Deutsche Bibelgesellschaft

Zweites Vatikanisches Konzil, kirchengeschichtsdidaktisch

Andere Schreibweise: II. Vatikanisches Konzil; Vaticanum secundum; Zweites Vatikanum

(erstellt: März 2023)

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1. Kontextuelle Verortung

Der Bischof von Rom, Papst Johannes XXIII., Papst von 1958-1963, der bereits am 25. Januar 1959 die Vorstellung von einer Konzilsversammlung der gesamten katholischen Kirche überraschend geäußert hatte, hat das Zweite Vatikanische Konzil in einer weltpolitisch unruhigen Zeit (Kubakrise; „kalter Krieg“ im Rahmen des Ost-West-Konflikts; Entkolonialisierung) am 11. Oktober 1962 in Rom eröffnet. Entsprechend dem inzwischen weitgehend verschütteten Selbstverständnis wird ein als ökumenisch deklariertes Konzil der weltweit verbreiteten römisch-katholischen Kirche nicht wie ein demokratisches Parlament abgehalten, sondern liturgisch gefeiert: Der Petersdom wurde fortan zur Konzilsaula. Johannes XXIII. verstarb am 3. Juni 1963. Sein Nachfolger, Paul VI. (gest. 1978), hat das Konzil fortgeführt, indem er es gemäß der kirchenrechtlichen Bestimmung am 29. September 1963 formell neu eröffnete. Am 7. Dezember 1965 hat derselbe Papst auch die Reihe der Verkündigungen von Beschlüssen des Konzils beendet. Am Tag darauf fand das 21. Ökumenische Konzil seinen feierlichen liturgischen Abschluss.

Johannes XXIII., dessen Wertschätzung unter anderem den Armen, Frauen, Jugendlichen, Laien und Flüchtlingen galt, verknüpfte seine Vorstellung von einem Konzil im 20. Jahrhundert und dessen Vorbereitung und Durchführung spirituell (→ Spiritualität) mit einem „neuen Pfingsten“ für die gesamte Kirche. Mit dieser Vorstellung verband er weniger die Revitalisierung der verkrusteten Strukturen der römisch-katholischen Kirche, sondern vielmehr eine lebendige, tatkräftige und beherzte Erneuerung all derer, die sich in den christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften im übereinstimmenden Bekenntnis zu dem einen Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist jedoch bei bestimmten Glaubenspraktiken und Sachinterpretationen an der Peripherie mehr oder weniger auffällig unterscheiden. Es sollte das Bewusstsein geschärft werden, herauszufinden, was notwendig zur Einheit der Kirche Gottes gehört.

Solange das Konzil in der Vatikanstadt andauerte und noch im ersten Jahrzehnt danach (für Deutschland: → Würzburger Synode und Dresdener Pastoralsynode als Transformation der Meißener Diözesansynode), empfanden viele katholische Christinnen und Christen die Beschlüsse des Konzils (ein Werk von 16 Texten zu unterschiedlichen theologisch/dogmatisch theoretischen und kirchlich/pastoral praktischen Sachgebieten) als historischen Aufbruch einer in sich erstarrten Institution und sich ihrer weltlichen Macht bewussten Sozialgestalt. Der Kirche begegneten Menschen mit konkreten Erwartungen. Der neue Stil der Kommunikation der katholischen Kirche in der Person des Papstes mit dem Volk Gottes, nicht allein mit den katholischen Gläubigen, und der ganzen Menschheit sollte auch rechtlich mit jenen Verben zum Ausdruck kommen, die der Papst als Bestätigungsformel für die öffentliche Bekanntgabe der Konzilstexte gewählt hatte: billigen, beschließen und verordnen. Gegenüber den das irrtumslose Offenbarungs-, Kirche- und Glaubensverständnis des Ersten Vatikanischen Konzils abbildenden Verben des Antimodernisteneides (definieren, behaupten und erklären), der für katholische Amtsträger seit 1910 vorgeschrieben war und bis 1967 gültig blieb, wurde dies als Chance zur Neujustierung der Bastionen empfunden. Allerdings hat diese einstige „Reparatur“ inzwischen ihre Plausibilität in Hinsicht auf das Verhalten der weltweiten Kirche von Rom verloren. Ein Paradigmenwechsel, der die katholische Kirche in ihrem Wesen ergreifen und betreffen sollte, hat – wie man 60 Jahre nach dem Konzilsbeginn deutlicher sieht – entweder zu viel, in Maßen oder ansatzweise oder auch gar nicht stattgefunden. Die Gemeinschaftlichkeit (in) der Kirche der heutigen Zeit können viele innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche nicht erkennen, da eine nicht zu übersehende Zahl an Inhabern der höheren kirchlichen Ämter sich ihre Macht weder begrenzen, teilen noch kontrollieren lassen will.

