Deutsche Bibelgesellschaft

Flucht und Migration, kirchengeschichtsdidaktisch

(erstellt: Februar 2022)

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1. Annäherungen an den Begriff Migration

1.1. „Migration“ als diverser Sammelbegriff

Der Begriff „→ Migration“ ist ein in sich diverser Sammelbegriff (Mcneill, 1978; Bade, 2004; Lucassen, 2005; Lucassen/Lucassen, 2014) und umfasst mehrere Dimensionen und Weisen von Wanderungsbewegungen, wie zum Beispiel freiwillige oder unfreiwillige Migration, Zwangsmigration oder neuerdings auch Klimamigration (Glawischnig, 2014; Müller, 2012; Singh Uttam, 2018). Unter Migration lässt sich zuerst einmal eine „längerfristige Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine größere Entfernung und administrative Grenze hinweg: etwa vom Dorf in die Stadt, zwischen Landesteilen oder über Staatsgrenzen“ verstehen (Bundeszentrale für politische Bildung, 2018). In der lateinischen Ursprungsgeschichte des Begriffs (Ammianus Marcellinus/Seyfarth, 1968-1971) sind darunter zwangsweise Ortswechsel größerer Gruppen zu verstehen (Oltmer, 2017, 9). In der römischen Literatur der Antike war dabei vorausgesetzt, dass Sesshaftigkeit im Unterschied zur nomadischen Lebensweise als zivilisiert galt (Oltmer, 2017, 10). Hohe Konjunktur hatte zeitweise der Begriff Völkerwanderung (Fehr/Rummel, 2011; Pohl, 2010), der in der Geschichtswissenschaft heute als ideologisch und unzureichend charakterisiert wird, nämlich als „Einfall von Barbaren in die Zivilisation, eine Flut von nicht-erwünschten Menschen, die Instabilität und Unordnung mit sich brachten“ (Oltmer, 2017, 11). Die historische Migrationsforschung zeichnet heutzutage das Bild globaler Migrationsbewegungen, die auch epochenübergreifend darzustellen sind: „Historische Migrationsforschung untersucht räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlichster Größenordnung auf den verschiedensten sozialen und räumlichen Ebenen“ (Oltmer, 2017, 12). Historische Belege für Wanderungen sind oft nur indirekt erschließbar, weil sie den „Diskursen und Praktiken von Herrschenden und von Eliten“ (Oltmer, 2017,13) entstammen. In der Sozialwissenschaft lässt sich Migration definieren als „[r]äumliche Bewegungen von Menschen, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Meist verbunden mit einem längerfristigen Aufenthalt andernorts und als Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien oder Kollektiven angelegt“ (Oltmer, 2017, 21).

1.2. Push- und Pullfaktoren für Migration

Zugehörige Begriffe sind Abwanderung, Zuwanderung, Auswanderung und Einwanderung (Oltmer, 2017, 21). Die Motive für Migrationsbewegungen sind vielfältig: Dazu gehören wirtschaftliche und soziale Motive, Migranten/Migrantinnen sind motiviert, ihre Kompetenzen, Kenntnisse, Arbeitskraft und Kreativität am Zielort der Migration einzusetzen (Oltmer, 2017, 22). Neben diesen Motiven existieren bei Gewalt- und Zwangsmigrationen ganz andere Motive, um zu überleben oder sich existenziell abzusichern. Beobachtbar sind in den verschiedenen Migrationsbewegungen Kettenwanderungen, „bei denen Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgen“ (Oltmer, 2017, 25). Der Migrationsforscher Jochen Oltmer formuliert treffend: „Je umfangreicher dieses ist und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerks gepflegt werden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bietet es – gerade an der Intensität und Größe des Netzwerks bemisst sich immer auch die Attraktivität eines Migrationsziels“ (Oltmer, 2017, 25). Zu unterscheiden sind also in diesem Zusammenhang sogenannte Push- und Pullfaktoren. Dieses Push- und Pullfaktoren-Modell geht auf Everett S. Lee (Lee 1966, 47-57; Jackson, 1969, 282-297) zurück, d.h., es existieren Bedingungen des „Wegdrückens“ im Herkunftsland und attraktive Ziehfaktoren im Zielland. Zu den Push-Faktoren zählen sozioökonomische, politische oder ökologische Gründe, die spiegelverkehrt auch als Pull-Faktoren zu charakterisieren sind (Jackson, 1969, 282-297; Lee, 1972, 117-129; Han, 2016; Kröhnert, 2007, 5).

1.3. Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migrationen

Als Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migrationen lässt sich die Wahrnehmung von Chancen, oder eigene Handlungsmacht zu erschließen oder zu erweitern, sehen (Oltmer, 2017, 26). Zu den Hintergründen von Gewaltmigrationen zählen Flucht, Vertreibung, Deportation, Folge von Kriegen (Oltmer, 2017, 26) und Sklaverei (Schiel, 2017, 251; Campbell, 2004; Meissner; Mücke/Weber, 2021). Bei den Migrationsformen lassen sich folgende Formen unterscheiden: Arbeitswanderung, Bildungs- und Ausbildungswanderung, Dienstmädchen- und Hausarbeiterinnenwanderung, Entsendung durch Organisationen (z.B. Klöster, Mission, Söldner, Soldaten, Seeleute, Beamte) und Unternehmen (Kaufleute, Handelsfilialen), Gesellenwanderung (Oltmer, 2017, 30), Gewaltmigration (= Migration, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt [Flucht, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung] [Oltmer, 2017, 30]), Heirats- und Liebeswanderung, Lebensstilmigration, Nomadismus (Migration als Lebensstruktur), Siedlungswanderung (Oltmer, 2017, 31), Sklaven- und Menschenhandel (= Migration [Deportation] zum Zweck der Zwangsarbeit, das heißt, jeder Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung von Strafen verlangt wird, [Oltmer, 2017, 31]), Wanderarbeit, Wanderhandel (Oltmer, 2017, 31). Eine äußerst gewichtige und zahlreiche Migrationsform ist die Gewaltmigration, „wenn staatliche, halb-, quasi- und zum Teil auch nichtstaatliche Akteure Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte und Freiheit, politische Partizipationschancen, Souveränität und Sicherheit von Einzelnen oder Kollektiven so weitreichend beschränken, dass diese sich zum Verlassen ihrer Herkunftsorte gezwungen sehen“ (Oltmer, 2017, 34). Menschen, die von Gewaltmigration betroffen sind, haben in der Regel keine realistischen Handlungsalternativen (Oltmer, 2017, 34). Flucht als Spezialfall von Gewaltmigration ist „Ausweichen vor einer lebensbedrohlichen Zwangslage aufgrund von Gewalt“ (Oltmer, 2017, 35). Unter Deportation lässt sich die „zielgerichtete räumliche Mobilisierung durch Gewalt, häufig von Zwangsarbeitskräften“ verstehen (Oltmer, 2017, 35). Auch Umsiedlung und Evakuierung sind Ausdruck von Gewaltmigration und es handelt sich hier in jedem Fall um eine Zwangsmaßnahme (Oltmer, 2017, 35). Vertreibung ist die „räumliche Mobilisierung durch Gewalt ohne Maßnahmen zur Wiederansiedlung“ (Oltmer, 2017, 35).

1.4. Migration und wirtschaftliche Ausbeutung

Im 15. und 16. Jahrhundert deckten spanische und portugiesische Eroberer in Süd- und Mittelamerika ihren Personalbedarf mit wenig europäischem Personal dafür aber mit Sklaven, vornehmlich aus Afrika stammend, ab. Die neuen Kolonien dienten allein dem Zweck wirtschaftlicher Ausbeutung und die Kosten für die Aufrechterhaltung kolonial-imperialer Herrschaft mussten die Kolonialgebiete selbst aufbringen (Oltmer, 2017, 43); gleichzeitig finanzierten die Kolonien die jeweilige Großmachtpolitik des europäischen Mutterlandes. Die indigene Bevölkerung nahm aufgrund eingeschleppter Krankheiten durch europäische Auswanderer ab; manche Statistik spricht von einem Rückgang von fast 70% der indigenen Bevölkerung, die das gleiche Los wie Sklaven aus Afrika traf (Oltmer, 2017, 44; Eltis/Engerman/Drescher, 2017; Reinhard, 2017, 311-401; Bucciferro, 2013, 285-317).

