Pilgern, muslimisch
Andere Schreibweise: Hadsch; ḥaǧǧ; muslimische Wallfahrt; Pilgerfahrt
(erstellt: Februar 2021)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Pilgern_muslimisch.200942
Die islamische Pilgerfahrt ist für viele Menschen ein jährlich immer wieder faszinierendes Phänomen und nicht ohne Grund in fast allen Nachrichtensendungen über den Globus ein wiederkehrendes Thema. Muslime lernen weltweit oftmals schon von klein auf etwas über den Ablauf, die Pflichten, die zu erledigenden Rituale und viele andere Dinge über die Hadsch (arab. ḥaǧǧ) – oft gepaart mit Sehnsüchten und Vorstellungen, diese selbst einmal zu absolvieren. Der vorliegende Artikel behandelt die muslimische Pilgerfahrt aus drei verschiedenen Blickwinkeln: geschichtlich, theologisch und religionspädagogisch.
1. Historisch-geografische Entwicklung
Die Pilgerfahrt, wie wir sie heute kennen, hat ihren Ursprung in der sogenannten vorislamischen Zeit. Damit ist die relativ undeutliche und nicht näher eingegrenzte Zeitspanne gemeint, die vor Beginn der Berufung (arab. mabʿat) Muhammads als islamischer Prophet liegt. In der theologischen und wissenschaftlichen Praxis ist Muhammads erstes Berufungserlebnis auf das Jahr 610 n. Chr. datierbar (Bobzin, 2006, 67f.).
In dieser vorislamischen Zeit sind die heute bekannten, flachen, Landstriche und Ebenen ʿArafāt und Muzdalifa, sowie die Tallandschaft Minā höchstwahrscheinlich Teil eines Rituals gewesen, das mit der Sonnenverehrung in Zusammenhang stand (Chabbi, 1997, 361-365). Die islamische Deutung dieser und weiterer Orte erfolgte für die Musliminnen und Muslime verbindlich durch den Propheten Muhammad. Muhammad vollzog mit seiner eigenen Abschiedswallfahrt (ḥiǧǧat al-wadāʿ) unter Beteiligung vieler Anhänger alle wesentlichen Grundzüge der heute bekannten Rituale rund um die Pilgerfahrt selbst und legte sie damit für die Nachwelt fest – wenige Monate vor seinem Tod im Jahre 632 n. Chr. Wir können an dieser Stelle allerdings ein interessantes Phänomen erkennen, das wissenschaftlich nicht vollständig aufgearbeitet ist: Es betrifft die Phase zwischen der Berufung Muhammads als Prophet (610 n. Chr.) und seiner eigenen Wallfahrt (632 n. Chr.). In islamisch-theologischen Zusammenhängen gilt diese Zeitspanne zwar nicht mehr als vorislamisch, aber sie zeigt anschaulich, dass die heute islamisch-bedeutsamen Orte in diesen 22 Jahren auch noch von anderen Personengruppen als religiöse Pilgerstätte besucht wurden.
1.1. Mekka und seine Umgebung als zentraler Wallfahrtsort
Die Stadt Mekka wird heute überwiegend damit assoziiert Muhammads Geburtsstadt und Zentrum für die große islamische Pilgerfahrt zu sein. Zur Zeit seiner Geburt war Mekka lediglich eine regionale Handelsstadt, die zwar nicht an der berühmten Weihrauchstraße lag, aber dennoch einen wichtigen Marktplatz für die angrenzenden Gebiete bildete (Bobzin, 2006, 64).
