Deutsche Bibelgesellschaft

Erstes Vatikanisches Konzil

Andere Schreibweise: I. Vatikanisches Konzil; Vaticanum I; 1. Vatikanum

(erstellt: Februar 2022)

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1. Die Gegenwartsrelevanz des Konzils

Wenn in der Gegenwart die katholische Kirche einer Mehrheit der Bevölkerung als antiquiert und rückständig gilt, ist dies auch die Folge von deren Selbstabgrenzung gegen die moderne Welt, vor allem seit der Französischen Revolution. Das Erste Vatikanische Konzil 1869/70 kann als Ausdruck und Höhepunkt dieser Frontstellung der Kirche gelten: Auf diesem Konzil hat die römisch-katholische Kirche mit höchster Verbindlichkeit das Verhältnis von Glauben (→ Glaube) und Vernunft zu bestimmen und die Stellung des Papstes in der Kirche zu definieren gesucht. Gegen die moderne Welt, die man ablehnte, da sie immer neue Irrtümer hervorbringe, wollte man die Gewissheit des Glaubens begründen und den Papst als die eine, oberste, souveräne und letztverbindliche Entscheidungsinstanz in der Kirche definieren. Der Papst übe ein Amt aus, das Christus dem Petrus verliehen habe und das Eindeutigkeit und Sicherheit garantiere – so die zugrundeliegende Argumentationsfigur. Damit griff man das wichtige, moderne Anliegen nach Sicherheit im Glauben auf. Dennoch gab es Kollateralschäden: Die Papstdogmen (→ Dogmatik) haben das Verhältnis zu den anderen christlichen → Konfessionen schwer belastet bzw. hatten das Schisma mit den Altkatholiken zur Folge.

Dies wirft ebenso „lange Schatten“ (Peter Neuner) auf die Kirche der Gegenwart wie der Umstand, dass die damit verknüpften exegetischen und historischen Begründungen heute mitunter nicht mehr haltbar sind, die Dogmen selbst aber überzeitliche Geltung beanspruchen. Dies gilt für die äußerlichen Gründe der Glaubwürdigkeit der → Offenbarung, Wunder und erfüllte Prophezeiungen, die den Offenbarungsglauben legitimieren sollen, aber auch für den Schriftbeweis für das Papstamt. Zudem haben die sanktionierten kirchlichen Strukturen seither immer wieder Öffnungsversuche zur modernen Welt gebremst und erschwert. Formen der Partizipation und Synodalität, die an sich gut begründete Wurzeln in Schrift und älterer Tradition haben, konnten sich wegen der seither vorherrschenden Deutung von Amtsautorität und Papstamt in der Kirche nur unzureichend ausbilden. Das vom I. Vatikanum definierte Papstamt mit seiner Fülle an Entscheidungskompetenz verlangt das personale Amtscharisma, überfordert aber den Papst als Einzelperson, zumal seither immer mehr Entscheidungen im Vatikan getroffen wurden. Aus diesem Grund entscheidet in seiner Kompetenz de facto die Bürokratie kurialer Mitarbeiter; dies ist ekklesiologisch defizitär und steht in Spannung zur personalen Petrusverheißung, auch wenn es unter der Autorität und im Auftrag des Papstes geschieht. Es droht zudem die Glaubenserfahrungen und Entscheidungskompetenzen in den Ortskirchen zu entwerten. So ist mit den Festlegungen des Konzils ein die Kirche bis heute kennzeichnender Problemkomplex verbunden, der eng mit der Entfremdung vieler Menschen von der Kirche verbunden ist.

