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Urteilskompetenz

Andere Schreibweise: Urteilsfähigkeit; Urteilsbildung; moralisches Urteil; ethisches Urteil; urteilen; Urteilsbildungsprozess

(erstellt: Februar 2022)

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1. Urteilskompetenz – konstituierende Merkmale

Urteilskompetenz gilt als die Fähigkeit, eine eigenständige Positionierung im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf eine kontroverse Fragestellung entwickeln und unter Berücksichtigung der vom Urteilsentscheid Betroffenen und unter Abwägung der Folgen begründen zu können (Thein, 2016, 88; Kayser/Hagemann, 2010, 38; Muth, 2021). Urteilsbildung ist ein Prozess, der Wissen (beispielsweise über den zu beurteilenden Sachverhalt und über Urteilskategorien), Fähigkeiten (beispielsweise Argumentationsfähigkeit) und Haltungen, also auf normativen Überzeugungen gründende Bewertungen, einschließt.

Das Bilden eines Urteils beruht konstitutiv auf zwei Voraussetzungen: Zum einen muss die Fragestellung kontrovers sein. Das heißt, dass es mindestens zwei konfligierende vertretbare Positionen in Bezug auf die zu beurteilende Fragestellung geben muss. Ist dies nicht der Fall, wird ein Urteil obsolet, da Urteilsbildungen eine Entscheidung voraussetzen. Zum anderen muss die Wahl einer Position für den Urteilenden offen sein, d.h., dass die Wahl nicht vorab determiniert sein darf.

2. Urteilskompetenz im Religionsunterricht

2.1. Die Rolle der Bekenntnisorientierung im Urteilsbildungsprozess

Eine Besonderheit des Religionsunterrichts ist seine verfassungsrechtlich verankerte Bekenntnisorientierung, welche normative Aspekte und spezifische Wertvorstellungen einschließt (→ Religionsunterricht, evangelisch; → Religionsunterricht, katholisch). Die Rolle von normativen Aspekten und Wertvorstellungen im Urteilsbildungsprozess kann anhand einer auf den Politikdidaktiker Peter Weinbrenner zurückgehende Differenzierung verdeutlicht werden, welche auch in anderen Fächern wie beispielsweise Geschichte bildungsadministrativ verankert wurde (Weinbrenner, 1997, 74f.): Unterschieden wird zwischen Sach- und Werturteil, wobei Sachurteile auf deskriptiven, d.h. beschreibenden Annahmen beruhen, die eine intersubjektive Gültigkeit beanspruchen (Welche Folgen hat eine Handlung? Wer ist betroffen?), während Werturteile normativer Art sind, also eine Fragestellung anhand von ethischen und moralischen Kategorien bewerten (Was ist gut oder schlecht, vorzuziehen oder zu meiden?). Die Wertungen, die auf Werten und Haltungen beruhen, besitzen keinen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch, wenngleich bei der Begründung eines Werturteils intendiert wird, intersubjektive Plausibilität herzustellen.

Im Fach Religion hat sich die Differenzierung zwischen Sach- und Werturteil in den bildungsadministrativen Vorgaben nicht durchgesetzt. Dies kann darin begründet sein, dass die religionspädagogischen Diskurse von vornherein Werturteile zum Beispiel in Bezug auf Gerechtigkeits- und Gottesbilder, Sterbehilfe, Umweltschutz etc. im Blick haben, während die Differenzierung gerade in der Geschichts- und Politikdidaktik in erster Linie zur Stärkung der Werturteile dient.