Das Mekka der damaligen Zeit kann man sich „unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten – religiösen wie sozialen – als eine ‚Stadt im Umbruch‘ vorstellen“ (Bobzin, 2006, 65), wozu Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Land sowie eine religiöse Vielfalt gehören. Auf der arabischen Halbinsel gab es zu dieser Zeit durchaus verschiedene Kultbezirke, die von Anhängerinnen und Anhängern anderer Religionen im Rahmen von „Wallfahrten“ besucht wurden. Die Stadt Mekka und ihre nähere Umgebung hatte in Zentralarabien jedoch eine besondere Bedeutung für die zentralarabische pagane Religion. „In Mekka war der ursprüngliche Gegenstand der Verehrung ein schwarzer Meteorit, der in die Nordostecke des würfelförmigen Kultgebäudes […] eingelassen war. In der Kaaba befand sich außerdem eine Taube aus Aloeholz und das […] Standbild des Hūbal. Etwa 20km östlich von Mekka befand sich als Ziel einer ‚Wallfahrt‘ (ḥaǧǧ) der Ort ʿArafāt, den man im Zusammenhang mit jährlich stattfindenden Märkten […] aufzusuchen pflegte. […] Während der ‚Wallfahrt‘ befand sich der Pilger in einem Weihezustand (ʾiḥrām), in dem er seine Haare nicht schor. Dessen Beendigung symbolisierte das Scheren des Haares, das man an der Kultstätte zurückließ.“ (Bobzin, 2006, 55).
Andere Stimmen aus der Wissenschaft fragen hingegen kritisch an, da tatsächlich nicht völlig geklärt ist, wie und mit welchen Ritualen die Kaaba (arab. al-Kaʿba: Würfel; ein Gebäude aus Stein, ca. 12x10x15m; Grabar, 2001, 723) genau zu Muhammads Zeiten bereits als Heiligtum behandelt wurde. Der Hintergrund des Problems liegt in der Quellenlage. Die Quellen über andere religiöse Prägungen und Strömungen dieser und der vorangehenden Zeit sind fast ausschließlich aus islamisch-theologischer Perspektive zu Papier gebracht, sodass eine Analyse schwerfällt, die von einer späteren theologischen Überformung abzusehen versucht. Rekonstruierbar ist, dass in der vorislamischen Zeit der Stamm der Quraiš dort ansässig war und den Kult der Kaaba „[…] mit den Riten der anderen Heiligtümer verbunden und Mekka zu einem Wallfahrtszentrum gemacht [hat]“ (Müller, 2002, 999f.). Dieses Wallfahrtszentrum ist für Nichtmuslime unzugänglich: „Strenge Kontrollen halten Nichtmuslime fern.“ (Bubolz, 2001, 206).
Im Blick auf die heutigen Rituale liegt Makka al-mukarrama (dt. das geheiligte Mekka) im Zentrum aller wichtigen Orte im Umkreis (Brunnen Zamzam, Aṣ-Ṣafā und Al-Marwa-Hügel, Minā und Muzdalifa) und nimmt daher im rituellen Ablauf der Pilgerfahrt auf der theologischen Ebene eine zusätzlich bedeutsame Rolle ein.
1.2. Zahlen und Organisation
Die muslimische Pilgerfahrt ist in ihrer Wirkung und in ihrem Ablauf einzigartig, sodass sich ein genauerer Blick auf Zahlen und Fakten lohnt.
Die Entwicklungen der Besuchszahlen der muslimischen Pilgerfahrt hat sich über die vergangenen 1.400 Jahre drastisch verändert und ist erst seit dem 20. Jahrhundert sicher zu erfassen (Paul, 2005, 1293).
So pendeln sich in älterer Fachliteratur Belege zu den Besucherzahlen meist zwischen einer und höchstens zwei Millionen Pilgerinnen und Pilger ein (Paul, 2005, 1293), tatsächlich ist diese Marke im 21. Jahrhundert längst überschritten worden (2019 knapp 2,5 Millionen, darunter ca. 25% Saudis; General Authority for Statistics, 2020). Die Organisation der Pilgerfahrt hat sich im Laufe der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte deshalb verkompliziert, sodass von Pilgerinnen und Pilgern die vor 20 Jahren ihre Pilgerfahrt absolvierten einige ganz andere organisatorische Fragen beachtet werden mussten als von Pilgerinnen und Pilgern, die heutzutage ihre Pilgerfahrt antreten. Die Frage nach den Organisatoren der Pilgerfahrt wurde erst ca. 200 Jahre nach Muhammads Ableben endgültig entschieden und hat dabei auch einige Wechsel durchlaufen:
„Die Organisation der Pilgerfahrt ist spätestens seit dem 9. Jahrhundert Sache der Herrscher, die das Gebiet um Mekka kontrollieren, später besonders der Herren Ägyptens. Die osmanischen Sultane rüsteten regelmäßig mindestens zwei große Pilgerkarawanen aus, die in Kairo und Damaskus starteten. Wegen der schwierigen politischen und natürlichen Gegebenheiten und der Knappheit von Ressourcen in Mekka selbst war dies eine komplexe Aufgabe; heute besorgt die Regierung von Saudi-Arabien die nötige Logistik.“ (Paul, 2005, 1293).