2. Ablauf und Beschlüsse des Konzils

2.1. Konzilsidee und Vorbereitung

Anlässlich der 1800-Jahr-Feier des Martyriums von Petrus und Paulus kündigte Papst Pius IX. am 26. Juni 1867 in Rom die Einberufung eines ökumenischen Konzils an. Am 29. Juni des folgenden Jahres berief er dieses mit der Bulle Aeterni Patris auf den 8. Dezember 1869 nach Rom ein. Die Einladung an die orthodoxen und protestantischen Kirchen verband er mit dem Appell, zur kirchlichen Einheit unter dem Papst zurückzukehren, was als brüskierend empfunden und abgelehnt wurde. Die Oberhäupter der christlichen Staaten wurden nicht mehr eingeladen. Hinter dem päpstlichen Entschluss lassen sich zwei wichtige Entwicklungslinien ausmachen: Auf der einen Seite sollte der seit der Revolution von 1848 und dem Exil des Papstes in Gaëta (bis 1850) geführte Kampf gegen den Rationalismus und den Liberalismus mit seiner Theorie individueller Menschenrechte (→ Grundrechte/Menschenrechte) und Freiheiten (→ Freiheit) fortgeführt werden, ebenso der Kampf für die Unabhängigkeit der Kirche von den Staaten. Zudem hatte eine streng-römisch und an der mittelalterlichen Theologie orientierte Gruppe von Theologen (→ Theologie) die päpstliche Verurteilung theologischer Strömungen nördlich der Alpen, die der modernen historischen Methode oder der neuzeitlichen Philosophie (→ Philosophie, philosophische Bildung) aufgeschlossen gegenüberstanden, durchgesetzt. Beide Entwicklungen sollten bekräftigt und feierlich als unumstößlich erklärt werden. Ab September 1867 arbeitete eine Zentralkommission an der Geschäftsordnung, während fünf Sachkommissionen (Dogma, Disziplin, Kirchenpolitik, Ostkirchen und Missionen, Orden) die zu beschließenden Texte vorbereiten sollten. Deren kurial dominierte, einseitig-ultramontane Zusammensetzung rief breite Kritik hervor und führte Ende 1868 zu einer Intervention des Prager Kardinals Friedrich von Schwarzenberg und zu einer Nachnominierung weiterer Konsultoren; diese Korrektur blieb jedoch weitgehend kosmetisch.

Während die Vorbereitungsarbeit von der Öffentlichkeit abgeschirmt war, polarisierte die römische Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica, die sich zu einem halboffiziösen Laboratorium und antimodernen Vordenkerorgan des Papstes entwickelt hatte, am 6. Februar 1869 mit einem Artikel, nach dem alle wahren Katholiken sich vom Konzil die Definitionen des Syllabus errorum von 1864, der Unfehlbarkeit des Papstes und der sofortigen leiblichen Aufnahme Mariens bei ihrem Tod in den Himmel wünschten. 1867 hatte diese Zeitschrift bereits ein Gelübde für die päpstliche Unfehlbarkeit propagiert, das die Bischöfe Henry Edward Manning (Westminster) und Ignatius Senestrey (Regensburg) am Petrusgrab auch ablegten. Ähnliche Forderungen erhob der französische Publizist Louis Veuillot in seiner Zeitschrift L’Univers. Katholische Gegenstimmen fürchteten eine einseitig-parteiische Definition, die weder auf die enormen historischen Probleme eines solchen Glaubenssatzes, noch auf die Stellung der Katholiken als Staatsbürger Rücksicht nähme. An die Spitze dieser Opposition stellte sich der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger mit einer in der Augsburger Allgemeinen Zeitung anonym publizierten Artikelfolge (die dann auch separat unter dem Pseudonym „Janus“ erschienen). Der von Döllinger angestoßene Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten, eine diplomatische Intervention der Staaten zu organisieren, führte zu keinem Erfolg.

