Religionsunterricht, bilingualer
Andere Schreibweise: Content and Language Integrated Learning (CLIL) in Religious Education; Bilingualer oder fremdsprachiger Sachfachunterricht Religion
(erstellt: Februar 2021)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionsunterricht_bilingualer.200946
1. Einführung
„Bilingualer Sachfachunterricht und mit ihm bilinguale Ausbildungsgänge dürften zu den bedeutsamsten Veränderungen im deutschen Schulsystem innerhalb der letzten Jahre, ja vielleicht sogar der letzten Jahrzehnte gehören“ (Breidbach, 2002, 11). Der bilinguale Unterricht hat sich zu einem „begehrten Unterrichtskonzept“ entwickelt, „das seit einigen Jahren einen wahren Trend in der deutschen Schullandschaft darstellt“ (Ohlberger/Wegner, 2018, 46). Diese Urteile von selbst an der Weiterentwicklung von bilingualem Unterricht beteiligten Fachleuten deuten einen regelrechten Boom des bilingualen Lehrens und Lernens (auch: fremdsprachiger Sachfachunterricht; englisch: Content and Language Integrated Learning, CLIL) an deutschen → Schulen
Für diesen Boom gab es mehrere Gründe: Aus fremdsprachendidaktischer Sicht hat die Einsicht in Beschränktheiten eines isolierten und oftmals artifiziell wirkenden Fremdsprachenunterrichts an den Schulen die Perspektiven für den fremdsprachigen Sachfachunterricht als attraktive und effektive Ergänzung in den Blick kommen lassen, denn dort wird die Fremdsprache als Arbeitssprache verwendet, d.h. es geht hier um „echte“, inhaltsorientierte Kommunikation, die jener in einem fremden Land nahekommt. Aus der Sicht einer interkulturellen Pädagogik (→ Interkulturalität/Ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration
Eine internationale Studie zur Verbreitung bilingualen Religionsunterrichts (biliRU) liegt bislang nicht vor. Eine Internetrecherche zu den Stichwörtern CLIL und religious education zeigt aber, dass es in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern (z.B. Schweden, Norwegen, Finnland, Griechenland, Spanien, Australien) Schulen gibt, die Religion zumindest in einzelnen Jahrgängen fremdsprachig erteilen (→ Religionsunterricht, international
Die folgende Darstellung ist getragen von der Überzeugung und Erfahrung, dass der RU sich gut als Bilingual-Fach eignet und dabei auch in seinen genuinen Zielen und Aufgaben von der Fremdsprachigkeit profitieren kann. Dabei wird Bezug genommen auf Unterrichts- und Forschungserfahrungen aus dem „Netzwerk bilingualer Religionsunterricht“ (www.biliru.de
2. Der bilinguale Religionsunterricht in Deutschland: ein Überblick
2.1. Bilingualer Religionsunterricht und bilinguale Religionsunterrichtsangebote
Wie die folgende Übersicht zeigt, gibt es deutschlandweit unterschiedliche bilinguale Religionsunterrichtsangebote, die wir in diesem Artikel allesamt unter dem Kürzel „biliRU“ subsumieren.
2.1.1. Englische Texte im deutschsprachigen Religionsunterricht
Den geringsten Aufwand erfordert die Integration kurzer englischsprachiger Texte in den deutschen RU (→ Textarbeit
2.1.2. Englischsprachige Module
Die flexibelste und organisatorisch einfachste Variante fremdsprachigen RUs sind zeitlich und thematisch begrenzte Module (siehe auch Pirner, 2013). Bilinguale Module bieten sich insbesondere bei Themen mit angelsächsischem und internationalem Bezug an; aber auch bei Standardthemen des RU wie z.B. Jesus Christus, die Bibel oder Reformation kann sich aus religionsdidaktischer Sicht ein produktiver Mehrwert ergeben (siehe Abschnitt 3).