Ca. 9,5 Millionen Sklaven kamen zwischen 1519 und 1867 in den beiden Teilen Amerikas an, davon ca. 3,9 Millionen in Brasilien (Oltmer, 2017, 45; Gliech, 2011); gleichzeitig war eine hohe Sterblichkeit unter der versklavten Bevölkerung zu verzeichnen; in Nordamerika gab es die Auffassung unter den Sklavenhaltern, dass familiäres Leben unter den Sklaven zur Stabilisierung der Bevölkerung beitrage und Kinder von Sklaven/Sklavinnen ebenfalls als Arbeitskräfte ausgebeutet werden konnten (Oltmer, 46; Holt/Brown, 2000; Kolchin, 2003).

1.5. Merkantilistische Ziele der Migrationspolitik

Nach dem 30-jährigen Krieg gewann das Konzept der sogenannten Peuplierung (Niggemann, 2016), also eine an merkantilistischen Zielen orientierte Migrationspolitik in Europa Gestalt. Elsaß und Baden waren Ziele von Wanderbewegungen aus der Schweiz, aus Flandern und Wallonien; auch nach Württemberg gab es Wanderungen aus der Schweiz, Vorarlberg, Bayern und Tirol. Migranten/Migrantinnen aus den österreichischen Territorien waren oft aus religiösen Gründen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen (Oltmer, 2017, 51). Zuwanderungen aus Glaubensgründen (Evangelisch-Reformierte) gab es auch in die Mark Brandenburg aus den Niederlanden, aus der Schweiz. Hugenotten aus Frankreich flohen ebenfalls nach Brandenburg (Walker, 1997; Dölemeyer, 2006; Niggemann, 2007; Lachenicht, 2010; Emrich, 2018). Hugenotten wurden auch im Hessischen (Kassel-Neustadt/Karlshafen) auf Initiative landesherrlicher Regierungen angesiedelt. Ausdruck dieser Peuplierung war das Potsdamer Edikt (Leicht, o.J.) des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich-Wilhelm 1685 (Oltmer, 2017, 51). Brandenburg-Preußen war im 18. Jahrhundert eines der wichtigsten Einwanderungsländer; Aufnahmegebiete waren die Mark Brandenburg, Ostpreußen und Schlesien (Oltmer, 2017, 52).

2. Grundsätzliche historische Perspektiven

2.1. Migrationsgeschichte als Global- und Interaktionsgeschichte

Geografische Mobilität und Migration (Borgolte, 2014a, 11) von einem Ort zum anderen gehören zu den Kennzeichen der Menschheit aus Gründen des Überlebens oder als Fortentwicklungsmöglichkeit. Erst in jüngerer Zeit beschäftigt sich auch die Geschichtswissenschaft mit dem Phänomen der Migration (Ness, 2013; Bade, 2011 Bade, 2007). Der Begriff „Migration“ ist zuerst bei Seneca (Borgolte, 2014a, 12) auffindbar: „Ständiger Wechsel ist Menschenart“ (Bade, 2004, 27). Erst (Borgolte, 2014a, 13) auf dem deutschen Historikertag 2002 in Halle wurde der sozialwissenschaftliche Begriff „Migration“ von der Geschichtswissenschaft übernommen. In der anglo-amerikanischen Wissenschaft ist der Begriff „Migration“ jedoch schon längst gebräuchlich. Die heutige historische Migrationsforschung (Borgolte, 2014a, 14) fragt, ob es tatsächlich massenhafte Migrationen gab oder Migration eher als Einzelphänomen zu betrachten ist. Gleichzeitig ist die „Globalgeschichte als Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Interaktionsgeschichte“ bedeutsam geworden (Borgolte, 2014a, 16) und global betrachtet, ist Migration ein Massenphänomen (Osterhammel, 2005, 460; Conrad, 2013). Global werden also durchaus Massenmigrationen, imperiale Expansionen, Fernhandel angenommen (Borgolte, 2014a, 16). Hybridisierung und “cross-cultural interaction“ sind die entsprechenden Stichworte. Historisch lässt sich Migration wie folgt definieren: „Migration bezeichnet eine dauernde oder auf Dauer beziehungsweise lange Fristen geplante Verlagerung des Lebensmittelpunktes oder Wohnsitzes, und zwar durch Einzelne ebenso ‚wie‘ durch Gruppen jedweder Größe“ (Borgolte, 2014a, 17).

Der Umfang der Hybridisierung und transkulturellen Verflechtung (Borgolte, 2014a, 18; Borgolte/Schneidmüller, 2010; Borgolte, 2009, 261-285) hängt demnach von der Dauer der Migration ab (Borgolte, 2014a, 18). Das Modell der historischen Forschung geht von einem Dreistufenplan aus: Zuerst entsteht die Idee der Wanderungsbereitschaft und die Entscheidung zum Verlassen des Ausgangsraumes, dann beginnt die tatsächliche Reise zum Zielort, wo sich die Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft anschließt (Borgolte, 2014a, 18).

2.2. Ständiger Wechsel der Kulturen und transkulturelle Verflechtungen als Gegenstand historischer Migrationsforschung

Das Mittelalter (Borgolte, 2014b, 21-33; Bentley, 1996, 749-770) liegt zwischen 500 bis 1500 n. Chr. (Borgolte, 2014b, 21); Massenmigrationen, ständiger Wechsel der Kulturen, transkulturelle Verflechtungen sind Charakteristika dieser Zeit. Jedoch sind die Migrationen von Europäern und Polynesiern nur zu einem kleinen Teil erfasst, ähnliches bei der Hopewelltradition, der Mississippikultur, Tolteken, Azteken, Maja, Inka – noch weniger lässt sich über Afrika sagen (Borgolte, 2014b, 24). Durch das Aufkommen des Sklavenhandels entstanden größere Zwangsmigrationen (Borgolte, 2014b, 25). In Europa lassen sich ab dem achten Jahrhundert auf den Britischen Inseln, im Frankenreich und bei den Wikingern aus Norwegen und Dänemark Migrationsströme beobachten (Borgolte, 2014b, 27) – kriegerische Eroberungen (erster Kreuzzug 1099), vierter Kreuzzug (1204) führten zu Ausweitungen von Siedlungsräumen (Borgolte, 2014b, 27; Mayer, 1997), was auch für nomadische Völker zutrifft (Borgolte, 2014b, 27). Zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft gehört auch die Obliegenheit, Mythen aufzuklären, die im Zusammenhang mit Migrationen entstanden sind (Borgolte, 2014b, 30). Oft wurden Wanderungsgeschichten instrumentalisiert – die Geschichtswissenschaft war oft genug „auf die ahistorische Suche nach überzeitlichen Identitätskernen“ fixiert (Borgolte, 2014b, 30; Heather, 2011).