Breit diskutiert ist in der Religionspädagogik die Zulässigkeit und Relevanz von Wertebildung im Religionsunterricht (u.a. Lindner/Zimmermann, 2021; Lindner, 2017; Dressler, 2002, 264; Dressler 2006, 186f.; Schweitzer, 2015, 23; → Bildung, Werte-). Die oben als für Urteilsbildungen konstitutiv definierte Offenheit des Urteilsentscheides ist jedoch (oder gerade) auch vor dem Hintergrund der Bekenntnisorientierung wesentlich: Das christliche Bekenntnis wie die „unbedingte ethische Forderung, die Jesus verkündigt und gelebt hat“ (Kruhöffer, 2014, 8) und die mit dem (christlichen) Gottesglauben in Verbindung gebrachten Werte wie beispielsweise Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Partnerschaftlichkeit oder Nachhaltigkeit dürfen die Offenheit der Urteilsbildung nicht einschränken, da man anderenfalls nicht von der Förderung einer eigenständigen und mündigen Urteilsbildung der Lernenden sprechen kann. Das Phänomen des → Religionsstunden-Ichs zeigt, dass sich Annahmen seitens der Lernenden über die Erwartungen der Religionslehrerinnen und -lehrer implizit auf Urteilsbildungen auswirken, so dass der religionsunterrichtliche Rahmen in Bezug auf Urteilsbildungsprozesse in besonderem Maße reflektiert werden kann und die Offenheit der Urteilsbildung explizit betonungswürdig erscheint. In diesem Sinne sind auch für den bekenntnisgebundenen Religionsunterricht die Grundsätze des Beutelsbacher Konsens der Politikdidaktik sowie des Dresdner Konsens der Ethikdidaktik von Bedeutung, die in einem Überwältigungsverbot und einem Kontroversitätsgebot die Mündigkeit der Lernenden als Ziel des Aufbaus vor Urteilskompetenz benennen (Wehling, 1977, 173-184; Fachverband Philosophie e.V. u.a., 2016, 106; Muth, 2020, 154-156).

Der Verweis auf die Fächer Ethik (→ Ethikunterricht) und Politik macht bereits deutlich, dass Urteilsfähigkeit auch in anderen, in erster Linie geisteswissenschaftlichen Fächern wie neben den genannten beispielsweise Geschichte und Geografie, aber auch in naturwissenschaftlichen Fächern wie Biologie eine Schlüsselkompetenz darstellt (Dickel u.a., 2020).

2.2. Spezifika von Urteilkompetenz im Religionsunterricht

Spezifisch für Urteilsfähigkeit im Kontext religiöser Bildung (→ Bildung, religiöse) sind die Reflexionskriterien, anhand derer ein Urteil hinterfragt wird. Sie sind durch religiöse Wirklichkeitsannahmen und durch in der Religion verwurzelte Werte bestimmt, mit denen sowohl „allgemein-ethische“ Fragestellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (wie beispielsweise die Legitimität von Sterbehilfe [→ Medizinethik] oder der Umgang mit → Migration), als auch religiöse Fragestellungen (wie beispielsweise die Bedeutung von → Sünde und → Vergebung für die Beziehung zu Gott) reflektiert werden. Aus religionsdidaktischer Perspektive ist dabei zentral, dass die Grundsätze einer – durchaus auch als plural zu beschreibenden, aber dennoch klar konturierten – evangelischen Ethik von den Urteilenden nicht übernommen werden müssen, jedoch eine Auseinandersetzung mit ihnen gefordert ist. Dies kann durch Aufgabenstellungen eingelöst werden, welche die Lernenden dazu auffordern, zu einer vorgegebenen beispielsweise christlichen Positionierung in Bezug auf eine konkrete Kontroverse Stellung zu beziehen – also eine Positionierung anderer zu bewerten.

