Urteilskompetenz
Andere Schreibweise: Urteilsfähigkeit; Urteilsbildung; moralisches Urteil; ethisches Urteil; urteilen; Urteilsbildungsprozess
(erstellt: Februar 2022)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Urteilskompetenz.201016
1. Urteilskompetenz – konstituierende Merkmale
Urteilskompetenz gilt als die Fähigkeit, eine eigenständige Positionierung im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf eine kontroverse Fragestellung entwickeln und unter Berücksichtigung der vom Urteilsentscheid Betroffenen und unter Abwägung der Folgen begründen zu können (Thein, 2016, 88; Kayser/Hagemann, 2010, 38; Muth, 2021). Urteilsbildung ist ein Prozess, der Wissen (beispielsweise über den zu beurteilenden Sachverhalt und über Urteilskategorien), Fähigkeiten (beispielsweise Argumentationsfähigkeit) und Haltungen, also auf normativen Überzeugungen gründende Bewertungen, einschließt.
Das Bilden eines Urteils beruht konstitutiv auf zwei Voraussetzungen: Zum einen muss die Fragestellung kontrovers sein. Das heißt, dass es mindestens zwei konfligierende vertretbare Positionen in Bezug auf die zu beurteilende Fragestellung geben muss. Ist dies nicht der Fall, wird ein Urteil obsolet, da Urteilsbildungen eine Entscheidung voraussetzen. Zum anderen muss die Wahl einer Position für den Urteilenden offen sein, d.h., dass die Wahl nicht vorab determiniert sein darf.
2. Urteilskompetenz im Religionsunterricht
2.1. Die Rolle der Bekenntnisorientierung im Urteilsbildungsprozess
Eine Besonderheit des Religionsunterrichts ist seine verfassungsrechtlich verankerte Bekenntnisorientierung, welche normative Aspekte und spezifische Wertvorstellungen einschließt (→ Religionsunterricht, evangelisch
Im Fach Religion hat sich die Differenzierung zwischen Sach- und Werturteil in den bildungsadministrativen Vorgaben nicht durchgesetzt. Dies kann darin begründet sein, dass die religionspädagogischen Diskurse von vornherein Werturteile zum Beispiel in Bezug auf Gerechtigkeits- und Gottesbilder, Sterbehilfe, Umweltschutz etc. im Blick haben, während die Differenzierung gerade in der Geschichts- und Politikdidaktik in erster Linie zur Stärkung der Werturteile dient.
Breit diskutiert ist in der Religionspädagogik die Zulässigkeit und Relevanz von Wertebildung im Religionsunterricht (u.a. Lindner/Zimmermann, 2021; Lindner, 2017; Dressler, 2002, 264; Dressler 2006, 186f.; Schweitzer, 2015, 23; → Bildung, Werte-
Der Verweis auf die Fächer Ethik (→ Ethikunterricht
2.2. Spezifika von Urteilkompetenz im Religionsunterricht
Spezifisch für Urteilsfähigkeit im Kontext religiöser Bildung (→ Bildung, religiöse
Eine besondere Art der Fragestellung stellen darüber hinaus metaphysische Urteilsfragen dar, die beispielsweise Gottes- oder Jenseitsvorstellungen (→ Gott
Theresa Schwarzkopf hat für die Bewertung metaphysischer Urteilsentscheide folgende vier Qualitätsmerkmale herausgearbeitet: 1. inhaltliche Kohärenz, 2. das Nutzen von Argumenten auf Modellebene (d.h. die Durchdringung fremder Modelle und die distanzierte Betrachtung der eigenen Argumente als Modelle), 3. die Möglichkeit der Perspektivübernahme anderer Positionen sowie 4. die sachbezogene Angemessenheit der Argumente und Schlussfolgerungen (Schwarzkopf, 2016, 178f.).
2.3. Bildungsadministrative Vorgaben
In den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) der Fächer evangelische und katholische Religionslehre wird Urteilsfähigkeit neben Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit, Deutungsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit als eine von fünf für den Religionsunterricht zentralen Kompetenzen benannt (EPA ev. Religion, 2006, 8f.; EPA kath. Religion, 2006, 7f.). Da die EPA die einzige bundesweit geltende Vorgabe ist, während andere Curricula (→ Lehrplan
In dem vom Comenius-Institut entwickelten Kompetenzmodell für religiöse Bildung werden fünf „Dimensionen der Erschließung von Religion“ benannt, welche Parallelen zu den fünf Kompetenzen der EPA aufweisen. In diesen ist „urteilen“ der Dimension „Interaktion“ und „entscheiden“ der Dimension „Partizipation“ zugeordnet (Fischer/Elsenbast, 2006, 19f.; → Kompetenzorientierter Religionsunterricht
In der Fachpräambel der EPA wird Urteilsfähigkeit inhaltlich gefasst und die Bedeutung von Urteilskompetenz stark hervorgehoben: Schülerinnen und Schüler sollen zur eigenständigen Urteilsfindung befähigt werden, was eine argumentative und sachkundige Teilhabe „am gesellschaftlichen Diskurs über Glauben und Leben“ ermöglichen soll (EPA ev. Religion, 2006, 6). Urteilsfähigkeit wird hier nicht nur im Sinne von Argumentationsfähigkeit gedacht, sondern als Weg der Orientierungsfindung in der Welt (EPA ev. Religion, 2006, 6). Erreicht wird die Befähigung zur eigenständigen Urteilsbildung laut den EPA durch eine dialogische Auseinandersetzung mit anderen Positionen, wobei der Religionsunterricht im Vergleich zu anderen Fächern vor allem darauf angelegt sei, religiöse und dezidiert christliche Traditionen sowie theologische Argumentationsformen in diesen Prozess einzubinden (EPA ev. Religion, 2006, 6).
