. Sie müssen demnach das Unübertragbare in den Akt der Übertragung transformieren. Dabei werden „Ton, Geberde, vorzüglich Antliz, Auge“, also die ganze menschliche Gestalt bzw. der Leib einschließlich stimmlicher Äußerungen zu ersten Ausdrucksformen des Erlebens (PhE, 98). Wenn das Gefühl über das unmittelbare Bewegtsein hinaus dargestellt werden soll, wird die Phantasie als individuelles „synthetisches Vermögen“ der Vernunft tätig, indem sie durch eigentümliche Kombinationen Vorstellungen und Bilder produziert. Im Rahmen individuellen Symbolisierens kann das Erkennen nur „vermittelst eines analogischen Verfahrens“ erfolgen, indem das Symbolisierte beim Gegenüber ähnliche Erfahrungskontexte wachruft (vgl. PhE, 317). Zur gemeinschaftlichen Kommunikation des Individuellen trägt aber in besonderer Weise die Ausbildung eines Kunstschatzes bei, also die Überführung der kunstlosen Elemente des individuellen Symbolisierens in künstlerische Formen. Begreift man die künstlerische Aktivität und den mehr passiven Sinn für die Kunst als zwei verschiedene Momente ein und desselben künstlerischen Gesamtzusammenhangs, dann erscheint zum einen das Handeln des Künstlers als eine im wesentlichen dolmetschende Tätigkeit und zum anderen wird verständlich, was Schleiermacher meint, wenn er behauptet: „Alle Menschen sind Künstler“ (PhE, 184).
Eine doppelt besetzte Rolle spielt in Schleiermachers Schema die Sprache: Einerseits kann sie als Medium der Kunst und der individuellen Mitteilung religiöser Erfahrung dienen, weil es neben dem diskursiven und überzeugend-geschäftlichen Denken auch eine künstlerische Form des Denkens gibt, das im freien Austausch und seiner kreativ anregenden Kraft zum Ziel kommt (vgl. PHE, 188). Dem Ausdruck religiöser Erfahrung kommen poetische und rhetorische Formen am ehesten entgegen, besonders wirkmächtig in Kombination mit → Musik
3.2. Darstellung und Mitteilung des frommen Selbstbewusstseins im Raum der Kirche
Die Sozialform Kirche versteht Schleiermacher entsprechend als eine Kommunikationsgemeinschaft, die „einen innerhalb bestimmter Grenzen sich immer erneuernden Umlauf des frommen Selbstbewusstseins und eine innerhalb derselben geordnete und gegliederte Fortpflanzung der frommen Erregungen bildet“ (KGA I/13,1, § 6.4, 58). Christus wird als Ursprungsort aller kommunikativen Akte im Christentum aufgefasst: „Christus, der absolute Anfang der christlichen Kirche, hat diese nur durch darstellendes Handeln zu stiften angefangen“ (ChS, 511f.). Das darstellende Handeln als Ausdruck des im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl erfahrenen Gottesverhältnisses will die Konzentration auf die expressive Kraft befördern und das Eigenrecht nicht verzweckter religiöser Kommunikation stark machen, indem es vom wirksamen Handeln abgegrenzt wird. Dementsprechend bezeichnet der Gottesdienst (→ Gottesdienst, evangelisch
4. Religiöse Bildung und pädagogische Reflexion
4.1. Bildung zur Religion und Bildung durch Religion
Die Bildungsthematik ist gleichermaßen Ausgangs- und Zielpunkt des Denkens und Wirkens Friedrich Schleiermachers. Schon in der romantischen Frühschrift „Monologen“ nimmt er Humboldts Anliegen auf, dass individuelle Selbstbildung als unabschließbarer Prozess nur in Freiheit geschehen kann (vgl. Kumlehn, 2015; Bauer, 2015, 34-44; Heller, 2011, 94-104). Selbstbetrachtung und Selbstbewusstsein sollen dazu beitragen, „selbst werdend Welt zugleich zu bilden“ (KGA I/3, 11). Jeder Mensch soll auf eigene Art die Menschheit darstellen, „in einer eigenen Mischung ihrer Elemente“ (KGA I/3, 18) und mit einer eigenen Sprache, die es zu finden gilt. Das ist aber nicht solipzistisch gedacht, denn wer „sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist.“ (KGA I/3, 21). → Bildung