Eine besondere Art der Fragestellung stellen darüber hinaus metaphysische Urteilsfragen dar, die beispielsweise Gottes- oder Jenseitsvorstellungen (→ Gott; → Himmel; → Hölle) betreffen. An ihnen kann man die Abhängigkeit der Reflexionskategorien von der inhaltlichen Fragestellung veranschaulichen: Nachhaltigkeit (eine zentrale Kategorie im Fach Geografie, Ministerium für Kultus Baden-Württemberg, 2016, 5), Effizienz und Legitimität (zentrale Kategorien der Politikdidaktik, Massing, 1997, 124f.) oder etwa rechtliche Rahmenbedingungen rücken in den Hintergrund. Auch die Betrachtung von Folgen wird in Bezug auf die Positionierung zu metaphysischen Fragen sekundär, da sich Gottes Wesen und Handeln diesen Logiken nicht beugen muss. Davon unbenommen ist, dass sich die Positionierung in metaphysischen Fragestellungen wiederum auf ethische Normenvorstellungen auswirken kann: Ich glaube nicht an eine göttliche Auferweckung nach dem Tod, weil ich mich an moralische Pflichten gebunden weiß. Das Gegenteil ist der Fall: Die eigene Weltdeutung wirkt sich gegebenenfalls auf moralische Pflichten und Normen aus: Weil ich an die göttliche Auferweckung nach dem Tod glaube, verpflichte ich mich im Leben moralischer Grundsätze.

Theresa Schwarzkopf hat für die Bewertung metaphysischer Urteilsentscheide folgende vier Qualitätsmerkmale herausgearbeitet: 1. inhaltliche Kohärenz, 2. das Nutzen von Argumenten auf Modellebene (d.h. die Durchdringung fremder Modelle und die distanzierte Betrachtung der eigenen Argumente als Modelle), 3. die Möglichkeit der Perspektivübernahme anderer Positionen sowie 4. die sachbezogene Angemessenheit der Argumente und Schlussfolgerungen (Schwarzkopf, 2016, 178f.).

2.3. Bildungsadministrative Vorgaben

In den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) der Fächer evangelische und katholische Religionslehre wird Urteilsfähigkeit neben Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit, Deutungsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit als eine von fünf für den Religionsunterricht zentralen Kompetenzen benannt (EPA ev. Religion, 2006, 8f.; EPA kath. Religion, 2006, 7f.). Da die EPA die einzige bundesweit geltende Vorgabe ist, während andere Curricula (→ Lehrplan) nur landesweite Gültigkeit besitzen, haben sie besonderes Gewicht. Ebenso legen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) in ihren Texten zum Religionsunterricht das von den EPA vertretene, fünfgliedrige Kompetenzmodell zugrunde, das in den Curricula der meisten Bundesländer aufgegriffen wird (EKD, 2011; 2010; DBK, 2010, 12).

In dem vom Comenius-Institut entwickelten Kompetenzmodell für religiöse Bildung werden fünf „Dimensionen der Erschließung von Religion“ benannt, welche Parallelen zu den fünf Kompetenzen der EPA aufweisen. In diesen ist „urteilen“ der Dimension „Interaktion“ und „entscheiden“ der Dimension „Partizipation“ zugeordnet (Fischer/Elsenbast, 2006, 19f.; → Kompetenzorientierter Religionsunterricht). Es besteht folglich in den bildungsadministrativen Vorgaben ebenso wie im Forschungsdiskurs Einstimmigkeit darüber, dass Urteilsfähigkeit zu den Kernaufgaben religiöser Bildung gehört.

In der Fachpräambel der EPA wird Urteilsfähigkeit inhaltlich gefasst und die Bedeutung von Urteilskompetenz stark hervorgehoben: Schülerinnen und Schüler sollen zur eigenständigen Urteilsfindung befähigt werden, was eine argumentative und sachkundige Teilhabe „am gesellschaftlichen Diskurs über Glauben und Leben“ ermöglichen soll (EPA ev. Religion, 2006, 6). Urteilsfähigkeit wird hier nicht nur im Sinne von Argumentationsfähigkeit gedacht, sondern als Weg der Orientierungsfindung in der Welt (EPA ev. Religion, 2006, 6). Erreicht wird die Befähigung zur eigenständigen Urteilsbildung laut den EPA durch eine dialogische Auseinandersetzung mit anderen Positionen, wobei der Religionsunterricht im Vergleich zu anderen Fächern vor allem darauf angelegt sei, religiöse und dezidiert christliche Traditionen sowie theologische Argumentationsformen in diesen Prozess einzubinden (EPA ev. Religion, 2006, 6).