Die organisatorischen Hürden werden für die saudi-arabische Regierung jährlich immer komplexer, da die Anzahl der nicht-saudischen Pilgerinnen und Pilger immer größer wird, sodass immer mehr Verkehrsbewegungen, Unterkünfte, Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen und vieles mehr berücksichtigt werden muss. Trotz großer Umsicht kommt es jährlich immer wieder zu Unfällen oder gar Todesfällen infolge von Massenpanik oder technischen Problemen.
2. Theologische Einordnung
Die historische Entwicklung der muslimischen Pilgerfahrt macht deutlich, dass die Pilgerfahrt als zentraler Aspekt der islamischen Welt gesehen werden sollte und eine gesonderte, theologische Einordnung unabdingbar ist, denn die Pilgerfahrt wurde über die Jahrhunderte hinweg „auch für Handel und wissenschaftlichen Austausch genutzt. Pilgerberichte unterstreichen das gemeinsame religiöse Erlebnis und das daraus resultierende Gemeinschaftsgefühl.“ (Paul, 2005, 1293). Die islamische Pilgerfahrt qualifiziert sich für Musliminnen und Muslime deshalb sehr deutlich als Angelpunkt religiöser Identität (→ Identität, religiöse
2.1. „Große“ Pilgerfahrt (Hadsch)
Die sogenannte „große“ Pilgerfahrt (arab. ḥaǧǧ) ist ein „Ensemble von Riten, das nur in einer festgelegten Form und zu einer festgelegten Zeit gültig absolviert werden kann. Gleichzeitig ist sie die einzige Wallfahrt, die für jede Muslima und jeden Muslim Pflicht ist: Sofern gesundheitlich und finanziell möglich, soll sie mindestens einmal im Leben unternommen werden.“ (Paul, 2005, 1292).
Die (neuere) theologische Einordnung der Pilgerfahrt ist in Relation zu den anderen muslimischen Pflichten gewissermaßen als Zusammenfassung zu werten, denn sie kann aus ganz praktischen Gründen ja nicht von allen Musliminnen und Muslimen weltweit angetreten werden: „Ist das Gebet ein Gang ins eigene Innere und das Fasten eine längere Fahrt dorthin, so rundet die Pilgerfahrt diese Reisen ab und übertrifft sie an Intensität. Hab und Gut bleiben zurück; man zieht sich einfache Kleider an, die denen ähneln, in denen die Toten gewickelt werden, um sich so den Übertritt in das jenseitige Leben ins Bewusstsein zu rufen. Die Pilgerfahrt soll daran erinnern, dass sich der Mensch auf dieser Welt auf einer Reise befindet.“ (Khorchide, 2013, 52).