2.1.3. Englischsprachige Halbjahres- oder Jahreskurse
Bilinguale Halbjahres- oder Jahreskurse sind nur als Wahlangebot möglich. Sie erfordern die Abstimmung mit Schulleitung und Erziehungsberechtigten, eventuell auch mit der zuständigen Schulbehörde. Das Lessinggymnasium Braunschweig bietet seit mehreren Jahren einen konfessionell-kooperativen englischsprachigen RU (→ Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht
2.1.4. Bilinguale Seminarfächer
An Schulen mit bilingualem Unterricht in der Sekundarstufe I ist das wissenschaftspropädeutische Seminarfach (Seminarkurs, W-Seminar) eine Möglichkeit, den bilingualen Unterricht der Sekundarstufe I unter einer fächerübergreifenden bzw. fächerverbindenden Fragestellung bekenntnisunabhängig in der Gymnasialen Oberstufe fortzuführen. Mit gewissen Abstrichen sind bilinguale Seminarfächer aber auch ohne bilingualen Vorlauf in der Sekundarstufe I möglich. Erprobte Seminarfachthemen mit Religionsbezug sind z.B.:
- „World Religions and World Peace“ (Gymnasium Bad Nenndorf, Abitur 2014);
- „Life in a Globalized World: Clash or Dialogue of Religions?“ (Albertus-Magnus Gymnasium Friesoythe, 2014/15);
- „South Africa –The Dynamics of Change” mit dem Unterthema „Truth and Reconciliation Commissions” (Sigmund-Schuckert-Gymnasium Nürnberg, 2019/20).
2.1.5. Internationale Begegnungen
Medial vermittelte „eTwinning-Projekte“ und direkte Begegnungen im Rahmen von Schulpartnerschaften und internationalen Schulnetzwerken helfen Schülerinnen und Schülern, Erfahrungen im interkulturellen bzw. interreligiösen und interweltanschaulichen Austausch zu sammeln und Dialogstrategien im Medium der englischen Sprache zu erproben. Beispiele von eTwinning-Projekten sind „eTwinnies and the World Religions“ (Walt-Disney-Grundschule Berlin, 2012) und „Teaching Hinduism, Buddhism and the meaning of life in all the major religions“ (Sigena-Gymnasium Nürnberg, 2018). Eine Handreichung bietet die KMK (https://www.kmk-pad.org/service/publikationen/detailseite/projektkit-teaching-hinduism-buddhism-and-the-meaning-of-life-in-all-the-major-religions.html
2.1.6. Feiern in englischer Sprache
Gemeinsames Feiern religiöser Feste (→ multireligiöse Schulandachten
2.1.7. Verbreitung bilingualen Religionsunterrichts
Das „Netzwerk biliRU“ (www.biliru.de
2.2. Lehrpersonen und Lehrkräftebildung
Meist unterrichten solche Lehrkräfte biliRU, die sowohl Englisch als auch Religion als Unterrichtsfächer haben, teilweise aber auch Religionslehrkräfte, die eine Affinität zur englischen Sprache haben bzw. einen entsprechenden biographischen Hintergrund aufweisen. Die Fächerkombination Englisch und evangelische bzw. katholische Religionslehre ist in den alten Bundesländern weiter verbreitet als in den neuen (in diesen ist die Kombination Englisch und → Ethik
Förmliche Qualifikationen für bilingualen Unterricht können im Studium, im Vorbereitungsdienst oder berufsbegleitend erworben werden (Heinemann, 2018, 29-31). Verschiedene Universitäten (Stippl, 2017) und die Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg haben entsprechende Zertifikatskurse oder Studiengänge, in die zum Teil auch Religion als Fach eingebunden ist (vor allem in den Europalehramts-Studiengängen der Pädagogischen Hochschulen Freiburg und Karlsruhe).
Fortbildungsangebote speziell für biliRU hat es an der PH Karlsruhe und an der Universität Erlangen-Nürnberg gegeben; in Nürnberg wird im Rahmen des erwähnten „Netzwerks biliRU“ in regelmäßigen Abständen ein Studientag als Fortbildungsveranstaltung angeboten (vgl. www.biliru.de).
3. Religionsdidaktische Argumente für den bilingualen Religionsunterricht
Der RU eignet sich wegen seiner großen Gegenstandsbreite, seiner Sprach- und Diskursorientierung sowie wegen seiner interkulturellen Dimensionen besonders gut als (englisches) Bilingual-Fach. Diese Feststellung aus fremdsprachendidaktischer Perspektive ist zu ergänzen durch Argumente aus religionsdidaktischer Perspektive, denn so wie andere fremdsprachige Sachfächer soll der biliRU nicht lediglich für das Fremdsprachenlernen instrumentalisiert werden.