2.2. Konzilseröffnung und Polarisierung

Das am 8. Dezember 1869 eröffnete Konzil tagte unter schlechten akustischen Bedingungen im rechten Seitenschiff der Peterskirche. Die Geschäftsordnung (Multiplices inter) wurde dem Konzil vom Papst, der sich die Besetzung des Präsidiums und aller Kommissionen sowie die zu beratenden Vorlagen vorbehielt, oktroyiert. Insgesamt waren 792 Bischöfe und Ordensobere anwesend, die meisten stammten aus Europa, wobei die romanischen Länder mit ihren kleinen Diözesen und ihrer katholischen Bevölkerung samt den kurialen Titularbischöfen fast zwei Drittel der Konzilsväter stellten. Obwohl die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit in keinem der vorbereiteten Schemata thematisiert war, spaltete sie von Anfang an das Konzil in eine bejahende Majorität und eine kritische Minorität (rund 20% der Bischöfe, vor allem aus den meisten der großen Bistümer in Deutschland und Österreich-Ungarn, einem Teil der französischen und nordamerikanischen Bistümer sowie einigen unierten Patriarchen). Da der Papst kaum die eigene Unfehlbarkeit zur Abstimmung vorlegen konnte, sammelten infallibilistische Bischöfe, die von dieser Lehre überzeugt waren, bis Ende Januar 1870 über 400 Unterschriften, die eine Behandlung der Lehre durch das Konzil erbaten. In die entscheidende Glaubensdeputation waren vorher unter dem Einfluss der Senestrey-Manning-Gruppe nur Infallibilisten gewählt worden. Diese kennzeichnete ein Sicherheits- und Souveränitätsdenken, das gegen eine Pluralität von Meinungen eine verbindliche und letzte autoritative Instanz wünschte. Die Mehrheit der Minoritätsbischöfe lehnte die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht nur aus Rücksichtnahme auf die Staaten oder die Ökumene ab (Opportunitätsgründe), sondern auch aus prinzipiellen theologischen Gründen: Die Geschichte – so ihre Argumentation – schien klar irrtümliche päpstliche Glaubensentscheidungen zu belegen, Jurisdiktionsprimat und Infallibilität des Papstes wurden in den ersten Jahrhunderten und vielfach auch später nicht geglaubt und konnten deshalb, da nicht zu ursprünglichen Glaubensbewusstsein der Kirche gehörend, somit nicht zu den Inhalten der Offenbarung in Jesus Christus gehören.

2.3. Glaube und Vernunft: Das Dekret Dei Filius

Als erstes der vorbereiteten Schemata wurde De doctrina catholica diskutiert (28.12.1869-10.1.1870). Der von Johann Baptist Franzelin SJ und Johann Baptist Schwetz verfasste Entwurf wurde, weil als zu weitschweifig und abstrakt kritisiert, durch eine straffere Neufassung von Joseph Kleutgen SJ ersetzt, zwischen dem 22.3. und dem 1.4. beraten, am 24.4. als dogmatische Konstitution Dei Filius vom Konzil einstimmig angenommen und vom Papst approbante concilio feierlich promulgiert. Sie lehrte die sichere Erkennbarkeit Gottes aus der Schöpfung mittels der natürlichen Vernunft (Beweisbarkeit Gottes [→ Gott] aus der → Schöpfung), während die geoffenbarten übernatürlichen Wahrheiten (→ Wahrheit) durch die menschliche Vernunft (Rationalismus) grundsätzlich nicht erkannt werden können. Die Offenbarung könne nur auf die Autorität eines glaubwürdigen Zeugens hin geglaubt werden. Diese Autorität sei die des sich offenbarenden Gottes, der sich nicht täuschen könne und andere nicht täuschen könne. Die menschliche Vernunft könne freilich erkennen, dass der konkrete historische Offenbarungsanspruch glaubwürdig ist: Als Glaubwürdigkeitsmotive für diese werden Wunder und erfüllte Prophezeiungen bestimmt. Die auf Joseph Kleutgen zurückgehende und schon in das päpstliche Breve Tuas libenter (1863) aufgenommene Theorie eines „ordentlichen“ Lehramtes des Papstes neben dem „außerordentlichen“ wurde bekräftigt: Nicht nur die feierlichen dogmatischen Erklärungen seien zu glauben, sondern die gesamte Lehr- und Verkündigungspraxis des Apostolischen Stuhls in Rom. So stützte die Konstitution die Verurteilung deutschsprachiger und Löwener Theologen seit den 1850er Jahren; sie trug die Handschrift Kleutgens, der mit Hilfe der päpstlichen Autorität konkurrierende Schulrichtungen zu seiner „Theologie der Vorzeit“ ausschalten wollte.