Der Koran erwähnt an verschiedenen Stellen die Hadsch im Sinne der oben angesprochenen Reise und unterstreicht auf drei verschiedenen Ebenen Wesentliches (hier als Auszug nur exemplarisch je ein Verweis):
- In Sure 22, Verse 25-41 (Al-Hadsch – Die Wallfahrt) werden die Wallfahrt zur Heiligen Moschee in Mekka und damit zusammenhängende Probleme sowie die Kaaba beschrieben. [Ebene funktionaler Erzählung],
- In Sure 3, Vers 97 findet sich die Festschreibung, die Pilgerfahrt absolvieren zu können, wenn man dazu in der Lage ist, außerdem beinhaltet die Sure 22, Vers 27 die sogenannte Ausrufung der Pilgerfahrt, diese zu absolvieren und Muslime auf diese Pflicht aufmerksam zu machen. [Ebene der Regeln und Intentionen],
- In Sure 2, Vers 197 beschreibt Mittel und Wege, die Pilgerfahrt physisch und psychisch durchzustehen, und erläutert, welcher Nutzen ihr abgewonnen werden kann. [Ebene theologischer Klärung],
Diese drei Ebenen ziehen sich durch den kompletten Ritus der Pilgerfahrt (wie sich im Folgenden zeigt) und machen immer wieder deutlich, dass die Pilgerfahrt als Wallfahrt die Hingabe des Pilgers an Gott und seinen geoffenbarten Willen vertiefen soll.
2.1.1. Vor Reiseantritt der Hadsch
Zunächst einmal gilt es, die Verpflichtung der Muslime zur Hadsch näher zu durchleuchten. In der islamischen Theologie hat sich in allen sunnitischen Rechtsschulen dazu dieselbe Haltung durchgesetzt: „Jeder Moslem, der körperlich und wirtschaftlich dazu in der Lage ist, soll einmal im Leben nach Mekka pilgern, dem Ort, wo sich Gott dem Mohammed zum ersten Mal auf dramatische Weise offenbart hat.“ (Smith, 2004, 371f.).
Vor allem Fragen zur wirtschaftlichen Situation sind in der islamischen Theologie diskutiert worden, sie wurden einheitlich geklärt. Die Hadsch wird angetreten, als würde man nicht mehr zurückkehren – das heißt in der Praxis:
„Wer sich zum Hadsch entschließt, sollte zu Hause alles in Frieden und Ordnung hinterlassen. Es sollten zum Beispiel keine Schulden mehr vorhanden sein, so sollen auch für die Absolvierung der Hadsch keine Kredite aufgenommen werden. Der Pilger sollte sich friedlich verabschieden, Streitigkeiten müssen vorher beigelegt werden. Die Familie muss versorgt sein.“ (Kaddor/Müller, 2012, 26).
Grundsätzlich kann man die große Pilgerfahrt nur zwischen dem 8. und dem 10. Tag des letzten Monats des islamischen Mondkalenders (Dhū l-Hiddscha) absolvieren, sodass man die oben erwähnten Vorbereitungen bis dahin erledigt haben muss. An diesen Tagen stehen folgende Aufgaben an.
2.1.2. Dhū l-Hiddscha: Absichtserklärung, Anreise und Weihezustand (Ihrām)
Die eigentliche Hadsch (als islamischer Ritus) beginnt mit der Absichtserklärung, die Hadsch unternehmen zu wollen. Üblicherweise machen das die Pilgerinnen und Pilger kurz vor ihrem Abflug nach Saudi-Arabien bzw. bei der Verabschiedung ihrer Verwandten. Bei der faktischen Einreise in Saudi-Arabien kommenden die Pilger anschließend an eine Art „Checkpoint“, der Miqāt genannt wird – das sind „Orte an der Grenze zum heiligen Bezirk von Mekka, an denen Gläubige in den Ihram eintreten.“ (Kaddor/Müller, 2012, 27). Der Begriff Iḥrām meint einen Weihezustand:
„Die Wallfahrt ist nur gültig, wenn die Pilger sich den Bedingungen eines besonderen Weihezustandes (iḥrām) unterwerfen und die obligatorischen Wallfahrtszeremonien an den festgelegten Tagen des Monats Dhū l-Hiddscha vollführen. Iḥrām bedeutet, daß man sich nicht rasieren oder kämmen, Haare und Nägel nicht schneiden darf, sich der Jagd, des Gebrauchs von Parfum und des Geschlechtsverkehrs enthalten muß sowie die iḥrām-Tracht (zwei ungenähte weiße Tücher, eins um die Hüften, eins um die Schultern geschlungen, an den Füßen höchstens Sandalen, keine Kopfbedeckung, doch Sonnenschirm erlaubt) trägt.“ (Grotzfeld, 1992, 282, Hervorhebungen im Original – man muss allerdings hierbei sagen, dass es sich in vielen Regionen „eingebürgert“ hat, dass Pilger bereits bei der Abreise am Flughafen die Absichtserklärung sprechen und in den Weihezustand kommen).