Die Kompetenz wird durch folgende Punkte unter der Überschrift „in religiösen und ethischen Fragen begründet urteilen“ konkretisiert:

  • „deskriptive und normative Aussagen unterscheiden
  • Formen theologischer Argumentation vergleichen und bewerten
  • Gemeinsamkeiten von Konfessionen und Religionen sowie deren Unterschiede erklären und kriteriengeleitet bewerten
  • Modelle ethischer Urteilsbildung kritisch beurteilen und beispielhaft anwenden
  • die Menschenwürde theologisch begründen und als Grundwert in aktuellen ethischen Konflikten zur Geltung bringen
  • im Kontext der Pluralität einen eigenen Standpunkt zu religiösen und ethischen Fragen einnehmen und argumentativ vertreten“ (EPA ev. Religion, 2006, 8f.; EPA kath. Religion, 7f.).

Obwohl die Bedeutung von Urteilskompetenz als Teil religiöser Bildung in den EPA hervorgehoben wird, lässt die Konkretisierung der Kompetenz eine Systematisierung sowie die Ausformulierung von Qualitätsmerkmalen missen.

3. Modelle und Stufentheorien zur Urteilskompetenz

3.1. Stufentheorien zum Urteilsbildungsprozess

Um den Urteilsbildungsprozess genauer beschreiben zu können, wurden Stufenmodelle erstellt. In der Religionspädagogik wurde die „Ethische Theorie sittlicher Urteilsbildung“ von Heinz Eduard Tödt breit zitiert, welche dieser bereits 1988 vorlegte (Tödt, 1988). Seine Theorie wurde verschiedentlich weiterentwickelt. Exemplarisch ist die Stufentheorie von Hans-Richard Reuter zu nennen, die den Urteilsbildungsprozess in vier Stufen beschreibt (Reuter, 2015,112-116):

1. Beschreibung des Kontextes

Wahrnehmung und Analyse

  • relevanter Fakten und (rechtlicher) Rahmenbedingungen
  • der Interessen, Ansprüche, Lösungsmöglichkeiten, Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten der Betroffenen
  • des gelebten Ethos, von Intuitionen und etablierten Überzeugungen

2. Identifizierung der ethischen Perspektive(n), Kriterien und Ordnungen

  • Präzisierung von Perspektiven und Leitmotiven
  • das Ausweisen von Wirklichkeitsannahmen
  • Identifizieren konkreter handlungsleitender Orientierungen

3. Prüfung, Bewertung und Abwägung

  • Hierarchisierung handlungsleitender Orientierung
  • Bewertung der erforderlichen Mittel und Folgen

4. Entscheidung und Umsetzung

  • willentliche Zustimmung und praktische Bejahung des Entscheides
  • Spannungen und Kompromisse austarieren

Auch in anderen Fachdidaktiken sind Modelle dieser Art entstanden (beispielsweise Meyer/Felzmann, 2011, 130-146; Lach, 1997, 159-178). Sie ähneln sich in der Abfolge der benannten Schritte. Mit Blick auf diese Modelle wird der Prozesscharakter des Urteilens betont, welcher als zirkulär und nicht linear charakterisiert wird, sodass manche der benannten Schritte wiederholt durchlaufen werden müssen (Reuter, 2015,112-116). Implizit enthalten die Modelle Qualitätsmerkmale der Urteilsbildungen wie beispielsweise die Reflexion divergierender Perspektiven und Normen.