3. Beispiele aus dem Mittelalter

3.1. Migration, Nomadenkultur und Sesshaftigkeit

Migration ist auch mit Sesshaftigkeit verbunden. Menschen, die an einem Ort leben, ziehen weg und woanders hin – individuell, in großer Zahl oder als Gruppen aufgrund sich verschlechternder Lebensbedingungen „zu Hause“ und/oder besseren Aussichten anderswo. Sie reagieren also auf die einfachsten Push- und Pull-Faktoren (Schmieder, 2014, 81). Bei den Steppenvölkern hat sich die nomadische Lebensweise als Teil ihrer Mobilität gebildet und die Wanderungen unterlagen einem bestimmten Rhythmus, der z.B. von Jahreszeiten, verfügbaren Ressourcen usw. abhing (Schmieder, 2014, 81). Das „Zirkulieren“ von Nomaden wird als ein „Typ räumlicher Mobilität“ angesehen (Schmieder, 2014, 81). Aber es gab auch nomadische Gruppen, die dauerhaft ihre „normales Lebensmuster“ verließen. Nomadische Gruppen waren in Clans und in männlicher Erblinie (agnatisch) organisiert (Schmieder, 2014, 82) und durch Clanloyalitäten zusammengehalten. Der Konflikt entstand erst dann, wenn nomadische Gruppen dauerhaft auf „sesshaft, literate“ Gruppen trafen (Schmieder, 2014, 84). Steppenvölker waren die Hunnen (viertes/fünftes Jahrhundert, Schmieder, 2005, 159-179.), Awaren (siebtes/achtes Jahrhundert, Breuer, 2005), Ungarn um 900, Kumanen (11.-13. Jahrhundert) und die Mongolen (13. Jahrhundert, Weiers, 2004). Das Problem ist jedoch, dass auch die scheinbar sesshaften Gruppen durchaus mobil waren (Schmieder, 2014, 86), weil die Herrschaften/Gefolgschaften immer wieder an verschiedenen Orten präsent sein mussten, um ihre Herrschaft zu sichern. Im mittelalterlichen Europa waren im Bewusstsein der Bevölkerung Hunnen (Bóna, 1991), Awaren und Ungarn präsent (Schmieder, 2014, 87); die Ungarn blieben an Ort und Stelle und wurden Teil der christlich-lateinischen Gemeinschaft (Schmieder, 2014, 87). Nomadische Migration ist jedoch nur aus Quellen der Sesshaften rekonstruierbar, was die Qualität der nomadischen Migration angeht, ist vieles unklar (Schmieder, 2014, 90). Die Übergänge, so viel lässt sich sagen, zwischen Nomaden-Überfällen und Migration sind fließend gewesen (Schmieder, 2014, 91).

3.2. Europa

3.2.1. Migration in der byzantinischen Gesellschaft

Die byzantinische Gesellschaft war divers zusammengesetzt (Pahlitzsch, 2014, 93); die byzantinische Identität bestand aus dem Bekenntnis zur Chalcedonensischen Orthodoxie (Lauster, 2021; Pahlitzsch, 2014, 93), Zugehörigkeit zur griechischen Sprache und Aneignung klassischer Bildung (Pahlitzsch, 2014, 94). Ab dem sechsten Jahrhundert drangen die Slawen (Curta, 2002, 335) in den Balkan vor. Der Begriff „Slawen“ ist ein byzantinischer Sammelbegriff „für verschiedene, nördlich der Donau ansässige Gruppen“ (Pahlitzsch, 2014, 95; Mühle, 2017). Konstans II. unternahm 658 einen Feldzug gegen die Slawen, aber schon 665 liefen slawische Soldaten zu den Muslimen über und deren Angehörige siedelten sich in neuem Siedlungsgebiet an (Pahlitzsch, 2014, 95). 688 führte Justinian II. einen Feldzug gegen „Sklavinien“ (Slawen) und Bulgaren an; zwischen 7000-20.000 Personen aus dem Heer Justinians liefen aber zu den Muslimen über (Pahlitzsch, 2014, 96). Auch die Armenier (Charanis, 1963; Hofmann, 2018) lebten in der Spannung zwischen den arabischen und byzantinischen Nachbarn (Pahlitzsch, 2014, 97). Kaiser Mauritios deportierte eine gewisse Zahl Menschen von Armenien nach Thrakien, um das Gebiet zu stabilisieren (Pahlitzsch, 2014, 97). Armenierinnen und Armenier wurden auch in Zypern und in Süditalien angesiedelt, aber der arabische Einfluss im östlichen und südlichen Mittelmeerraum wuchs stetig (Pahlitzsch, 2014, 98) – auf der anderen Seite waren die byzantinischen Herrscher daran interessiert, armenische Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen (Pahlitzsch, 2014, 99). Die muslimische Eroberung Syriens und Ägyptens führte zu einer großen Fluchtbewegung aus Syrien und Ägypten; die Gegenbewegung gab es dann unter der muslimischen Bevölkerung, als es Nikephoros II. Phokas gelang, die ehemals christlichen Gebiete zurückzuerobern (Pahlitzsch, 2014, 101).

3.2.2. Migration im lateinischen Westen

Kolonisation ist ein spezifisches Migrationsproblem, „das es den Siedlern erlaubt, autonome oder zumindest semi-autonome soziopolitische Strukturen neben bzw. gegenüber der autochthonen Bevölkerung […] aufzubauen“ (König, 2014, 119).

Im vierten bis sechsten Jahrhundert übernahmen romanisch-germanische Machteliten in großen Teilen des lateinischen Westens die Herrschaft (König, 2014, 120). Im achten Jahrhundert gab es die Unterwerfung zahlreicher mediterraner Gesellschaften durch die arabisch-muslimische Expansion (König, 2014, 121; Kaegi, 2010, 365). Beispiel ist die muslimische Provinz Al-Andalus als neugeschaffenes muslimisches Staatswesen auf der iberischen Halbinsel. Ein weiteres Beispiel ist die christlich-lateinische Expansion in den Mittelmeerraum durch die Normannen, die nach zwei Jahrhunderten des Plünderns das Christentum annahmen und sich in unterschiedlichen Regionen des Kontinents niederließen (König, 2014, 122). Die Kreuzzüge werden inzwischen als Vorläufer des modernen Kolonialismus angesehen (König, 2014, 123; Burns, 2015). Dazu kommen noch die Expansionen der Stadtstaaten wie Venedig, Pisa, Genua (König, 2014, 124). Deswegen gilt: „Migration, Besiedlung und die anschließende Reproduktion von Sozialstrukturen sind zeitlose Merkmale menschlicher Existenz, die sich in so zahlreichen Phänomenen wie der saisonalen Regularität semi-nomadischer Transhumanz bis hin zu großangelegten Expansions- und Eroberungsprozessen ebenso wie in der Errichtung bisher unbekannter soziopolitischer Strukturen erkennen lassen“ (König, 2014, 125).

3.2.3. Migration in Ostmitteleuropa

Mitte des sechsten Jahrhunderts machen Sklavenen/Slawen (Pohl, 2008) durch Überfälle und Plünderungen an der mittleren und unteren Donau auf sich aufmerksam (Hardt, 2014, 171); verbunden war damit die Ausbreitung slawischer Gruppen in Zusammenhang mit der Ausbreitung awarischer Reiternomaden (Hardt, 2014, 172). Im siebten Jahrhundert breiteten sich slawische Gruppen über die Balkanhalbinsel, weite Teile Ostmitteleuropas und auch auf römisches Reichsgebiet aus (Hardt, 2014, 173). Karl der Große zerstörte zwischen 791 bis 796 das awarische Khaganat (von Freeden, 2009), sodass sich z.B. Mähren ansiedeln konnten; 907 wurden die Mähren bei Preßburg von den Ungarn besiegt (Hardt, 2014, 174). Ab dem zehnten Jahrhundert bildeten sich zudem die großen slawischen Völker wie Polen und Rus. Slawen siedelten sich wohl entlang der Flussläufe von Wolga, Donau, Elbe, Saale usw. an. Die Ostgrenze des Frankenreiches bildete die Nachbarschaft der slawischen Gruppen in Sachsen, Thüringen, Franken und Bayern. Migrantische Pendelbewegungen, abhängig wer mit wem Krieg führte, gab es zwischen dem Frankenreich und den slawischen Gruppen zuhauf (Hardt, 2014, 177). „Die slawische Bevölkerung der in der Forschung des 20. Jahrhunderts als Germania Slavica (Fritze, 1980, 11-40; Weigel, 2008, 47-94) bezeichneten Regionen Mittel- und Ostdeutschlands wurde nicht vertrieben oder dezimiert, sondern sie hat in einem Assimilierungs- und Akkulturisierungsprozess längerer Dauer ihre slawische Identität nach und nach aufgegeben bzw. verloren“ (Hardt, 2014, 177). Es gab jedoch auch slawische Zwangsmigrationen, denn Sklaven waren oft slawischer Herkunft; auch die muslimischen Staaten betrieben Sklavenhandel, der auf der Versklavung slawischer Bevölkerungen bestand (Hardt, 2014, 177). Aber auch die slawischen Fürsten waren Nutznießende dieses Systems, als „Nutznießer der durch den Sklavenhandel hervorgerufenen Zwangsmigrationen“ (Hardt, 2014, 179).