Haben die Pilger den „Checkpoint“ (Miqāt) betreten und sind sich ihres Weihezustandes bewusst, so rufen sie auf dem Weg zur Kaaba von „diesem Moment an (bis zum Erreichen des Ziels) [...] das ‚Labbaika‘: ‚Hier komme ich zu Dir, dem niemand beigesellt ist, hier komme ich zu Dir, dem allein Preis und Ehre gebührt, und die Macht, Du, dem niemand beigesellt ist.‘“ (Paul, 2005, 1292; eine Alternativübersetzung liefern Kaddor/Müller, 2012, 28: „Hier bin ich, o Gott, hier bin ich. Hier bin ich, es gibt nichts und niemanden neben dir. Das Lob, die Zuwendung und die Herrschaft gebühren dir. Es gibt nichts und niemanden neben dir.“).
Wenn die Kaaba erreicht ist, wird sie von allen anwesenden Muslimen siebenmal gegen den Uhrzeigersinn umrundet (sogenannte Ṭawāf). Dieser von den Pilgerinnen und Pilgern durchgeführter Umrundung folgt das „Eilen zwischen den (heute als solche nicht mehr vorhandenen) Hügeln as-Safā und al-Marwa [auf einem überdachten Weg, der direkt an den Moscheehof angrenzt].“ (Paul, 2005, 1292).
Dieser Lauf soll an die Geschichte der Frau Ibrahims, Hadschar, erinnern, die in ihrer Verzweiflung Wasser für sich und ihren Sohn Ismail suchte und in der Wüstenlandschaft entsprechend umherlief (Kaddor/Müller, 2012, 28). Das Wasser aus dem Brunnen Zamzam hat der Überlieferung nach der Mutter Hadschar und ihrem Sohn Ismail das Leben gerettet (in der jüdischen und christlichen Tradition entspricht dies in Grundzügen der Geschichte von Hagar und Ismael; Gen 21,10-21
Nach diesem Lauf ziehen die Pilger „aus dem heiligen Bezirk, dem ḥaram von Mekka, hinaus zum Berg ʿArafāt, wo das Stehen (vor Gott) den Höhepunkt der Pilgerfahrt darstellt.“ (Paul, 2005, 1292, Hervorhebungen im Original).
An dieser Stelle wird ein Wandel der Rituale in den vergangenen 15 Jahren deutlich, denn mittlerweile ziehen die Pilger nicht sofort zum Berge ʿArafāt aus, sondern reisen zunächst einmal in die kleine Ortschaft Minā, die als Zeltstadt große Bekanntheit erlangt hat und verbringen dort eine Nacht (Kaddor/Müller, 2012, 29).
2.1.3. Dhū l-Hiddscha: Zeltstadt Minā, Berg ʿArafāt, Muzdalifa
Von der Zeltstadt Minā aus findet am 9. Dhū l-Hiddscha nun morgens die Fahrt zum Berge ʿArafāt statt, wo die Pilgerinnen und Pilger tagsüber vor Gott stehen (wuqūf genannt). Die Pilgerinnen und Pilger stehen vor Gott und bitten Gott um Vergebung, was bei den Pilgerinnen und Pilgern meist der emotionalste Teil der Wallfahrt ist. Nach Sonnenuntergang wandern die Pilgerinnen und Pilger vom Berge ʿArafāt in die Richtung der Ebene Muzdalifa, um dort eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen.