Somit bleibt die Forderung, die Konzilsbeschlüsse im Geist umzusetzen – in dem Geist, der sich über den Buchstaben der Texte erhebt –, unaufhörlich bestehen. Der Geist der Texte stellt sich jeder ideologisch restaurativen wie progressistischen Konzilsinterpretation entgegen. Wer dabei Kontinuität und Diskontinuität in Fortschreiten und Entwicklung unversöhnlich gegeneinanderstellt, wird der geschichtlichen Überlieferung (Tradition) der Offenbarungserkenntnis Gottes bzw. der christlichen Evangeliumsverkündigung (→ Kommunikation des Evangeliums), die die individuelle und soziale Lebensrelevanz von freien Menschen tangiert und stimuliert, nicht gerecht. Beispielsweise stand das weite Feld der transzendentalen Freiheit des Menschen sowie die Beurteilung der auch verfassungsrechtlich bedeutsamen Religionsfreiheit im demokratischen Staat (vgl. „Dignitatis Humanae“ – DiH) vordemokratisch noch nicht auf der Agenda jenes Denkens, das das Gemeinwohl strukturell betrifft.

2. Markante inhaltliche Akzentsetzungen des zweiten Konzils im Vatikan

In seinen Texten wendet sich das Konzil in großer Breite der katholischen Kirche zu. Von dieser konfessionellen Warte aus fällt dann Licht auf Welt, Mensch, Geschichte und diverse Phänomene, die in der Wahrnehmung christlich-katholisch glaubender Menschen perspektivreich vorkommen und deren Glaubens- und sonstige Verhaltensweisen bestimmen.

2.1. Selbstverständnis

Ihrem Selbstverständnis nach versteht sich die römisch-katholische Kirche als Kirche und Glaubensgemeinschaft, die sich nicht mehr oberhalb und fernab der Welt, sondern inmitten der Welt situiert sieht und sich spirituell bzw. pneumatisch, lebensrelevant, lebensweltlich (→ Lebenswelt) einnordet, aber sich noch nicht ausreichend im Leben der Gläubigen verortet und eingenistet hat (SC 1). Wenngleich die Kirche aufhört, sich als entweltlichte Gestalt über einer hier guten, dort defizitären Zone zu verstehen, steht sie permanent in der Gefahr, sich in den Menschen und Institutionen, die in der lokalen → Gemeinde anfangen und bis in die global verstreute katholische Gesamtkirche hineinreichen, zu verweltlichen. So kann die Kirche immerzu das, was sie in der Welt als göttlich ausweist und aufrichtet (dazu die theologisch überlieferte, zugleich provokante Rede von der heiligen Kirche), schmälern oder sogar missbrauchen (LG 8,3-4).

2.2. Sakrament und Sakramente

Die orthodoxen und die katholischen Überlieferungen gehen seit den Klärungen zum Verständnis der Einzelsakramente im Hochmittelalter von sieben Sakramenten aus. Auffällig ist die ökumenisch-interkonfessionell motivierte Herausstellung der Taufe (UR 3.22; LG 15). Das jüngste Konzil thematisiert die Sakramente einerseits in Hinsicht auf die Sakramentalien (SC 59-61), die ihrerseits im Schlepptau das Brauchtum als Ausdruck und Anwendung des Glaubensaktes („credere in Deum“ bzw. DV 5: „sich zur Gänze frei Gott anvertrau[en]; DiH 10) mitführen. Die katholische Kirche wendet den Sakramentsbegriff andererseits auf sich selbst an. Das gelingt ihr umso mehr, als sie sich in Parallele zum theologischen Persongeheimnis Jesu von Nazaret („Jesus Christus“) (LG 8,1), das vom NT ausgehend im ersten Jahrtausend vielfach Gegenstand synodaler Reflexionsprozesse und konziliarer Beschlüsse geworden ist, sakramentlich versteht (LG 1-8.9-17; GS 40-45). An dieser Stelle schließt sich der Hinweis darauf an, dass die Gegenwart Jesu Christi nicht mehr allein an das Sakrament der Eucharistie und die Wandlung in der Messe geknüpft wird, sondern auf weitere personale Felder im Raum der Kirche(n) und der Welt zur Entdeckung gestellt wird (SC 7,1). Das Eucharistiesakrament selbst wird als Sakrament der „Wegzehrung“ tituliert (GS 38,2) und als gemeinschaftliches Zeichen der Hoffnung auf dem Glaubensweg aus dem todesnahen Winkel befreit, der entlang der neueren christlichen Frömmigkeitsgeschichte spirituell kultiviert wurde.