Das zentralste religionsdidaktische Argument leitet sich von dem Ziel des RU ab, die Schülerinnen und Schüler in religiösen und ethischen Fragen sowie insbesondere für interkulturelle und interreligiöse Begegnungen kommunikationsfähig zu machen. Angesichts der allgemeinen Globalisierung sowie eines zusammenwachsenden Europas, aber auch der zunehmenden kulturellen Vielfalt im eigenen Land wird die englische Sprache als Verständigungssprache immer wichtiger. Es ist von daher zu fordern, dass die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, fremdsprachlich zu kommunizieren, auch die Bereiche religiöser, ethischer und existenzieller Themen einbezieht, wie sie im RU behandelt werden (→ Interreligiöse Kompetenz
Ein weiteres Argument für den biliRU verweist darauf, dass unsere → Lebenswelt
Chancen des biliRU zeigen sich weiter im Rahmen einer Religionsdidaktik der Verfremdung (Berg, 1986), welche die Verfremdungseffekte durch die Fremdsprache nicht nur als Lernhindernisse, sondern immer auch als Chance sieht, Gewohntes oder – wenn auch manchmal nur scheinbar – Bekanntes durch die Thematisierung in einer anderen Sprache neu und anders wahrzunehmen. Dies gilt sowohl für die Lebenswelt als auch für die religiöse Überlieferung (→ Fremdheit als religionsdidaktische Aufgabe
Zudem bringt die Fremdsprachigkeit das Potenzial zur Überwindung eines weit verbreiteten Deutschland- oder Euro-Zentrismus im RU mit sich. Die Kulturbedeutung des Christentums im positiven und negativen Sinn lässt sich aktuell im Blick auf ostasiatische, afrikanische oder amerikanische Länder vielleicht sogar eindrücklicher zeigen als im Rückblick auf die mitteleuropäische Geschichte.
Auch bei persönlich-existenziellen Themen stellt die Fremdsprache nicht nur eine Herausforderung dar, sondern bietet auch besondere Chancen: Die Kommunikation in der Fremdsprache kann gerade eine Distanz zum eigenen affektiven Erleben fördern, welche die Fähigkeit zur Kommunikation und Reflexion über persönlich Angehendes unterstützt.
Schließlich eröffnet die Fremdsprachigkeit auch neue Verständnismöglichkeiten für religiöse → Sprache
4. Perspektiven für eine bilinguale Sachfachdidaktik Religion
Die im Abschnitt 3 angeführten Aspekte sind nicht nur als Argumente für einen bilingualen RU zu verstehen, sondern lassen auch bereits erkennen, dass es unterschiedliche Gründe für RU auf Englisch gibt und dass diese Gründe mit unterschiedlichen Themenfeldern des RU zu tun haben. Im Folgenden sollen darum differenzierend einige didaktische Perspektiven für die diversen Themenfelder des RU skizziert werden.
4.1. Bibelorientierte Themenfelder
Forschungen und die Erfahrungen von Lehrkräften stimmen darin überein, dass biblische Themen eher zu den ungeliebten Inhalten des RU in der Sekundarstufe gehören (→ Einstellungen zur Bibel, von Jugendlichen
Und schließlich gilt auch für die biblische Sprache, dass sich hier im Englischen teilweise andere begriffliche Konnotationen und Differenzierungen etabliert haben, die ein neues Licht auf bekannte biblische Perikopen werfen, z.B. Abraham Tested (Gen. 22
4.2. Kirchengeschichtliche Themenfelder
Die besonderen Chancen für kirchengeschichtliche Themenfelder (→ Kirchengeschichtsdidaktik
4.3. Theologische und ethische Themenfelder
Auch hier ist oben (Abschnitt 3) bereits eine Chance des biliRU angesprochen worden: Gerade bei sehr persönlichen Themen wie etwa dem Glauben an → Gott
4.4. Themenfelder des interkonfessionellen, interkulturellen und interreligiösen Lernens
Auch für interkonfessionelles, interkulturelles und → interreligiöses Lernen
Zudem kann die Englischsprachigkeit dazu anregen, ein eklatantes Defizit des gängigen RU zu bearbeiten: Bei aller Betonung des konfessionell-kooperativen und interreligiösen Lernens kommt häufig das interkulturelle Lernen zu kurz, d.h. die Erkenntnis und Erfahrung, dass die gleiche(n) → Konfession(en)
4.5. Lebensweltliche Themenfelder
Auch wenn sie teilweise dem ethischen Bereich zugeordnet werden können, sollen hier lebensweltliche Themen eigens genannt werden. Besonders die Bereiche der → populären Kultur
5. Forschung zum bilingualen Religionsunterricht
Die Forschung zum bilingualen Unterricht ist sehr stark aus den Bedürfnissen der schulischen Praxis heraus entstanden. Dies gilt auch und in besonderer Weise für den biliRU.