Um den Gang des Konzils zu beschleunigen, wurde am 22.2.1870 in einer ergänzenden Geschäftsordnung die Redezeit im Konzil begrenzt und die einfache Mehrheit als hinreichend für Glaubensentscheidungen festgelegt. Die Fronten zwischen der Majorität, die Klarheit schaffen und die Definition einer unhinterfragbaren, Sicherheit gebenden souveränen Autorität des Papstes propagierte, und der Minorität waren verhärtet. Letztere erklärte, dass bei Glaubensfragen keine Mehrheitsentscheidung, sondern das einmütige Glaubenszeugnis aller (die moralische Unanimität) erforderlich sei; sie machte gegen eine Primats- und Unfehlbarkeitsdefinition dogmenhistorische Gründe geltend.

In vielen Ländern gab es parallel dazu eine kontroverse öffentliche Debatte, befeuert vor allem durch die „Römischen Briefe vom Concil“ in der über Deutschland hinaus verbreiteten Allgemeinen Zeitung, die der (vor allem durch John Lord Acton auf verbindungsreichem römischem Beobachtungsposten) wohlinformierte Döllinger anonym verfasste. Immer deutlicher ergriff der Papst nunmehr offen Partei für die Infallibilisten: Am 21.1.1870 war das von Clemens Schrader SJ verfasste Schema De ecclesia verteilt worden, das die Kirche als vom Staat in ihrer Ordnung unabhängige, ihm prinzipiell ebenbürtige societas perfecta beschrieb, die streng hierarchisch gegliedert sei und allein das Heil vermitteln könne. An ihrer Spitze komme dem Papst der Jurisdiktionsprimat zu. Pius IX. ließ am 6.3.1870 ein Zusatzkapitel (Caput addendum) über die päpstliche Unfehlbarkeit anfügen, dessen Hauptverfasser Schrader und Willibald Apollinaris Maier, der Theologe Senestreys, waren.

Am 29.4.1870 dekretierte er, die Papstkapitel aus dem Kirchenschema herauszulösen und als dogmatische Konstitution Pastor aeternus vor dem Restschema behandeln zu lassen. In vier Kapiteln sollte die Verleihung des päpstlichen Primats durch Christus an Petrus, dessen Fortexistenz im römischen Bischofsamt, Umfang und Wesen dieses päpstlichen Jurisdiktionsprimats (potestas plena, suprema, ordinaria, immediata, vere episcopalis) und als dessen Vollendung schließlich die päpstliche Lehr-Unfehlbarkeit definiert werden. Die kontroverse Debatte – die Minorität hoffte vergeblich, durch das Aufzeigen theologischer Probleme Kompromisse erzielen zu können – über diese Vorlage (14.5.-3.6.) wurde durch Mehrheitsbeschluss abgebrochen. Versuche gemäßigter Infallibilisten wie des Kardinals Luigi Maria Bilio, die Unfehlbarkeit auf feierliche Glaubensdefinitionen zu beschränken, oder des Kardinals Filippo Maria Guidi OP, die päpstliche Lehrautorität an die Glaubensüberlieferung der Kirche zurückzubinden, wurden von den radikalen Protagonisten der Lehre und vom Papst selbst abgewehrt. Auch die Eigenständigkeit der Bischofsgewalt gegenüber dem Papst konnte nicht Eingang in das Schema finden; vielmehr verschärfte Pius IX., als am 13.7. in einer Probeabstimmung 88 Väter mit Non placet und 62 mit Placet iuxta modum votierten, den Text noch, indem er einfügen ließ, päpstliche Entscheidungen über „eine Glaubens- oder Sittenlehre“ seien, wenn sie der Papst „ex cathedra … das heißt … kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität“ verkünde, „aus sich (ex sese) und nicht etwa auf Grund der Zustimmung der Gesamtkirche unabänderlich (non autem ex consensu Ecclesiae irreformabiles)“, und damit unfehlbar wahr. So sehr dies ein Sieg einer maximalistischen Deutung der Lehrgewalt des Papstes war (alles, was er gegenüber der Gesamtkirche als Papst lehre, sei unfehlbar), blieb eine einschränkende Interpretation, die Unfehlbarkeit beziehe sich nur auf die geoffenbarten Heilswahrheiten, zumindest nicht ausgeschlossen. Als ein letztes Gesuch der Minorität an den Papst erfolglos blieb, reisten 63 Bischöfe – rund 10% der bis zum Schluss am Konzil teilnehmenden Bischöfe – am Tag vor der öffentlichen Sitzung ab, in ihrer Abschiedsadresse an den Papst ihr Non placet-Votum nachdrücklich bekräftigend; nur zwei von ihnen erklärten zugleich ihre Unterwerfungsbereitschaft. So wurde am 18.7.1870 die Constitutio prima de ecclesia Christi Pastor aeternus mit 553 Ja- gegen 2 Nein-Stimmen verabschiedet und von Pius IX. approbante concilio promulgiert. Der Papst beurlaubte nun das Konzil; nach der Eroberung Roms, des letzten Restes des Kirchenstaats, durch italienische Truppen vertagte er es schließlich am 20.10.1870 auf unbestimmte Zeit. Die allermeisten der 65 entworfenen Schemata blieben so unbehandelt, etwa zum Projekt eines Einheitskatechismus für die ganze Welt. Das Konzil galt offiziell nur als unterbrochen, ist aber nie mehr fortgesetzt worden.