3.2.4. Migration in Osteuropa und Russland

Die deutsche Kolonisation nach Osten wurde indes als „aggressiver Drang nach Osten“ gesehen (Lübcke, 2014, 181). Besonders hervorzuheben sind Regionen, in denen die Mehrheitsbevölkerung Slawen waren, aber im sprachlichen Sinn germanisiert wurden (Lübcke, 2014, 182). Die Slawen selbst verbreiteten sich über Osteuropa bis in den Norden Russlands aus, drangen aber auch nach Westen vor (Lübcke, 2014, 183). Kolonisation in größerem Stil ist also erkennbar in der deutsch-slawischen Kontaktzone (Lübcke, 2014, 186); andere Kolonisationsmöglichkeiten wurden nicht per Vertreibung, sondern durch Heirat ermöglicht (Lübcke, 2014, 187). Unter diesen Bedingungen entstanden die neue soziale Schicht der Bauern und die sogenannten Lokatoren (= Grundstückzuteilende), die als Unternehmer für die Rekrutierung der Neusiedelnden verantwortlich waren (Lübcke, 2014, 187). Es entstand ein neuer Typ von Siedlungen: locus (lat. Stätte) und urbs (lat. Burg) (Lübcke, 2014, 188).

3.2.5. Migration im Ostseeraum

Der Ostseeraum (North, 2011) war im Mittelalter ein Ort vielfältiger Migrationen (Auge, 2014, 193); abzugrenzen sind jedoch die zahlreichen Wanderungsbewegungen in mythologischen Ausmalungen, so z.B. die Stilisierung der Goten als Vorfahren der heutigen Schweden. Im achten/neunten Jahrhundert verlassen Jüten, Friesen, Wikinger ihre angestammten Siedlungsgebiete (Auge, 2014, 94); Haithabu an der Schlei (nahe Schleswig; Radte; Barndt/Müller-Wille, 2004, 320-323 ) etablierte sich als Zentrum des Fernhandels, das dänische, sächsische, slawische Einwohnerinnen und Einwohner neben saisonalen Einwohnerinnen und Einwohner aufwies (Auge, 2014, 94). Slawen wanderten vom siebten bis neunten Jahrhundert, aus dem Osten kommend, in mehreren Einwanderungswellen nach Nord- und Ostdeutschland, das dann als Germania Slawia bekannt wurde: „Mit der Etablierung der Karolingerherrschaft im Norden setzte von Hamburg aus die erfolgreiche Missionierung der nordelbischen Sachsen und Dänen ein […]“ (Auge, 2014, 197). Diese Missionsbemühungen führten zu einem weiteren Zuzug von Siedlern/Siedlerinnen (Auge, 2014, 199). Neben der Binnenkolonisierung erfolgt auch eine Kolonisierung in den früheren Randbereichen des Imperiums (Auge, 2014, 200). Ab dem 13./14. Jahrhundert gab es zudem Migrationsbewegungen niederdeutscher Kaufleute, dadurch entstand in dieser Zeit zudem auch eine Adelsmigration (Auge, 2014, 202). Ab dem 12.-16. Jahrhundert kann man nach der Gründung der Universitäten Rostock und Greifswald einen vermehrten Zuzug von Studierenden und Lehrenden beobachten. Ähnlich wie andere Gruppen gingen auch Gelehrte und Schüler freiwillig auf Wanderschaft (Kintzinger, 2014, 279). Schulen wurden z.B. an Kathedralkirchen eingerichtet, aus denen z.T. auch Universitäten entstanden sind: „Aus der Verbindung von traditioneller Schulordnung und neuen, innovativen Ideen über Wissen entstand nicht nur eine neue Agenda von Freiheit, sondern auch ein Wechsel von der üblichen Mobilität zu einer besonderen Form, die als Migration zu verstehen ist“ (Kintzinger, 2014, 278). Genauso gab es in der normannischen Kultur Migration, vor allem durch die Klostergründungen der Zisterzienser ab dem 12. Jahrhundert (Kintzinger, 2014, 283), die überall mit hochentwickelten Schulen verbunden waren.

3.3. Migrationsbewegungen von Volksgruppen

3.3.1. Normannen

Die Normannen waren Nachfahren der Wikinger, die ab 911 in das fränkische Reich integriert wurden und das Christentum angenommen hatten. Normannen, die um 1000 nach Süditalien kamen oder 1066 mit Wilhelm, dem Eroberer nach England kamen, waren „berittene Panzerreiter nach kontinentaleuropäischem Vorbild“ (Scheller, 2014, 209). Die Normannen im Frankenbereich behielten jedoch die alten fränkischen Fremdbezeichnungen und führten z.B. in Süditalien ihre normannischen Namen weiter (Scheller, 2014, 210). In den Jahrhunderten zuvor waren norwegischer Wikinger an der Nordküste Englands, in der Normandie (ab 911), Irland, Hebriden, Shetland, Grönland, Färöer-Inseln, Orkneys und Schottland zu finden (Scheller, 2014, 212): „Infolge der Migrationen norwegischer Wikinger entstand im Nordwestatlantik eine regelrechte skandinavische Ökumene. Die Migranten behielten ihre eigene Sprache bei und ließen die Verbindung nach Norwegen nie abreißen“ (Scheller, 2014, 213).

3.3.2. Wikinger

Anfangs plünderten norwegische Wikinger Schottland und Irland. In England entstanden durch die dänischen Wikinger Siedlungen; 1016 wurde ein anglodänisches Königreich unter Knut gegründet (Sarnowsky, 2014, 219). Die normannischen Könige kontrollierten so die Expansion und begründeten damit die spätere englische Vorherrschaft auf den Britischen Inseln (Sarnowsky, 2014, 219). Zwischen dem vierten bis siebten Jahrhundert brachen in Irland die alten Königreiche zusammen, sodass es Wanderungen von Irland nach Britannien gab und gleichzeitig Irland latinisiert wurde (Sarnowsky, 2014, 220). In England bildeten sich durch die anglosächsische Besiedlung in Kent, Essex, Ost- und Mittelanglien, Deira u.a. angelsächsische Königreiche aus (Sarnowsky, 2014, 221; Bassett, 1989). Während dieser Zeit gab es Invasionen aus Skandinavien (Sarnowsky, 2014, 223); ab dem 10. Jahrhundert ist die norwegische Besiedlung der nördlichen Inseln und der Hebriden bestätigt (Sarnowsky, 2014, 224). Wilhelm der Eroberer (Bates, 2016) erzwang 1066/67 seine Wahl zum König durch Plünderungen und Verwüstungen und ab 1066 wurden ca. 8000-10000 Neusiedelnde angesiedelt. Ähnliches passierte ab 1169 in Irland (Sarnowsky, 2016, 227).