Die Kompetenz wird durch folgende Punkte unter der Überschrift „in religiösen und ethischen Fragen begründet urteilen“ konkretisiert:
- „deskriptive und normative Aussagen unterscheiden
- Formen theologischer Argumentation vergleichen und bewerten
- Gemeinsamkeiten von Konfessionen und Religionen sowie deren Unterschiede erklären und kriteriengeleitet bewerten
- Modelle ethischer Urteilsbildung kritisch beurteilen und beispielhaft anwenden
- die Menschenwürde theologisch begründen und als Grundwert in aktuellen ethischen Konflikten zur Geltung bringen
- im Kontext der Pluralität einen eigenen Standpunkt zu religiösen und ethischen Fragen einnehmen und argumentativ vertreten“ (EPA ev. Religion, 2006, 8f.; EPA kath. Religion, 7f.).
Obwohl die Bedeutung von Urteilskompetenz als Teil religiöser Bildung in den EPA hervorgehoben wird, lässt die Konkretisierung der Kompetenz eine Systematisierung sowie die Ausformulierung von Qualitätsmerkmalen missen.
3. Modelle und Stufentheorien zur Urteilskompetenz
3.1. Stufentheorien zum Urteilsbildungsprozess
Um den Urteilsbildungsprozess genauer beschreiben zu können, wurden Stufenmodelle erstellt. In der Religionspädagogik wurde die „Ethische Theorie sittlicher Urteilsbildung“ von Heinz Eduard Tödt breit zitiert, welche dieser bereits 1988 vorlegte (Tödt, 1988). Seine Theorie wurde verschiedentlich weiterentwickelt. Exemplarisch ist die Stufentheorie von Hans-Richard Reuter zu nennen, die den Urteilsbildungsprozess in vier Stufen beschreibt (Reuter, 2015,112-116):
1. Beschreibung des Kontextes
Wahrnehmung und Analyse
- relevanter Fakten und (rechtlicher) Rahmenbedingungen
- der Interessen, Ansprüche, Lösungsmöglichkeiten, Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten der Betroffenen
- des gelebten Ethos, von Intuitionen und etablierten Überzeugungen
2. Identifizierung der ethischen Perspektive(n), Kriterien und Ordnungen
- Präzisierung von Perspektiven und Leitmotiven
- das Ausweisen von Wirklichkeitsannahmen
- Identifizieren konkreter handlungsleitender Orientierungen
3. Prüfung, Bewertung und Abwägung
- Hierarchisierung handlungsleitender Orientierung
- Bewertung der erforderlichen Mittel und Folgen
4. Entscheidung und Umsetzung
- willentliche Zustimmung und praktische Bejahung des Entscheides
- Spannungen und Kompromisse austarieren
Auch in anderen Fachdidaktiken sind Modelle dieser Art entstanden (beispielsweise Meyer/Felzmann, 2011, 130-146; Lach, 1997, 159-178). Sie ähneln sich in der Abfolge der benannten Schritte. Mit Blick auf diese Modelle wird der Prozesscharakter des Urteilens betont, welcher als zirkulär und nicht linear charakterisiert wird, sodass manche der benannten Schritte wiederholt durchlaufen werden müssen (Reuter, 2015,112-116). Implizit enthalten die Modelle Qualitätsmerkmale der Urteilsbildungen wie beispielsweise die Reflexion divergierender Perspektiven und Normen.
3.2. Qualitätsmerkmale und Niveaustufenmodelle von Urteilsfähigkeit
Der Diskurs über Qualitätsmerkmale für Urteilsbildungen wurde von Lawrence Kohlbergs vielbeachteter Längsschnittstudie zur moralischen Entwicklung stark geprägt, für welche er Probanden Dilemmageschichten beurteilen ließ (Kohlberg, 1996; → Dilemmageschichte, Religionsunterricht
Um Urteilskompetenz qualitativ fassen und im Sinne der Kompetenzorientierung auch angemessen fördern und bewerten zu können, sind an Kohlberg anknüpfend Niveaustufenmodelle entwickelt worden, von denen zwei im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden (darüber hinaus auch Schwarzkopf, 2016, 179-188; Benner/Nikolova, 2016): Aufbauend auf Kohlbergs Studie entwickelte Georg Lind einen „Moralische-Kompetenz-Test“ (Lind, 2000). Der Test misst moralische Kompetenz an ihrer „moralischen Strukturiertheit“, worunter Lind die Orientierung an moralischen Kriterien unabhängig einer Meinungskonformität versteht (Lind, 2000, 81). Lind benennt folgende vier Niveaustufen für Urteilskompetenz (Abb. 1):
Eine weitere Ausdifferenzierung von Urteilkompetenz in Niveaustufen lässt sich in einer empirischen Studie der Biologiedidaktikerin Elke Visser (2014) finden. Sie differenziert drei Diagnosebereiche: deskriptive Aspekte, normative Aspekte und argumentative Kompetenz, und benennt für jeden Bereich drei bis vier Niveaustufen (Visser, 2014).