3. Konzilsrezeption und Nachwirken

3.1. Unterwerfung der Minoritätsbischöfe und Kulturkampf

Nach und nach unterwarfen sich die Minoritätsbischöfe. Ihre die Definition abmildernden Erklärungsversuche nahmen Papst und Kurie hin. In Deutschland legten der Episkopat nach dem Vorbild der Bischöfe Philipp Krementz (Ermland) und Matthias Eberhard (Trier) die Unfehlbarkeit doch wieder im Sinne Guidis als rückgebunden an den Glauben der Kirche aus, ohne dass römischer Widerspruch erfolgt wäre. 1875 erklärte der deutsche Episkopat die bischöfliche Jurisdiktion als direkt von Christus eingesetzt und nicht in der päpstlichen aufgegangen, was der Papst in einer Ansprache an die Kardinäle am 15. März bestätigte. So sehr man von Seiten der Minoritätsbischöfe selbst mit den Lehren der neuen Papstdogmen gerungen hatte, so entschieden forderte man nunmehr die Unterwerfung der Theologieprofessoren, sieht man vom Rottenburger bzw. Tübinger Ausnahmefall ab, wo sich Bischof Carl Joseph Hefele entgegen seinen vorherigen klaren Ankündigungen doch unterwarf und sich damit aber schützend vor seine schweigende theologische Fakultät stellte, der er selbst einst angehört hatte. In München dagegen wurde Döllinger zur Unterwerfung aufgefordert und, da er sich weigerte, feierlich exkommuniziert. In zahlreichen Ländern schlossen sich Gegner der Konzilsbeschlüsse, die das I. Vatikanum nicht als freies ökumenisches Konzil anerkannten, eine These, die auch von einem Teil der Konzilsgeschichtsschreibung vertreten wird (Friedrich 1877–1887; Hasler 1977), zur „altkatholischen“ Kirche zusammen.

Im neuen Deutschen Reich wurden die vatikanischen Lehrdefinitionen zum wichtigsten Auslöser des Kulturkampfs. Während in Bayern deren Publikation verboten und diese so juridisch vom Prinzip der landesherrlichen Aufsicht aus zunächst konsequent ignoriert wurden, ging Preußen einen Schritt weiter und forcierte eine Gegengesetzgebung, die den Übergriff des Klerus in politische Belange verhindern und die Integration desselben in das Staatswesen erzwingen wollte. Ergebnis war anhaltender Widerstand, eine Krise der pastoralen Versorgung der Gläubigen, aber ebenso auch die Festigung des sich formierenden, politisierten katholischen Milieus. Während die Zentrumspartei eine nie mehr erreichte katholische Wählerbindung erzielte, identifizierte die Mehrheit der praktizierenden Gläubigen sich mit ihren Hirten, die sie als vom Staat unrechtmäßig verfolgt betrachtete. Seit den 1880er Jahren wurden die Kulturkampfgesetze in direkten Verhandlungen mit dem Papst weitgehend wieder aufgehoben und eine zunehmende gesellschaftliche Integration der Katholiken setzte ein.