3.3.3. Germanen und „Barbaren“

Der Begriff „Völkerwanderung“ ist ein Begriff, der ab dem 16. Jahrhundert für die Zeit zwischen 375 bis 568 und dem Zerfall des römischen Imperiums verwendet wird. „Völkerwanderung“ ist als Begriff unbrauchbar, weil Migration, Integration, politische und soziale Wandlungsprozesse sehr komplexe Prozesse darstellen (Pohl, 2014, 231). Die Beurteilung liegt einerseits zwischen Invasion und „Völkerwanderung“, wobei „Barbaren [...] als unzivilisiert, gewalttätig und heimtückisch gesehen“ (Pohl, 2014, 231; Pohl, 2012, 573-588; Pohl, 2016) oder als „Wilde“ charakterisiert wurden. Dass die Geschichtswissenschaft immer wieder auch sich eigenen perspektivischen Fragen stellen muss, liegt beim Thema „Völkerwanderung“ auf der Hand. So ist zum Beispiel die Frage virulent, ob eher äußere Einflüsse („Barbaren/Germanen“) oder der innere Zerfall der römischen Gesellschaft in der Spätantike zum Untergang des römischen Imperiums geführt haben. Die Antwort auf diese Frage ist in der Perspektive auf migrierende germanische Stämme entscheidend, denn das setzte voraus, dass es eine militärische Ordnung der Germanenstämme gegeben haben müsste, was bei migrierenden Gruppen aber fragwürdig ist. Es gab aber auch „Germanen“ in römischem Dienst, die sich dann von „ihrem“ Dienstherrn gelöst haben, aber vor dieser Lösung römisch sozialisiert wurden (Pohl, 2014, 232) Die einzigen historisch tatsächlich belegbaren Invasionen von außen waren die Hunnen (Stickler, 2007) vom Schwarzen Meer bzw. nördlich der Donau: „Dies führte zu ausgeprägten Wanderungsbewegungen der Goten in das Reich, wo diese zunächst als willkommene Verstärkung der römischen Armee empfangen wurden, sich aber bald von korrupten Offizieren drangsaliert und ausgebeutet sahen“ (Pohl, 2014, 232). Unter Alarich breiteten sich die Westgoten schrittweise bis Spanien aus, wo ihr Königreich bis 711 dauerte und unter ihrem Bischof Wulfila das arianische Bekenntnis annahmen (Pohl, 2014, 233). Unter Geiserich drangen die Vandalen 429 nach Nordafrika vor (Castritius, 2007). Unter Attila etablierte sich das Reich der Hunnen, ab 451 (Schlacht auf den katalaunischen Feldern) begann der Rückzug; nach Attilas Tod (453) zerfiel das Reich der Hunnen. Die Ostgoten, die einen wichtigen Teil in Attilas Armee bildeten, etablierten unter Theoderich d. Großen ihr eigenes Reich. Ab 535 kämpfte der oströmische Kaiser Justinian gegen die Ostgoten, die nach 20 Jahren Krieg zerrieben wurden (Pohl, 2014, 233). Langobarden, Franken, Angelsachsen übernahmen das Erbe (Pohl, 2014, 234). Um 500 konnten sich die Franken unter Chlodwig gegen die Westgoten und Alamannen durchsetzen (Pohl, 2014, 234); das fränkische Königreich wurde dann 250 Jahre von der Merowinger-Dynastie beherrscht; die Franken entschieden sich zudem für das katholische Bekenntnis (das arianische Bekenntnis wurde schlicht verdrängt). Um 600 begann die angelsächsische Mission in Britannien, das nach dem Abzug der römischen Truppen um 407 Angeln und Sachsen anwarb. Aus historischer Sicht war die „Völkerwanderung“ nicht eine Wanderung von Völkern, sondern eher neue Konföderationen auf römischem Boden mit dem Ausbilden neuer, gemischter Herrschaftseliten (Pohl, 2014, 235).

3.4. Migration und interreligiöse Kontaktzonen

3.4.1. Judentum und Christentum

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine Geschichte der freiwilligen und der Gewalt- und Zwangsmigration (Toch, 2014, 239; Toch, 2012). Zu unterscheiden sind sprachlich und geografisch Aschkenasen – Sepharden und orientalische Juden sowie eine bewegte Diasporageschichte. Pull-Motive waren wirtschaftlicher Art, die Push-Gründe waren zumeist antisemitischer Herkunft (Toch, 2014, 240). In beiden Gesellschaften, sowohl christlichen als auch muslimischen, waren Ausgrenzungen an der Tagesordnung (Toch, 2014, 240). Im neunten/zehnten Jahrhundert gab es in Europa ein gewisses Bevölkerungswachstum, zu dem migrierende Juden beitrugen. Um 1100 waren „jüdische Siedlungskerne“ im sephardischen Areal und in aschkenasischen Gebieten wie Lothringen, Nordostfrankreich, Deutschland, Ungarn-Böhmen, Niederlande, Normandie, England, Norditalien, Polen-Litauen oder in der Rhone-Achse anzutreffen. Nur im byzantinischen Reich gab es so etwas wie eine Kontinuität jüdischen Lebens von der Spätantike bis ins Spätmittelalter (Toch, 2014, 241); auch das süditalienische Judentum stand unter dem Einfluss von Byzanz (Toch, 2014, 242). Ab 925 gab es in den byzantinischen Territorien eine Judenverfolgung (Toch, 2014, 242), weswegen viele Juden in muslimische Länder flohen: „Zur Mitte des 11. Jahrhunderts sprach die große Mehrheit [...] der sizilianischen Juden Arabisch. Gegen Ende der muslimischen Herrschaft floh ein Teil in muslimische Länder, hauptsächlich nach Ägypten, wo sie eine richtige Emigrantenherrschaft errichteten“ (Toch, 2014, 243). Auf der iberischen Halbinsel gab es wohl bis zur Westgotenzeit kaum jüdische Überlebende, was sich ab dem zehnten/elften Jahrhundert änderte. Wegen der besseren Lebensbedingungen unter der arabischen Herrschaft siedelten sich Juden, vor allem aus dem Süden kommend, an. Im 14. Jahrhundert war die iberisch-jüdische Community die stärkste in Europa (Toch, 2014, 243). Seit dem 13. Jahrhundert erlebte das frz. Judentum wiederholte Vertreibungen, die meisten Juden/Jüdinnen emigrierten von Frankreich nach England (Toch, 2014, 244), von wo sie bereits ab 1290 wieder vertrieben wurden. Viele siedelten sich in Paris an (Toch, 2014, 245). In Deutschland war das jüdische Leben kleindimensioniert; ab dem 14. Jahrhundert nahmen jüdische Siedlungen zu, die sich jedoch wegen der erzwungenen Binnenwanderungen erst formten (Toch, 2014, 245). Das polnische Judentum war das Ergebnis spätmittelalterlicher Vertreibungen und Wanderungen (Toch, 2014, 246): „Erzwungene Migration und Exilierung betrafen fast alle jüdischen Gemeinden des mittelalterlichen Europas“ aufgrund von Ausweisungen aus England, aus dem Königreich Frankreich, aus der Provence, aus Spanien, Sizilien, Portugal, aus dem Königreich Neapel, wie aus zahlreichen Städten/Gemeinden in Deutschland (Toch, 2014, 247). In den jüdischen Gemeinden des Mittleren Ostens spielte Emigration kaum eine Rolle (Toch, 2014, 247).