Schleiermachers Vorstellungen von der Bildung zur Religion reflektieren die Ansätze zur freien Selbstbildung im Kontext des Anderen, denn für eine solche Bildung „kennt die Religion kein anderes Mittel, als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mittheilt.“ (KGA I/2, 248). Insofern die Theorie des individuellen Symbolisierens das Bewusstsein von dem nicht identisch zu übertragenden Gefühl wachhält, kann es hinsichtlich einer Vermittlung von Religion niemals darum gehen, sie anderen „aufzudringen“ (KGA I/2, 248), sondern es darf lediglich versucht werden, dem Gegenüber religiöse Erfahrungen so weit möglich zu erschließen und religiöse Deutungsmuster vorzustellen, um seine selbsttätige Auseinandersetzung und Aneignung anzuregen: „[M]it eigenen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zu Tage fördern zu den Schäzen der Religion.“ (KGA I/2, 242). Deshalb gilt Schleiermacher ein Religionsunterricht, der sich darauf beschränkt, Meinungen und Lehrsätze nach- und anzubilden, als ein „abgeschmaktes und sinnleeres“ Unternehmen (KGA I/2, 250). Allerdings verlangt der Vollzug religiöser Mitteilung spezifische, wenngleich von reiner Wissensvermittlung zu unterscheidende Bildungsanstrengungen, denn die religiöse Entwicklung jedes Menschen ist der Ausbildung fähig und bedürftig, soll sie nicht verkümmern. Religiöse Bildung (→ Bildung, religiöse
Dass allen Bildungsbemühungen die Erfahrung des immer schon vorgängig Gebildetwordenseins vorausgeht, ist im Rahmen der religiösen Grunderfahrung des Sich-Verdanktwissens und des Wirkens des „Universums“ auf uns bereits ausgelegt worden. Von daher geht es nicht nur um die Bildung zur Religion, sondern auch um die bildende Kraft, die von Religion und ihrer Art der Weltdeutung ausgeht. In der Glaubenslehre wird dieser Aspekt christologisch weitergeführt, indem die person- und weltbildende Kraft Jesu Christi hervorgehoben wird: So „lässt sich auch alle Thätigkeit des Erlösers als eine Fortsetzung jener personbildenden göttlichen Einwirkung auf die menschliche Natur ansehen. Denn die eindringenden Thätigkeit Christi kann sich nicht in einem Einzelnen befestigen ohne auch in ihm personbildend zu werden, indem alle seine Thätigkeiten nun durch das Wirken Christi in ihm anders bestimmt ja auch alle Eindrükke anders aufgenommen werden, mithin auch das persönliche Selbstbewußtsein ein anderes wird.“ (KGA I/13,2 § 100, 107; vgl. Bauer, 2015, 166-170).
4.2. Pädagogische Reflexion und religionsdidaktische Konkretion
Sollen Anregungsprozesse religiöser Bildung (→ Bildung, religiöse
Religiöse Erziehung beginnt in der → Familie
Für die heranwachsenden Kinder ist im Raum der Kirche insbesondere der Konfirmandenunterricht von Bedeutung (→ Konfirmandenunterricht/Konfirmandinnenarbeit
Dem schulischen Religionsunterricht war Schleiermacher zeitbedingt aufgrund der Voraussetzungen des Lernens dort eher skeptisch gegenüber eingestellt. Allerdings war auch ihm wichtig, dass die Schule keine Erweckungsanstalt sein dürfe und der Hauptakzent deshalb auf dem Lehr- und Verstehbaren der Religion liege. Zudem sollten die Unterrichtsgehalte mit den Bildungsstufen abgeglichen werden (vgl. Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen, Päd 1, 168). Dabei soll die schulische Bildung einerseits zunächst auch narrative Zugänge vermitteln (Päd 1, 168), sodann aber vor allem in der Volksschule biblische und geschichtliche Grundkenntnisse des Christentums und vor allem der Reformation vermitteln (Päd 2, 273f.), auf die der Konfirmandenunterricht sich beziehen kann. Andererseits soll der Schulunterricht dann auf der gymnasialen Oberstufe ein mögliches Korrektiv zum Konfirmandenunterricht darstellen: Er soll beitragen, „den Mängeln, welche der kirchliche Religionsunterricht für den gebildeten Verstand […] nicht selten gehaben haben wird, abzuhelfen, den Skeptizismus […] zur Sprache zu bringen […], den religiösen Geist auch unter den verschiedensten Lehrformen und Meinungen auffassen zu lehren und das spekulative Talent pädagogisch anzuregen.“ (Päd. 1, 170). Es ging also für Schleiermacher – in kritischer Verarbeitung seiner eigenen Krisen religiöser Bildung – auf der Oberstufe des Gymnasiums zentral um reflexive Durchdringung religiöser Erfahrung und das Verstehen christlicher Tradition, das Ernstnehmen der intellektuellen Anfragen und Bedürfnisse sowie die Sprachfähigkeit im Austausch mit der Philosophie.