2.3. Sichtbare Einheit der Kirchen

Die Wiederherstellung der sichtbaren Einheit sämtlicher christlicher Kirchen und Glaubensgemeinschaften (→ Konfessionen) ist das Ziel der vatikanischen Konzilsversammlung (UR 1). Den Weg zur Erreichung des Ziels deutet das „Dekret über den Ökumenismus“/„Unitatis Redintegratio“ (UR) (in Verbindung mit LG 15) behutsam an. Dass das Ziel nicht nur dogmatisch-theologisch neu zu bestimmen bleibt, dessen ist sich das Konzil bewusst. Spezifisch konfessionelle Eigenheiten des gelebten Glaubens (→ Glaube) und teilweise historisch gewachsene Empfindsamkeiten und abgrenzende Identitätsverständnisse am Punkt des eigenen Kircheseins erschweren bis heute das Vorankommen auf dem ökumenischen Weg, der in vielen Wegen geduldig, dem Gewissen verantwortlich und oft unauffällig beschritten wird. Positiv zu würdigen sind die Erklärungen zur wechselseitigen Taufanerkennung, die danach streben, gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung herbeizuführen – unterhalb der aus Sicht der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirchen hohen Hürden differenter Verständnisse von Eucharistie/Herrenmahl und von Ordination in Verbindung mit der Frauenordination im Detail. Die besonders strittigen Themen zeigen, dass dialogische Wege und der kleinste gemeinsame Nenner im Geist noch nicht das ökumenische Ziel sein können.

2.4. Andere Religionen

Die römische Weltkirche verpflichtet sich mit der Konzilserklärung „Nostra aetate“ (NA) (in Verbindung mit LG 16) zu einer dem Evangelium entsprechenden Haltung (habitudo) gegenüber den nichtchristlichen Religionen. In den Blick kommen Hinduismus (→ Hinduism and Religious Education), Buddhismus (→ Buddhismus im Religionsunterricht) und Islam (→ Islam als Thema christlich verantworteter Bildung). Ausführlich wendet sich das Konzil aufgrund der Vorarbeiten dem Judentum (→ Judentum als Thema christlich verantworteter Bildung) zu, das in der neueren theologischen Systematik auch als „Israel/Judentum“ apostrophiert wird. Die katholische Kirche lässt darin ihre generalisierende Aussage über die Schuld der Juden schlechthin am Tod Jesu fallen (NA 4,6). Zugleich bekennt sie die Sünde (→ Sünde/Schuld) ihrer „Verfolgungen gegen jegliche Menschen“, insbesondere gegen Jüdinnen und Juden (NA 4,7) (→ Judenverfolgung im Mittelalter und Früher Neuzeit). Fokus der phänomenologisch ansetzenden Erklärung ist das Gottgeheimnis (→ Gott), das die Menschheit in der Gottsuche der Einzelnen universell zusammenfügt. Als bleibendes theologisches Problem verschafft sich die christliche Glaubensverkündigung (→ Mission) an jüdisch gläubige Menschen Beachtung.

2.5. Atheismus

Die katholische Kirche analysiert in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit „Gaudium et spes“ (GS), Artikel 19-21 verschiedene Formen des Atheismus. In seiner komplexen Gesamtheit gehört der weltweite Atheismus „zu den ernstesten Gegebenheiten dieser Zeit“ (GS 19,1). Man geht nicht fehl zu konstatieren, dass eine derartige Analyse inzwischen neu justiert, differenziert und weitergeführt werden muss. Fokus der Zurückweisung des Atheismus und der Zuwendung zu Atheisten ist die → Menschenwürde, die ihren Haftpunkt im Glauben an Gott hat (GS 19,3 mit 22,1.5-6). Die katholische Kirchengemeinschaft räumt dabei ein, dass in ihrer Glaubensschwachheit Christen und Christinnen selbst an der globalen Ausbreitung des Atheismus beteiligt sein können (GS 19,3).