3.4.2. Islam und Christentum

Ab 711 eroberten muslimische Truppen Teile der iberischen Halbinsel, wie z.B. das westgotische Königreich von Toledo, das dann den Namen Al-Andalus trug. Erst 1492 wurde mit Granada das letzte muslimische Herrschaftsgebiet wieder christlich (Maser, 2014, 161). Anfangs bestanden die muslimischen Truppen hauptsächlich aus nordafrikanischen Berbern, insgesamt jedoch waren die Eroberungsheere ethnisch heterogen (Maser, 2014, 162). In Folge kamen Sklaven und andere Bevölkerungen nach Al-Andalus; die christliche Antwort erfolgte zwischen dem achten bis elften Jahrhundert in der sogenannten Reconquista: Um 750 vertrieb Alfons I. von Asturien die Muslime aus Galicien; die Franken eroberten 785 Girona. Mit den christlichen Eroberern strömten in der Folge Neusiedelnde nach (Maser, 2014, 164). Im elften Jahrhundert profitierten die Christen von einer Krise in Al-Andalus (Maser, 2014, 164); ab dem elften Jahrhundert gab es Kreuzzugskampagnen (1147 Lissabon) gegen die Muslime in Al-Andalus (Maser, 2014, 165). Auch die christlichen Eroberer lösten in Spanien eine muslimische Massenflucht nach Nordafrika aus (Maser, 2014, 167).

3.5. Sklavenhandel als Konfliktmigration

Sklaverei ist eng mit dem Thema Migration verbunden (Schiel, 2014, 252) – Sklaverei ist eine Form von Konfliktmigration, „sei sie eine Folge von Krieg, Plünderungen und Raub oder eine Frage des Status von Geburt, sei sie ein Ergebnis von Hunger, Armut und Verschuldung oder aber eine Form von Bestrafung, die Migration versklavter Menschen schloss Zwang und Gewalt notwendigerweise mit ein […]“ (Schiel, 2014, 251). Die Gesellschaften lassen sich im Mittelalter darin unterscheiden, ob sie Sklaven aus der eigenen Bevölkerung (intrusive Sklaverei) oder aus fremden Bevölkerungen (extrusive Sklaverei) rekrutierten. Auf jeden Fall wurde Sklaven/Sklavinnen die Partizipation an der Gesellschaft verweigert. In Asien war die extrusive Form vorherrschend, in christlich-muslimischen die intrusive (Schiel, 2014, 252). Trotz der Verbote in den monotheistischen Religionsgemeinschaften lassen sich Versklavungszonen und versklavungsfreie Zonen annehmen. Der afrikanische Kontinent war eine prominente Versklavungszone, vornehmlich in der Region östlich des Tschadsees und die Region des alten Ghana-Reiches. Die Geschichte der afrikanischen Sklavenmigration ist eng mit der Geschichte des Goldhandels verknüpft. Gold und Sklaven ließen sich als Zahlungsmittel einsetzen und Sklaven darüber hinaus für den Goldabbau und -Transport. Beides war über größere Entfernungen rentabel (Schiel, 2014, 253). Ab dem 15. Jahrhundert beherrschten spanische und portugiesische Händler den europäischen Markt. Schätzungsweise wurden zwischen 650 bis 1500 über 6 Millionen Menschen afrikanischen Ursprungs versklavt (Schiel, 2014, 255). Sklavenhandel und Sklavenbesitz war zwar im Spätmittelalter verboten, florierten aber trotzdem. Sklaven waren oft Opfer von Kriegen und wurden an Fürstenhöfen, in Klöstern und in der Landwirtschaft eingesetzt. Vor allem keltische und skandinavische Gebiete im Norden waren Versklavungszonen, auch die östlichen slawischen Gegenden, die vor allem ab dem neunten Jahrhundert zum wichtigsten Sklavenreservoir Europas avancierten. In Asien hatte sich lange vor dem Islam ein transozeanischer Menschenhandel zwischen China und Indien etabliert (Schiel, 2014, 257). Junge männliche Sklaven wurden oft in der Landwirtschaft eingesetzt; nomadische Gesellschaften waren eher an Frauen und Kindern interessiert. In den muslimischen Großreichen war Versklavung durchaus Ausdruck von Herrschaft des „Hauses des Islam“, d.h., es gab eine Zweiteilung zwischen "Gläubigen und Ungläubigen" (Schiel, 2014, 259), aber Sklaven fanden sich im islamischen Herrschaftsbereich auf allen gesellschaftlichen Stufen.

3.6. Freiwillige Migration aus religiösen, wirtschaftlichen und politischen Gründen

3.6.1. Missionare, Pilger und Asketen

Das Gegenstück zur Sklaverei ist die freiwillige Migration aus religiösen Gründen (Lohse, 2014, 268) durch Missionare, Pilger und Asketen; als außerordentlich asketisches Ideal galt dabei die Heimatlosigkeit: „Neben dem eremitischen Rückzug aus der Welt und der Selbst-Entfremdung als freiwilliger Exilant konnte die asketische Heimatlosigkeit auch durch fortwährendes Herumziehen als Wanderprediger realisiert werden“ (Lohse, 2014, 269). Ausdruck fand dieses Bestreben zum Beispiel in den Bettelorden. Die Migrationsbewegungen von Pilgern, Asketen und Missionaren folgten keinem Muster (Lohse, 2014, 273), die kulturellen Effekte dürften aber nicht unterschätzt werden (Lohse, 2014, 276).

3.6.2. Reisende Händler

Der reisende Händler ist ein Migrant par excellence (Rando, 2014, 291), ab dem neunten Jahrhundert wandten sich aufgrund der Christianisierung Skandinaviens skandinavische Händler Zentral- und Westeuropa zu (Rando, 2014, 292), die durchaus gleichermaßen diplomatische Aufträge erfüllen konnten: „Erfolg oder Misserfolg der Handelsunternehmungen hingen ab von Konvivenz, Koexistenz und Konflikt mit den Lokalgegebenheiten in Bezug auf Steuer- und Zollentwicklung, sowie von der Zusammenarbeit mit einheimischen Händlern […]“ (Rando, 2014, 293). Ziel dieser Händler war durchaus der Erwerb der Bürgerschaft, was die Befähigung zum Innenhandel brachte (Rando, 2014, 295). Trotzdem waren Händler und Kaufleute nicht immer vor Repressalien sicher (Rando, 2014, 296).

3.6.3. Europäische Heiratspolitik

Internationales Heiraten europäischer Königs- und Fürstenhöfe bedeuteten nicht nur Prestigegewinn, sondern führte zu beträchtlichen Migrationen: „Bei jeder internationalen Heirat traf mit der fremden Frau und ihrem Gefolge eine neue Personengruppe auf ein bestehendes soziales Bezugssystem“ (Spieß, 2014, 305). Erschwerend kam hinzu, dass sich Braut und Bräutigam nicht kannten, nicht dieselbe Sprache sprachen und unterschiedlichen Kulturkreisen angehörten.

3.6.4. Urbanisierung und Landflucht

Die Land-Stadt-Migration ist der häufigste Migrationstyp und selbst Bedingung für die Urbanisierung (Schäfer, 2014, 311). Landflucht ist ein bekanntes Phänomen, die städtischen Siedlungen profitierten davon und entwickelten sich oft geografisch in Nachbarschaft zu antiken Siedlungen oder waren von vorneherein als Neugründung geplant. Frühstädtische Handelsplätze waren von Siedlungen, Fluchtburgen und anderen Zentren umgeben (Schäfer, 2014, 312). Gleichfalls gab es hier Push- und Pull-Faktoren, oft waren es wirtschaftliche Gründe, die Menschen in die Stadt ziehen ließen (Schäfer, 2014, 313). Auf dem Land veränderten sich infolge der Landflucht die Dörfer oder wurden teilweise sogar aufgegeben (Schäfer, 2014, 315).