5.1. Forschungsergebnisse zum bilingualen Lehren und Lernen (Content and Language Integrated Learning, CLIL)
Nach einem Überblick über die empirische Forschung (→ Unterrichtsforschung, empirische
5.2. Forschungsergebnisse zum bilingualen Religionsunterricht
Die insgesamt positiven Ergebnisse zum bilingualen Lehren und Lernen lassen sich auch für den RU bestätigen. Eine erste qualitativ-empirische Fallstudien-Analyse von biliRU wurde 2005 in der neunten Klasse eines Gymnasiums mit bilingualen Profil, dem Königin-Olga-Stift in Stuttgart, durchgeführt (vergleiche zum Folgenden genauer: Pirner, 2007; Aichler, 2007). Der halbjährige biliRU wurde auf der methodischen Basis der → Grounded Theory
These 1: Die Probleme durch die Englischsprachigkeit halten sich in Grenzen und beeinträchtigen die religionsunterrichtlichen Lernprozesse nur wenig.
These 2: Durch die sprachlichen Herausforderungen im bilingualen RU ergeben sich lernproduktive Nebenwirkungen.
These 3: Die Englischsprachigkeit verbessert tendenziell die Motivation und Einstellung der Schülerinnen und Schüler zum RU.
These 4: Die fremde Sprache ermöglicht lernproduktive Erfahrungen von Perspektivität und Selbstdistanzierung.
These 5: Die erhöhten Anforderungen an die Lehrkraft führen zu einer intensiveren, problem- und sprachbewussteren Unterrichtsvorbereitung und -durchführung.
Die im Stuttgarter Pilot-Projekt angewendeten Methoden wurden weiter-entwickelt und sind, insbesondere die Fragebögen, inzwischen im Rahmen mehrerer Master- oder Staatsexamensarbeiten eingesetzt worden. Die aufgestellten Thesen haben sich dabei im Wesentlichen bestätigen lassen.
Eine besondere Erwähnung verdient die Begleitforschung in der Anfangsphase des oben bereits erwähnten biliRU-Projekts, das erstmals im Schuljahr 2014/15 am Lessinggymnasium Braunschweig durchgeführt wurde und seitdem – auch unterstützt durch die positive Evaluation – regelmäßig angeboten wird. Der jahrgangsweise → konfessionell-kooperative Religionsunterricht
Eine erste Dissertation zum (katholischen) biliRU ist 2009 an der Universität Wien vorgelegt worden. Neben theoretischen Überlegungen enthält sie die Ergebnisse von Interviews mit fünf Lehrkräften an Wiener Gymnasien, die die Verfasserin zu deren Erfahrungen mit englischsprachigem RU befragt hat. Als Fazit plädiert sie unter anderem für eine reflektierte Auswahl und Aufbereitung der Themen, einen sorgfältigen, kritischen Umgang mit dem – notwendigerweise häufig selbst zusammengesuchten – englischsprachigen Material sowie für eine möglichst enge Kooperation zwischen Englisch- und Religionslehrkraft (Hübner, 2009, 168f.). Auf der Basis ihrer Forschungen hat Hübner selbst eine fächerübergreifende, stark von Freiarbeitselementen geprägte Unterrichtseinheit Englisch-Religion in einer fünften Wiener Gymnasial-Klasse (entspricht in Deutschland der neunten Klasse) durchgeführt und evaluiert, die im Wesentlichen auf der Ganzschriftlektüre von Sharon Drapers Roman „Tears of a Tiger“ aufbaute. Die berichteten Ergebnisse waren überwiegend positiv, insbesondere war laut Hübner eine hohe Motivation der Schülerinnen und Schüler zu erkennen, selbst in lehrerunabhängigen Arbeitsgruppen englisch zu sprechen (Hübner, 2009, 93).
Der kurze Forschungsüberblick hat deutlich gemacht, dass sich jede Lehrkraft durch die empirischen Befunde ermutigt fühlen kann, biliRU selbst auszuprobieren bzw. weiter durchzuführen und auch eigenständig zu evaluieren – hierzu geben das erwähnte Praxisbuch (Pirner/Green/Büngener, 2021) sowie die Website www.biliru.de
Literaturverzeichnis
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