In Bezug auf die deskriptiven Aspekte benennt sie folgende Niveaustufen (Abb. 2):
Die normativen Aspekte betreffen die Offenlegung der für den Urteilsentscheid ausschlaggebenden Werte (Abb. 3):
Für die Plausibilität sind nach Visser folgende Merkmale zentral:
- „Formulierung einer Stellungnahme
- Nennung funktionaler Argumente
- Nennung von Gegenargumenten
- Abwägung der Argumente unterschiedlicher Positionen
- Nennung eingeschränkter Bedingungen: Nennung konditionaler Argumente (Auseinandersetzung mit potenziellen Gegenargumenten)“ (Visser, 2014, 292f.).
Visser unterscheidet in Bezug auf die Argumentation (Abb. 4):
Betrachtet man die Bewertungskriterien für Urteilsfähigkeit in Erwartungshorizonten schriftlicher Abiturprüfungen (→ Leistungsmessung, Leistungsbewertung
3.3. Religionsdidaktische Reflexion zur Nutzung der Modelle
Die vorgestellten Stufenmodelle können im Religionsunterricht helfen, den Urteilsbildungsprozess zu strukturieren und zu einem detaillierteren Verständnis des Urteilens führen. In den Fachdidaktiken werden sie jedoch auch kritisch diskutiert. Es wird ihnen ein zu stark rationaler und formalistischer Zugang vorgeworfen, der den Blick für die konkrete inhaltsbezogene Fragestellung verstellt und Urteilskompetenz zu einer Methodenkompetenz degradiert, die durch das „Abarbeiten“ vorgegebener Stufen erfüllt werden könne. Es gibt daher auch intuitionistische, didaktische Ansätze wie den der „ethischen Könnerschaft“ oder die „Lehrstückdidaktik“, welche sich bewusst dem rationalistischen Paradigma entziehen und auch affektive und emotionale Bestandteile des Urteilens betonen (Dickel, 2020, 71-99; Ziegler, 2020; 47-70) (→ Ethische Bildung und Erziehung
Vieldiskutiert sind die von dem US-amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt unter dem Titel „The Emotional Dog and Its Rational Tail“ veröffentlichten Forschungsergebnisse (Haidt, 2001, 814-834). Haidt stellt die primäre Kognitivität von Urteilsentscheiden prinzipiell in Frage und betont demgegenüber die Rolle der Intuitionen und Emotionen in Urteilsbildungsprozessen (Haidt, 2001, 814-834). Er vertritt die Auffassung, dass Urteile – anders als es die Stufenmodelle zur Urteilsbildung suggerieren – primär emotional getroffen und erst sekundär rational begründet werden (Haidt, 2001, 814-834).
Dem lässt sich entgegnen, dass das systematisierte, rationale Abwägen unterschiedlicher Perspektiven zu Klarheit der eigenen Position und zur Wahrnehmung von Komplexität führen kann, für welches der vom alltäglichen Handlungsdruck befreite Raum des Unterrichts eine besondere Chance bietet. Aus kompetenzorientierter Perspektive scheint zentral, Komplexität durch die Modelle nicht vorschnell reduzieren zu wollen, sondern die Lernenden anzuregen, sich auf einen ergebnisoffenen Suchprozess zu begeben, der immer an eine konkrete inhaltliche Frage gebunden ist, und auch als Lehrperson offen zu sein für ein gemeinsames ergebnisoffenes Fragen. So bringt Mirka Dickel die zentrale Bedeutung der Fragehaltung für Urteilsbildungsprozesse folgendermaßen treffend auf den Punkt: „Ein Schüler, der ernste, also eigensinnige Fragen stellt, der etwas ernsthaft wissen will, handelt moralisch“ (Dickel, 2020, 91). Lernende in diese Fragehaltung zu führen, die auch metaphysische Fragestellungen nach Gott und dem Sinn des Lebens nicht aus der Urteilsbildung ausspart und diese mit ethischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen in einen Dialog bringt, ist ein Spezifikum religionspädagogischer Bildungsprozesse und somit ein wichtiger Teil des gesamtschulischen Auftrags, eigenständige Urteilsfähigkeit zu fördern.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
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- Niveaustufen der deskriptiven Aspekte. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 289.
- Niveaustufen normative Aspekte. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 278.
- Niveaustufen für die Teilkompetenz Argumentieren. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 280.
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