2.1.4. Dhū l-Hiddscha: Steinigung, Opferung, Rasur
Der 10. Dhū l-Hiddscha stellt den letzten Tag der Hadsch-Riten dar. Nach einer Nacht in Muzdalifa gehen die Pilger zu Fuß zurück in Richtung Minā und sammeln auf dem Weg dorthin kleine Steinchen auf, um auf dem Weg zurück (genauer gesagt im Tal zwischen Muzdalifa und Minā) eine Steinsäule zu bewerfen, die den Satan symbolisiert (Kaddor/Müller, 2012, 30).
Im Anschluss daran werden Opfertiere geschlachtet (der 10. Dhū l-Hiddscha ist der Tag des Opferfestes und wird von allen Musliminnen und Muslimen weltweit gefeiert, nicht nur von den Pilgerinnen und Pilgern) als Erinnerung an die koranisch-biblische Opferungsgeschichte von Ibrahim/Ismail bzw. Abraham/Isaak. „Einen Teil des Fleisches verzehren die Pilger selber (kleinere Gruppen von 10-15 Pilgern schlachten im Allgemeinen je ein Schaf oder eine Ziege), das übrige überlassen sie den Armen.“ (Grotzfeld, 1992, 282).
Die Hadsch geht nun mit einer letzten Umrundung der Kaaba und dem Verlassen des Weihezustandes Iḥrām dem Ende entgegen. Männer rasieren sich üblicherweise den ganzen Kopf und ihren Bart, während Frauen oftmals eine Haarsträhne abschneiden – beides soll einen neuen Lebensabschnitt symbolisieren.
„Wer die Pilgerfahrt nach allen Vorschriften vollendet hat, darf den Ehrentitel ‚Hadschi‘ tragen.“ (Kaddor/Müller, 2012, 30). Viele Hadschis nehmen als Zeichen ihrer erfolgreichen Absolvierung der Hadsch ihre dort getragene, ungenähte Leinen-Kleidung mit, um sich später darin beerdigen zu lassen (außerdem auch Wasser aus dem Brunnen Zamzam und meist andere Souvenirs, die sich gut transportieren lassen, wie beispielsweise kleinere Druckausgaben des Koran oder Ähnliches).
2.2. „Kleine“ Pilgerfahrt (Umra)
Anders als die große Pilgerfahrt ist die kleine Pilgerfahrt theologisch kein verpflichtendes Ritual und somit eine mandūb oder auch mustaḥabb – also eine empfohlene bzw. erstrebenswerte Handlung. Die Umra muss deshalb auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt absolviert werden und steht damit Gläubigen auf der ganzen Welt nahezu ganzjährig zur Verfügung.
Der Ablauf der Umra unterscheidet sich zunächst einmal nicht übermäßig von der Hadsch: Man tritt auch hier in den Weihezustand ein und die Regeln sind zunächst einmal dieselben. Die erste rituelle Handlung ist auch hier die siebenmalige Umrundung der Kaaba und der Lauf zwischen den beiden Hügeln. Der Rest der Umra ist hingegen offen gestaltet.
Gegenüber der großen Pilgerfahrt bietet die Umra somit den Vorteil, dass man sie beliebig oft wiederholen kann und, dass die Rituale wenig(er) Zeit in Anspruch nehmen, was die Umra für Menschen möglich macht, die beispielsweise mit schwerwiegenden Erkrankungen die Hoffnung hegen, vor ihrem Ableben die heilige Moschee in Mekka und die Umgebung (noch) einmal erleben zu dürfen.
Ein in der Literatur bisher leider wenig beachteter Aspekt ist außerdem die Kontingent-Regelung vieler islamisch-geprägter Länder bezüglich der Hadsch.
Um die Massen der Reisenden etwas einzudämmen, wird jedem Land nur eine begrenzte Zahl möglicher Hadschteilnehmerinnen und -teilnehmer zugewiesen; die damit verbundene Organisation wird meist über das staatliche Religionsministerium bzw. über große Islamverbände abgewickelt (→ Islamische Religionsgemeinschaften als institutionelle Einrichtung(en) in Deutschland
Die Umra bietet gerade auch solchen Familien, die vielleicht schon seit einigen Jahren auf ihre Ziehung warten, die Möglichkeit, die Stätten unabhängig von der großen Wallfahrt kennenzulernen.