3.2. Fortwirken im 20. Jahrhundert

Entgegen der ursprünglichen Aussageabsicht wurde das Unfehlbarkeitsdogma in den nächsten Jahrzehnten immer mehr auf feierliche, seltene Glaubensdefinitionen zu restringieren versucht; dagegen wurde durch die Kodifizierung des kanonischen Rechts (1917) und die Modernisierung der kurialen Behörden der päpstliche Jurisdiktionsprimat in der Folgezeit immer extensiver ausgeübt. Die modernen Kommunikationsmittel ermöglichten es, dass Rom immer häufiger angerufen wurde. In immer dichterer Abfolge erschienen römische Lehr- und Rechtsentscheidungen.

Die moderne Bibel- und Religionskritik führte spätestens seit der Modernismusdebatte nach 1900 zu einer Krise des in Dei Filius gelehrten doktrinellen Offenbarungsverständnisses und des extrinsezistischen Wunderbeweises, aber auch der Lehre von der Kirchenstiftung und der Einsetzung des Papstamtes durch Jesus Christus. Trotz der massiven antimodernistischen Verurteilungen im Pontifkat Pius X. (1903-1914) und trotz des weit darüber hinaus andauernden repressiven Klimas in der Kirche gegenüber der wissenschaftlichen Theologie erstarkten doch Reformströmungen, die in das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) einmündeten. Dieses wollte die Lehren des I. Vatikanums nicht aufheben, sondern ergänzen und in eine weitere Sicht von Kirche und Offenbarung integrieren. So wurde eine umfassendere Ekklesiologie entwickelt, in die das Papstamt eingebettet wurde. Die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe (deren Gewalt sich direkt von Christus und nicht vom Papst ableite) mit und unter dem Papst als Haupt sollte dies ebenso leisten; was das Offenbarungsverständnis anging, so sollte in der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum, die vom II. Vatikanum verabschiedet wurde, das einseitig auf Unterweisung durch Gott zielende Konzept des I. Vatikanums in eine umfassend-ganzheitlichere Sichtweise integriert und aufgehoben werden. Früh stieß aber die Implementierung von Reformen in den Ortskirchen auf das Misstrauen Roms und wurde vielfach von den Päpsten und der römischen Kurie restringiert oder unterlaufen. De facto hat sich die päpstliche Primatsausübung nach dem II. Vatikanum noch einmal erheblich verdichtet. Erst Papst Franziskus hat angekündigt, die Gesamtkirche nach dem Prinzip der Synodalität reformieren zu wollen. Inwiefern ihm dies gelingen und er die „Schatten des I. Vatikanums“ (Neuner 2019) überwinden kann, bleibt abzuwarten, da die päpstliche Kurie gleichzeitig und in der Autorität des Papstes gegenteilige Akzente setzt. Wo aber Partizipation der Ortskirchen mit ihren jeweiligen Glaubenserfahrungen unzureichend geschieht, droht eine Entfremdung von den Gläubigen. Päpstlich-kuriale Entscheidungen drohen dann selbstreferentiell nur noch dem eigenen Autoritätserhalt zu dienen.