4. Deutschland als Kolonialmacht

Zwangsarbeit und Unterdrückung indigener Völker sind in den überseeischen Kolonien Deutschlands als Mittel der Bestrafung und Disziplinierung erprobt worden (Alexopoulou, 2020, 19). Zwischen 1862-1878 lehnte Otto v. Bismarck den Erwerb von Kolonien ab und setzte auf Handels- und Schutzverträge. In der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871, hervorgegangen aus der Norddeutschen Bundesverfassung, (Huber, 1988, 759.) war jedoch das Vorhandensein von Kolonien vorgesehen. Eine Änderung trat bei Bismarck etwa 1879 in Verbindung mit seiner Schutzzollpolitik für die deutsche Wirtschaft gegen ausländische Konkurrenz auf (Böhme, 1968, 346). Die „Denkschrift über die Colonial-Bestrebungen in der Südsee“ von Adolph von Hansemann (Hiery, 2001, 2;3) bewog Bismarck dann zu einer anderen Haltung in der Kolonialpolitik, in deren Folge in Ostafrika, Westafrika, China und im pazifischen Inselraum deutsche Kolonien entstanden, die jedoch nach dem Ersten Weltkrieg alle aufgegeben werden mussten (Kundrus, 2003a; Kundrus, 2003b).

Die Bevölkerungen in den Kolonien waren Deutschen weder sozial noch rechtlich gleichgestellt; die jeweilige Zugehörigkeit wurde mittels rassistischer Kriterien und rassistischem Weltwissen getroffen (Speitkamp, 2005, 44;61). Die indigene Bevölkerung konnte 1913 bei der Einführung der deutschen Staatsbürgerschaft keines dieser Rechte erwerben, sondern waren „Untertanen“ oder „Schutzbefohlene des Deutschen Reiches“ – gegen Entscheidungen der jeweiligen Kolonialbehörden gab es keine Rechtsmittel. Eheschließungen zwischen indigenen und Deutschen waren verboten, Kinder aus diesen Beziehungen geächtet (Speitkamp, 2005, 44-61; Gosewinkel, 2003, 303).

Die indigene Bevölkerung wurde belehrt und missioniert, aber letztlich durch Kolonialgesetzgebung und Machenschaften massiv unterdrückt (Speitkamp, 2005, 91-97) und durch Gewaltanwendung zur Zwangsarbeit gezwungen (Gründer, 2012, 175-180). Körperstrafen, wie z.B. Auspeitschen, waren an der Tagesordnung; tägliche Gewaltanwendung führte in der Folge auch zu blutig niedergeschlagenen Aufständen (berüchtigt waren der sogenannte Boxeraufstand [Wendorff, 2016], der Maji-Maji-Aufstand [Seeberg, 1989] und der Aufstand der Herero und Nama [Zöllner, 2017]). Die deutsche Kolonialpolitik zielte jedoch insgesamt auf die größtmögliche Ausbeutung der Kolonien und war insgesamt von rassistischen Motiven geprägt (Lerp, 2016, 57).

5. Migration in der jüngeren Zeitgeschichte

Die beiden Kriege (1914-1918/1939-1945) brachten tiefgreifende globale Veränderungen mit sich; die ehemaligen Kolonien wurden selbstständig und die europäische Vorherrschaft zerbrach nach dem Zweiten Weltkrieg und Europa selbst – vor allem im sogenannten Kalten Krieg – war kein eigenständiger weltpolitischer Akteur mehr (Oltmer, 2017, 128). In Kriegszeiten wurden Menschen deportiert und zur Zwangsarbeit in den Kriegswirtschaften gezwungen. Viele flohen aus den Kampfzonen, wurden evakuiert oder nach Kriegsende ausgewiesen und vertrieben. Im Ersten Weltkrieg flohen ungefähr 1,5 Millionen Belgier in die Niederlande, nach Frankreich oder Großbritannien; Hunderttausende flohen aus Nordfrankreich (Kushner, 2010, 1-28; Hoffmann-Holter, 1995, 23-30). Im Osten Europas waren die Fluchtbewegungen umfänglicher (z.B. Ostpreußen 1914); im österreichisch-ungarischen Galizien u.a. 1915/1916 waren ca. 2,7-3,1 Millionen Menschen auf der Flucht (Oltmer, 2017, 129) – bis 1917 waren es dann ca. 7 Millionen. Missliebige Minderheiten wurden gewaltsam vertrieben. Begünstigt wurde die Kriegssituation durch extreme Nationalismen, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung gesellschaftlicher Minderheiten; im Zarenreich z.B. gab es zahlreiche Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, Letten und Russlanddeutsche wurden nach Sibirien deportiert; Ähnliches lässt sich in Österreich-Ungarn gegen die serbische, ukrainische und italienische Bevölkerung sehen (Oltmer, 2017, 129); daneben gab es als Methoden die Internierung oder die Zwangsrepatriierung (Oltmer, 2017, 130). Nach dem Ersten Weltkrieg gab es millionenfache Rückwanderungen von Geflüchteten, Vertriebenen, Evakuierten, Zwangsarbeitskräften und Kriegsgefangenen (Oltmer, 2017, 131; Oltmer, 2005, 89-138). Zwangsmigration gab es auch nach der russischen Revolution 1917 – die Menschen flohen vor der Revolution und dem Bürgerkrieg.

Russische Exilantinnen und Exilanten zog es vor allem nach Frankreich und in die USA; Ähnliches lässt sich auch bei der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland beobachten. Die Fluchtbewegungen erfolgten schubweise 1933 -1935 (Nürnberger Rassegesetze) – 1938 (Novemberpogrom). In der militärischen Expansionsphase der NS-Kriegsführung stieg die Zahl der Geflüchteten/Deportierten/Vertriebenen europaweit auf ca. 30 Millionen, nach 1943-1945 kam ca. die gleiche Zahl noch hinzu, sodass man von 60 Millionen geflüchteter Menschen in Europa ausgehen kann (Oltmer, 2017, 145; Kulischer, 1948, 264; Streit, 1997; Bischof, 2005; Overmans, 2008, 729-875). Maria Alexopoulou (Alexopoulou, 2020, 64-94) macht darauf aufmerksam, dass Deutschland nach dem II. Weltkrieg schon lange Einwanderungsland war, bevor das gesellschaftlich zur Kenntnis genommen wurde. Die ersten Migrierenden im Nachkriegsdeutschland waren nicht die angeworbenen Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei, sondern die ca. 200.000 „heimatlosen Ausländer“ die als Zwangsarbeitende nach Deutschland vor allem während der Kriegsphase verschleppt worden sind und jetzt als sogenannte „Displaced Persons“ im Nachkriegsdeutschland lebten (Alexopoulou, 2020, 64), bis 1955 die offizielle neuere deutsche Migrationsgeschichte begann. Rassistische Denk- und Wahrnehmungsweisen, so Alexopoulou, festigten Herkunftshierarchien, Ansehen und Umgang dieser Migrierenden. Alexopoulou stellt fest (Alexopoulou, 2020, 65), obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse vom autoritären NS-Regime hin zu einer demokratischen Gesellschaft gewandelt hatten, dass das gesellschaftlich vorhandene „rassistische Wissen“ aus der nationalsozialistischen Ideologie nicht einfach verschwunden war, sondern kontinuierlich sowohl in rechtlicher als auch administrativer Hinsicht weiter bedient wurde. Lutz Niethammer (1985) spricht von einer sogenannten „Volkskontinuität“ versus „Ausländerkontinuität“ – d.h. das vornehmlich gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete „Othering“-Verfahren, den Fremden zum „Anderen“ zu machen, wurde bruchlos auf die ehemaligen Zwangsarbeitenden und später auf die sogenannten „Gastarbeitenden“ übertragen (Bloch, 1984, 549-550). Formaljuristisch galten die „Displaced Persons“ als „Ausländer“ und zugleich waren es die ersten ausländischen Geflüchteten in der BRD (Alexopoulou, 2020, 83). Auch in den spärlichen Einbürgerungsverfahren dieser Migrierenden der ersten und zweiten Generation zeigten sich massive Vorurteile und Hindernisse; viele dieser Migrantinnen und Migranten wurden diskriminiert und zogen es vor, entweder in die gesellschaftliche „Unsichtbarkeit“ zu verschwinden oder auch als „Niemande“ zu leben (Alexopoulou, 2020, 89; Hohlfeld, 2019, 39). Die Rede von der sogenannten „Stunde null“ (= 1945) täuscht darüber hinweg, warum dieser Personenkreis überhaupt nach Deutschland gekommen war (Alexopoulou, 2020, 93). Deutschland wird von 1945 bis in die 60iger Jahre hinein von der historischen Migrationsforschung als „Nicht-Einwanderungsland“ charakterisiert (Bade/Bommes/Oltmer, 2004, 437- 472). Deutschland als „Nicht-Einwanderungsland“ entpuppt sich also für die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte als unvollständige Perspektive, denn es gab Migranten und Migrantinnen unterschiedlicher Herkünfte; diese wurden jedoch zusammen mit den späteren sogenannten „Gastarbeitenden“ als „Ausländer“ je nach Herkunftsland kategorisiert, die nicht in Deutschland bleiben wollten und die man auch nicht in die deutsche Zivilgesellschaft integrieren wollte (Mattes, 2016, 815-851). „Das Konstrukt des homo oeconomicus erlaubte es, Menschen auf ihre Arbeitskraft zu reduzieren und ihnen zudem nur bestimmte Bedarfe und Motive zuzugestehen“ (Alexopoulou, 2020, 117, Hervorhebungen im Original; Herbert, 2003, 222). In den 60iger und 70iger Jahre wurde dann der Begriff des „ausländischen Mitbürgers“ geprägt und weniger freundlich gemeint dann der „Scheinasylant bzw. Scheinasylantin“ (Alexopoulou, 2020, 123) ab 1973.