3.2. Qualitätsmerkmale und Niveaustufenmodelle von Urteilsfähigkeit

Der Diskurs über Qualitätsmerkmale für Urteilsbildungen wurde von Lawrence Kohlbergs vielbeachteter Längsschnittstudie zur moralischen Entwicklung stark geprägt, für welche er Probanden Dilemmageschichten beurteilen ließ (Kohlberg, 1996; → Dilemmageschichte, Religionsunterricht; → religiöse Entwicklung, Forschungszugänge). Kohlberg betont die bis heute gültige Annahme, dass nicht der Entscheid für eine der möglichen Optionen an sich, sondern die Begründung des Urteilsentscheides wesentlich für dessen Qualität sei (Kohlberg, 1996). Durch die Zuordnung seiner Ergebnisse in sechs aufeinander aufbauende Stufen, die der Mensch bei seiner moralischen Entwicklung durchlaufen kann (→ Entwicklungspsychologie), führt Kohlberg in sein deskriptives Modell eine normative Hierarchisierung ein: Egozentrischen Argumentationen wird eine geringere Qualität zugesprochen, da sie im Kindesalter verstärkt vorkommen und so zu den niedrigeren Stufen gehören, als gemeinschafts- oder gesellschaftsfokussierten Argumenten, die sich erst in höherem Alter entwickeln (Hübner, 2014, 26f.). Die Qualität der Argumente bemisst sich nach Kohlbergs Theorie an der berücksichtigten Reichweite der Folgen einer ethischen Urteilsentscheidung.

Um Urteilskompetenz qualitativ fassen und im Sinne der Kompetenzorientierung auch angemessen fördern und bewerten zu können, sind an Kohlberg anknüpfend Niveaustufenmodelle entwickelt worden, von denen zwei im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden (darüber hinaus auch Schwarzkopf, 2016, 179-188; Benner/Nikolova, 2016): Aufbauend auf Kohlbergs Studie entwickelte Georg Lind einen „Moralische-Kompetenz-Test“ (Lind, 2000). Der Test misst moralische Kompetenz an ihrer „moralischen Strukturiertheit“, worunter Lind die Orientierung an moralischen Kriterien unabhängig einer Meinungskonformität versteht (Lind, 2000, 81). Lind benennt folgende vier Niveaustufen für Urteilskompetenz (Abb. 1):

Urteilskompetenz 1

Eine weitere Ausdifferenzierung von Urteilkompetenz in Niveaustufen lässt sich in einer empirischen Studie der Biologiedidaktikerin Elke Visser (2014) finden. Sie differenziert drei Diagnosebereiche: deskriptive Aspekte, normative Aspekte und argumentative Kompetenz, und benennt für jeden Bereich drei bis vier Niveaustufen (Visser, 2014).

In Bezug auf die deskriptiven Aspekte benennt sie folgende Niveaustufen (Abb. 2):

Urteilskompetenz 2

Die normativen Aspekte betreffen die Offenlegung der für den Urteilsentscheid ausschlaggebenden Werte (Abb. 3):

Urteilskompetenz 3

Für die Plausibilität sind nach Visser folgende Merkmale zentral:

  • „Formulierung einer Stellungnahme
  • Nennung funktionaler Argumente
  • Nennung von Gegenargumenten
  • Abwägung der Argumente unterschiedlicher Positionen
  • Nennung eingeschränkter Bedingungen: Nennung konditionaler Argumente (Auseinandersetzung mit potenziellen Gegenargumenten)“ (Visser, 2014, 292f.).

Visser unterscheidet in Bezug auf die Argumentation (Abb. 4):

Urteilskompetenz 4

Betrachtet man die Bewertungskriterien für Urteilsfähigkeit in Erwartungshorizonten schriftlicher Abiturprüfungen (→ Leistungsmessung, Leistungsbewertung), so lässt sich feststellen, dass im Forschungsdiskurs betonte Qualitätsmerkmale wie die Berücksichtigung auch gegensätzlicher Perspektiven (Multiperspektivität), die Transparenz der zugrundeliegenden Werte sowie die Folgenreflexion nur marginal Beachtung finden und von den Erwartungshorizonten inhaltlich nicht eingeholt werden (Muth, 2021). Die Benennung von Qualitätsmerkmalen bleibt in mehreren Fällen gänzlich aus oder auf allgemeine Formulierungen wie „Differenziertheit“, „Eigenständigkeit“, „fundierte Sachkenntnisse“, „Schlüssigkeit“ und „sprachliche Gestaltung“ beschränkt, denen keine verbindlichen Qualitätsabstufungen zugrunde liegen (Muth, 2021). Dadurch bleiben die Ansprüche, die an religiöse Urteilsfähigkeit gestellt werden, interpretationsbedürftig und zum Teil sehr vage.