5. Bleibende religionspädagogische Impulse im Ausgang von Schleiermacher
Im Durchgang der Darstellung haben sich bereits vielfältige Anschlussstellen für die weitere Entwicklung der modernen Religionspädagogik ergeben, die sich durch differenzierte Rekonstruktionen in der Konzeptionsentwicklung des 20. Jahrhunderts in der liberalen Religionspädagogik, im → hermeneutischen Religionsunterricht
1) Religionspädagogik muss differenziert über Religion (und Religiosität, Spiritualität, Frömmigkeit) nachdenken und diese in ihren vielfältigen Dimensionen erschließen, wenn sie ihren Gegenstandsbereich verstehen will (z.B. lebensweltlich, phänomenologisch, funktional, kommunikativ, rituell, substantiell usw.). Dabei ist auf die grundlegende Struktur der existentiellen Erfahrungen zu achten, die den Sinn für Religion öffnen können bzw. die Anschlussstellen für religiöse Deutung darstellen. Auch im konfessionslosen Kontext, der u.U. allererst den „Sinn für den Sinn von Religion“ (Domsgen, 2013, 156) wieder anregen muss, wird diese subjektbezogene und relationale Anbahnung für das Verstehen von Religion nach wie vor als produktiv erfahren (vgl. Rosenow, 2016). Weite Religionsbegriffe sind dabei mit spezifischen Bestimmungen christlicher Religion in ein kritisches Verhältnis zu setzen sowie subjektive und tradierte (objektive) Religion vielfältig ineinander verschränkt zu denken.
2) Von Schleiermacher kann man zudem bleibend lernen, dass Religion als ein zutiefst kommunikativ verfasstes kulturelles Phänomen zu begreifen ist. Im Prozess religiöser Bildung ist deshalb der unvertretbar eigene Weltzugang der Religion über das Verstehen ihrer besonderen Ausdruckskultur symbolisch, metaphorisch, narrativ und diskursiv zu erschließen. Dabei ist darauf zu achten, dass leibbezogene, ästhetisch-wahrnehmungsorientierte, reflexiv-theologische und ethische Dimensionen gleichermaßen zu berücksichtigen und kritisch aufeinander zu beziehen sind. Wahrnehmungs-, Deutungs-, Urteils- und Partizipationskompetenz sind von Schleiermacher her nur miteinander verknüpft zu denken (vgl. Kumlehn, 2008).
3) Religiöse Bildung im Sinne Schleiermachers leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu einer individuellen Selbstbildung im Austausch mit anderen, die zugleich um das eigene „Gebildetwordensein“ weiß (vgl. Herms, 2001). Sie hält das Bewusstsein für das Unverfügbare, das nicht Herstellbare und das Verdankte wach und stellt ein wichtiges Widerlager gegen eine rationalistische, ökonomische und funktionalistische Engführung der Bildung im gesellschaftlichen Raum dar.
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- Schleiermacher, Friedrich D. E., Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: KGA I/3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802, hg. von Meckenstock, Günter, Berlin/New York 1988, 1-61.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Briefwechsel 1774-1796 (Briefe 1-326), in: KGA V/1, hg. von Arndt, Andreas, und Virmond, Wolfgang, Berlin/New York 1985.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Lehnerer, Thomas, Hamburg 1984.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. von Meckenstock, Günter, Berlin/New York 1984, 187-326.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: KGA I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. von Meckenstock, Günter, Berlin/New York 1984, 163-184.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), in: KGA I/7,1,2 und 3, hg. von Peiter, Hermann (Teilband 1 und 2), Berlin/New 1980; von Barth, Ulrich (Teilband 3), Berlin/New York 1984.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Birkner, Hans-Joachim/Ebeling, Gerhard/Fischer, Hermann/Kimmerle, Heinz/Selge, Karl-Victor u.a., Berlin/New York 1980ff. (=KGA).
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Dialektik, Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials hg. von R. Odebrecht, Leipzig 1942, Neudr. Darmstadt 1976.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Der Brief Schleiermachers an Jacobi, hg. v. Martin Cordes, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 68 (1971), 195-212.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: Werke, Auswahl in vier Bänden, hg. von Braun, Otto, und Bauer, Johannes, Bd. 2, Neudr. der 2. Aufl., Leipzig 1927, Aalen 1967 (=PhE).
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, Sämmtliche Werke I/12, hg. von Jonas, Ludwig, Berlin 2. Aufl. 1884 (=ChS).
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Psychologie, Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und handgeschriebenen Vorlesungen hg. von George, L., Berlin 1862.
- Schleiermacher, Friedrich D. E., Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, Sämmtliche Werke I/13, hg. von Frerichs, Jacob, Berlin 1850 (=PrT).
- Schröer, Henning, Zur ästhetischen Dimension von Schleiermachers Bildungsbegriff, in: Ochel, Jörg (Hg.), Bildung in evangelischer Verantwortung – auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher, Göttingen 2001, 177-184.
- Schröer, Henning, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Schröer, Henning/Zilleßen, Dietrich (Hg.), Klassiker der Religionspädagogik, Frankfurt a. M. 1989, 115-135.
- Winkler, Manfred, Uneingelöster Anfang: Friedrich Schleiermacher und die geisteswissenschaftliche Pädagogik, in: Brinkmann, Wilhelm (Hg. u.a.), Freiheit – Geschichte – Vernunft. Grundlinien Geisteswissenschaftlicher Pädagogik, Würzburg 1997, 39-63.
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