In diesem gesellschaftlichen Zusammenhang im Nachkriegsdeutschland spricht Wolfgang Benz von „Rassismus als Ideologie“ (Benz, 2019, 59-91), die sich problemlos auf Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimischen Ländern, Juden/Jüdinnen aus Osteuropa oder gegen Angehörige von Roma und Sinti anwenden lässt. Die islam- und fremdenfeindliche Partei „Alternative für Deutschland“ spricht ähnlich wie Pegida und Ableger zum Beispiel von einer „Islamisierung Deutschlands“ (Benz, 2019, 63). Auch diese Form der Islamfeindlichkeit hat eine lange Geschichte und reicht bis in die Kreuzzugszeit zurück und existiert nicht erst seit 2015.

6. Didaktische Perspektiven

Lernende sind heute in Migrations- und Globalisierungsprozesse eingebunden und diese gesellschaftlichen Transformierungsprozesse spiegeln sich auch im Unterricht allgemeinbildender und noch mehr berufsbildender Schulen wider. Der Erwerb von Pluralitätskompetenz (Nipkow, 1998; Schwendemann; Rausch/Ziegler, 2020, 29;109) ist ebenso Aufgabe des Religionsunterrichts und die historische Orientierung wird zu einer kritischen Befragung christlichen Bildungsauftrags (→ Historisches Lernen, Historische Bildung). In Deutschland wächst der Anteil der Lernenden im Primar- und im Sekundarschul I Bereich, die eine Migrationsgeschichte mitbringen. In jeder fünften KiTa-Einrichtung (→ Kindertagesstätte) haben nach neuesten Einschätzungen mind. 50% der Kinder einen Migrationshintergrund. In einigen Jahren sind diese Kinder Lernende in unserem Schulsystem (Ahrandjani-Amirpur, 2013). Dem Religionsunterricht kommt hier also eine entscheidende Aufgabe zu, Lernende zu befähigen, mit unterschiedlichen Voraussetzungen und kulturellen Hintergründen, historische Ereignisse wahrzunehmen, bedeutsam zu machen und für die Bedeutung dieser Ereignisse in der heutigen Zeit zu sensibilisieren. Beispiele wie die sogenannte „Völkerwanderung“ oder die „Kreuzzüge“ sind durchaus im kulturellen Gedächtnis verankert und kommen schnell an die Oberfläche, wie die Beispiele der Mohammed-Karikaturen oder die Errichtung des Staates Israel 1948 und der israelisch-palästinensische Konflikt zeigen. Ohne historische Grundbildung sowohl bei Lehrenden als auch Lernenden verfehlt der Religionsunterricht sein Ziel, in Bezug auf gegenwärtige gesellschaftliche Konfliktsituationen zu sensibilisieren; kirchengeschichtlich orientierter Unterricht vermittelt auch in gewissem Maß religiöse Identitätsbildung bei Lernenden. Historisch nicht aufgearbeitete Konflikte können sich im Unterricht kulminieren und im Extremfall Unterricht verhindern

In gängigen Kirchengeschichtsdidaktiken fehlt jedoch das Thema Migration in global-historischer Perspektive, vor allem aus der Betrachtungsweise von Betroffenen (→ Interkulturalität/Ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration). Kirchengeschichtsdidaktisch wären z.B. die Gewaltmigration des mittelalterlichen Judentums bis in die Gegenwart oder die Migration von Hugenotten, böhmischen Brüdern, Hussiten, Protestanten aus dem Salzburger Land oder auch die Geschichte der Sklaverei, Zwangsarbeit und Kolonialismus, u.a. Inhalte, an denen sich unterrichtliche Prozesskompetenzen, aber auch inhaltliche Kompetenzen erwerben ließen. Querschnittskompetenzen im kirchengeschichtsorientierten Unterricht zum Thema Migration wären dann z.B. auch Prävention gegen Antisemitismus (→ Antijudaismus, Antisemitismus), Islam- und Fremdenfeindlichkeit (→ Fremdheit als didaktische Aufgabe). Die Vielfalt historischer Ereignisse und Zusammenhänge bietet zudem die Möglichkeit, die Wichtigkeit interreligiöser Kommunikationsprozesse anzuerkennen (zum Beispiel christlich-jüdischer Dialog oder christlich-muslimischer Dialog oder auch Kommunikationsprozesse zwischen Christen – Juden – Muslime). Zwar finden sich im Unterrichtswerk 2000 Jahre Christentum (1984ff.) durchaus Quellentexte, z.B. im vierten Kapitel „Christen und Germanen“ (Lehrerhandbuch, 1987, 72-81), der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Thema Mission, d.h. auf dem Schwerpunkt Herrschaftseliten der Germanen, die sich dem Christentum zugewandt haben. In Brennpunkte der Kirchengeschichte (2004) wird zumindest die Missionspraxis gegenüber den germanischen Völkern problematisiert, vor allem das imperiale Vorgehen von Karl dem Großen gegenüber den Sachsen (Brennpunkte, 80-81); dagegen werden jedoch die Auswirkungen von Kolonialismus, Postkolonialismus und auch Sklaverei zu wenig thematisiert. Meistens werden die historischen Ereignisse zudem aus eurozentrischer Sicht dargestellt, was für den Lernenden zwar hilfreich ist, gleichzeitig müsste dieser kirchengeschichtliche Zugang jedoch auch problematisiert werden, denn im heutigen Religionsunterricht ist der Erwerb interkonfessioneller und interreligiöser Kompetenzen wichtig. Der oben dargestellte Zusammenhang zwischen imperialer Mission – Gewaltmigration – kolonialen Herrschaftsstrukturen bedarf einer grundlegenden Bearbeitung und einer Neuausrichtung einer zeitgemäßen Kirchengeschichtsdidaktik. Zu lösen hätte man sich von einer einseitigen historischen Arbeit, die sich allein an Ereignissen und Jahreszahlen orientiert. Viel wichtiger sind die Zusammenhänge zwischen sich etablierenden Herrschaftseliten und den daraus folgenden Wanderungsbewegungen, ob sie nun freiwillig oder unter Zwang erfolgt sind. Aus protestantischer Sicht müssen kirchengeschichtliche Ereignisse elementarisiert und in einen Zusammenhang mit der Lebenswelt der Lernenden gebracht werden.

Literaturverzeichnis

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