3.3. Religionsdidaktische Reflexion zur Nutzung der Modelle

Die vorgestellten Stufenmodelle können im Religionsunterricht helfen, den Urteilsbildungsprozess zu strukturieren und zu einem detaillierteren Verständnis des Urteilens führen. In den Fachdidaktiken werden sie jedoch auch kritisch diskutiert. Es wird ihnen ein zu stark rationaler und formalistischer Zugang vorgeworfen, der den Blick für die konkrete inhaltsbezogene Fragestellung verstellt und Urteilskompetenz zu einer Methodenkompetenz degradiert, die durch das „Abarbeiten“ vorgegebener Stufen erfüllt werden könne. Es gibt daher auch intuitionistische, didaktische Ansätze wie den der „ethischen Könnerschaft“ oder die „Lehrstückdidaktik“, welche sich bewusst dem rationalistischen Paradigma entziehen und auch affektive und emotionale Bestandteile des Urteilens betonen (Dickel, 2020, 71-99; Ziegler, 2020; 47-70) (→ Ethische Bildung und Erziehung).

Vieldiskutiert sind die von dem US-amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt unter dem Titel „The Emotional Dog and Its Rational Tail“ veröffentlichten Forschungsergebnisse (Haidt, 2001, 814-834). Haidt stellt die primäre Kognitivität von Urteilsentscheiden prinzipiell in Frage und betont demgegenüber die Rolle der Intuitionen und Emotionen in Urteilsbildungsprozessen (Haidt, 2001, 814-834). Er vertritt die Auffassung, dass Urteile – anders als es die Stufenmodelle zur Urteilsbildung suggerieren – primär emotional getroffen und erst sekundär rational begründet werden (Haidt, 2001, 814-834).

Dem lässt sich entgegnen, dass das systematisierte, rationale Abwägen unterschiedlicher Perspektiven zu Klarheit der eigenen Position und zur Wahrnehmung von Komplexität führen kann, für welches der vom alltäglichen Handlungsdruck befreite Raum des Unterrichts eine besondere Chance bietet. Aus kompetenzorientierter Perspektive scheint zentral, Komplexität durch die Modelle nicht vorschnell reduzieren zu wollen, sondern die Lernenden anzuregen, sich auf einen ergebnisoffenen Suchprozess zu begeben, der immer an eine konkrete inhaltliche Frage gebunden ist, und auch als Lehrperson offen zu sein für ein gemeinsames ergebnisoffenes Fragen. So bringt Mirka Dickel die zentrale Bedeutung der Fragehaltung für Urteilsbildungsprozesse folgendermaßen treffend auf den Punkt: „Ein Schüler, der ernste, also eigensinnige Fragen stellt, der etwas ernsthaft wissen will, handelt moralisch“ (Dickel, 2020, 91). Lernende in diese Fragehaltung zu führen, die auch metaphysische Fragestellungen nach Gott und dem Sinn des Lebens nicht aus der Urteilsbildung ausspart und diese mit ethischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen in einen Dialog bringt, ist ein Spezifikum religionspädagogischer Bildungsprozesse und somit ein wichtiger Teil des gesamtschulischen Auftrags, eigenständige Urteilsfähigkeit zu fördern.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Niveaustufenmodell moralischer Kompetenz nach Georg Lind. © Eigene Tabelle nach Lind, 2007, 101-111.
  • Niveaustufen der deskriptiven Aspekte. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 289.
  • Niveaustufen normative Aspekte. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 278.
  • Niveaustufen für die Teilkompetenz Argumentieren. © Eigene Tabelle nach Visser, 2014, 280.

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