4. Ansätze für einen religionsdidaktischen Zugang

Die auf dem I. Vatikanischen Konzil behandelten Probleme sind theologisch und historisch voraussetzungsreich und komplex; dennoch ist der Alltag gläubiger Katholikinnen und Katholiken bis in die Gegenwart indirekt stark von diesen geprägt. Dies gilt u.a. für kirchliche Entscheidungsstrukturen und das päpstliche Recht der Bischofsernennung als Ausfluss des Jurisdiktionsprimats, welches bezüglich der meisten Ortskirchen sich im 19. und 20. Jahrhundert durchgesetzt hat und auch noch heute ausgeübt wird. Dies gilt für die Frage, wie religiöse Inhalte gelehrt und weitergegeben werden sollten, wobei das uniformistische Top-Down-Modell des einschlägigen Entwurfschemas vom Konzil nicht mehr behandelt worden war, gleichwohl aber lange Zeit den neuscholastisch und später dann katechetisch-kerygmatisch (→ Kerygmatischer Religionsunterricht) ausgerichteten katholischen Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, katholisch) prägte. Dies gilt auch für die grundlegenden fundamentaltheologischen Probleme der Erkennbarkeit Gottes und seiner Offenbarung und der Frage, wer diese verbindlich auslegen darf. Vorsichtige Ansätze katholischer Theologen, die Irrtumslosigkeit der → Bibel unter Berufung auf das I. Vatikanum auf die Heilswahrheiten einschränken und so einen Raum für die historische Bibelkritik einräumen wollten, wurden von den Päpsten seit Leo XIII. (1893) über Jahrzehnte hinweg abgelehnt.

Das I. Vatikanische Konzil antwortet auf Problemkreise, die modifiziert alle Religionen (→ Religion) in der Moderne betreffen: Abgrenzung oder Öffnung zur modernen Welt; Sicherheit und Unsicherheit im Glauben. Der Glaube soll vernünftig verantwortet werden, also weder auf vernünftige Einsicht reduziert werden, noch ein irrationaler, letztlich unbegründbarer Entscheidungsakt sein. Im Zeitalter des Nationalismus betonte man die übernationale Stellung des Papsttums. In der heutigen Ökumene gibt es über die Sinnhaftigkeit eines Papstamtes als Dienst an der transnationalen Einheit der Kirche zwar breiten Konsens, zugleich werden die Unfehlbarkeit des Papstes und sein Jurisdiktionsprimat als geoffenbarte Glaubenssätze aber außerhalb der katholischen Kirche strikt abgelehnt. Hier liegt eines der am schwierigsten zu lösenden Probleme der heutigen Ökumene.

Im Religionsunterricht lassen sich diese prinzipiellen Gegensätze und Anliegen an profilierten Persönlichkeiten (→ Biografisches Lernen) kontrastierend darstellen, etwa Papst Pius IX. oder den Regensburger Bischof Senestrey auf der einen und den Münchener Kirchenhistoriker Döllinger auf der anderen Seite. Die Dogmatischen Dekrete Dei Filius und Pastor aeternus eignen sich als Quellentexte (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch), deren Interpretation in zentrale Problemkomplexe des Konzils ebenso einführen, wie in eher historischer Hinsicht die „Römischen Briefe vom Concil“ (Römische Briefe 1870), die im Umfeld Döllingers entstanden und die deutschsprachige Öffentlichkeit kritisch über das Konzil informieren wollten. Als Bildquellen eignen sich Kupferstiche (→ Kunst, kirchengeschichtsdidaktisch) vom Konzil, aber auch → Bilder (und auch schon Fotografien [→ Fotografie]) wichtiger Protagonisten. Mit Papst Pius IX. begann eine neue Form der Verehrung des lebenden Papstes, der in Devotionalien in die Wohnungen vieler Katholiken wanderte – eine Praxis, die bis in die Gegenwart nachwirkt. In letztgenannter Hinsicht könnten → Schülerinnen und Schüler motiviert werden, entsprechenden Zeugnissen in ihren Familien zu sammeln; unter anderem durch Befragungen (→ Zeitzeugenbefragung).

Literaturverzeichnis

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  • Weitlauff, Manfred, Das Erste Vatikanum (1869/70) wurde ihnen zum Schicksal. Der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799-1890) und sein englischer Schüler John Lord Acton (1834-1902). Ein Beitrag zum 150-Jahr-„Jubiläum“ dieses Konzils (= Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 144/1 und 2), München 2018.

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