3. Religionspädagogische Einordnung
Innermuslimisch ist zu beachten, dass viele Musliminnen und Muslime aufgrund der Kontingentregelung mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit keine Pilgerreise oder ihre Reise erst im relativ hohen Alter antreten können. Auch für Musliminnen und Muslime verbindet sich daher mit der Reise ein gewisser Abstand, bzw. Erfahrungen, die nur indirekt gemacht werden können.
Viele erwachsene Muslime lernen erst im Rahmen eines Koran- oder Moscheeunterrichts etwas mehr über die Pilgerfahrt, ihre theologische Einordnung und ihren Ablauf. Die unterrichtenden Personen sind in der Regel Imame, die wiederum für die Islamverbände, die die Moschee als Trägerverein betreiben, oftmals auch die Pilgerfahrten für die Gemeindemitglieder durchführen.
Für Erwachsene heißt das konkret: Man meldet sich bei seiner Moscheegemeinde für eine Pilgerfahrt an und sobald genug Mitglieder zusammengekommen sind, lädt der Islamverband bzw. der Imam zu Pilgerfahrt-Unterricht ein, also einer Art „Crashkurs“, um Details zu besonderen Gebeten, Fragen des Ablauf usw. zu lernen.
Für nicht-muslimische Religionspädagoginnen und -pädagogen ist daher noch einmal zu betonen, dass vertiefte und ausgeprägte Detailkenntnis über die islamische Pilgerfahrt bei einem „normalen“ Gläubigen eher nicht vorausgesetzt werden sollten.
Natürlich ist jede (Pilger-)Reise auch mit individuellen Entwicklungs- und Lerneffekten verbunden, weshalb jede Wallfahrt selbst grundsätzlich als Bildungs- oder auch Lernort gesehen werden sollte (→ Wallfahrt als religiöser Lernort
Die islamische Pilgerfahrt wird deshalb für Nicht-Musliminnen und -Muslimen in der Außenperspektive vermittelt: entweder als unmittelbarer Lernstoff im Zusammenhang der sogenannten „fünf Säulen des Islam“ oder im Kontext eines Dialogs mit muslimischen Mitschülerinnen und Mitschülern sowie eingeladenen Expertinnen und Experten (→ Interreligiöses Begegnungslernen
Im (Religions-)Unterricht ist es wichtig darauf zu achten, dass die Pilgerfahrt nicht nur als Abfolge von Stationen dargestellt und rezipiert, sondern auch ihr Bezug zu spirituellem Erleben, also ihr Transzendenzbezug deutlich wird (→ Interreligiöses Lernen
Hilfreich kann dabei ein Bezug zu individuellen Erfahrungen sein. Das heißt in der Praxis, dass sich die Schülerinnen und Schüler am ehesten unterrichtlich an die islamische Pilgerfahrt heranführen lassen, wenn der Unterricht mit einem individuenbezogenen Ansatz geplant ist, also den Schülerinnen und Schüler eine muslimische Person die Pilgerfahrt in verschiedenen Details und Facetten näherbringt.
Es bietet sich an, dass das Unterrichtsmaterial neben audio-visuellen Elementen auch Interviews über das innere Erleben enthält und so den Schülerinnen und Schülern verschiedene Zugänge anbietet. Die Erlebnisse und Sichtweisen der Protagonistin bzw. des Protagonisten (oder vielleicht auch die Art der Aufbereitung des Materials) können bei der Rezeption der Schülerinnen und Schüler eigene Sichtweisen, Erlebnisse und Einstellungen anstoßen, die wiederum unterrichtlich zum Thema gemacht werden können. Dies bietet sich zum Beispiel bei den Steinwürfen auf den Teufel/das Böse an. Insgesamt können aber auch Themen wie Aufbruch, Neuanfang oder Auszeiten, bzw. Zeiten zur inneren Besinnung mit Schülerinnen und Schüler als Brücke zu Diskussionen genutzt werden.
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