2.6. Zeichen der Zeit

Die Bearbeitung diverser Atheismen ist Beispiel für eine hermeneutische Programmatik, die das Konzil als Umgang mit den „Zeichen der Zeit“ deklariert, die Deutung „im Licht des Evangeliums“ verlangen (GS 4,1). Das bedeutet: Im Licht des Evangeliums, vor dessen Hintergrund, sind die Zeichen der Zeit eben Zeichen der Zeit, kommen Zeichen der Zeit überhaupt auf, ist die Rede von Zeichen der Zeit erst legitim. Zeichen der Zeit sind folglich stets interpretierte Zeichen. Die unabdingbare Deutung macht ein Ereignis oder Phänomen zu einem Zeichen der Zeit. Inzwischen ist die biblisch fundierte Rede (Lk 12,54-57) von den Zeichen der Zeit in Kirche und Theologie inflationär geworden, wobei eine Deutung oftmals leider unterbleibt.

2.7. Autonomie der Wissenschaften

Eine weitreichende Zäsur in der katholischen Theologiegeschichte markiert die höchstlehramtliche Rede über „[d]ie richtige Autonomie der irdischen Dinge“ (GS 36). Das kirchliche Lehramt selbst bezieht diese Rede auf alle Disziplinen der Wissenschaften und auf die Künste. In Rede stehen somit die profanen Wissenschaften, die Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften, also sämtliche nichttheologische Wissenschaften. Damit kommen zugleich die verschiedenartigen empirischen Methoden in Betracht, derer sich die theologischen Fachwissenschaften bedienen müssen, um ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse vernünftig, verantwortlich, wahrhaftig und von Denkverboten frei vorlegen zu können.

Wie schwer sich das Lehramt des Bischofs von Rom mit der Freigabe der nichttheologischen Wissenschaften in deren Eigengesetzlichkeit getan hat, zeigte sich im langen Fremdeln mit dem Evolutionsgedanken in Hinsicht auf die belebten Wesen (→ Glaube und Naturwissenschaft). Erst 1996 hat Papst Johannes Paul II. dieses Verständnis von Evolution zur Erklärung von Leben als plausible Theorie der Naturwissenschaften anerkannt, nachdem er 1981 die Molekularbiologie gebilligt hatte.

2.8. Schriftauslegung/Bibelinterpretation

Die im Taufsakrament kraft des Besitzes der Gaben des Gottesgeistes (Jes 11,2) grundgelegte Kompetenz zu vernünftiger und verantworteter Schriftauslegung/Bibelinterpretation kommt sämtlichen Getauften zu (DV 12). Die Gemeinschaft der Getauften kann prinzipiell nicht fehlgehen (LG 12). In diese situativ zu konkretisierende Kompetenz sind Religionslehrer und Religionslehrerinnen (→ Lehrkraft, Rolle), Pastoral- und Gemeindereferentinnen und -referenten sowie Diakone und Priester einbezogen. Daher ist es angebracht, diese geistige Kompetenz als Ansporn zu fortdauernder individueller Beschäftigung mit Sach- und Fachbüchern zu basistheologischen (→ Theologie) Themen aufzufassen.

3. Theologiedidaktisch-praktische Überlegungen

Da das Konzil seine Beschlüsse nicht mit pädagogisch-didaktischen Hinweisen versieht, müssen, was die Umsetzung, Anwendung, Konkretion und Kontextualisierung betrifft, die Getauften selbst die Beschlüsse kennen, verstehen und übersetzend im Blick auf jene, die sie handlungsorientiert anleiten und begleiten wollen, anwenden.

Sowohl für den schulischen Religionsunterricht als auch für die Kirchengemeinden ergibt sich daraus ein Bildungsauftrag. Im Religionsunterricht kann das Zweite Vatikanische Konzil sowohl hinsichtlich ekklesiologischer Themen (bspw. zu Ökumene oder zu interreligiösen Fragestellungen) als auch kirchengeschichtsdidaktischer Themen (→ Kirchengeschichtsdidaktik) (z.B. Zeitzeuginnen- und → Zeitzeugenbefragungen zu Wahrnehmungen des Konzils sowie der durch dieses ausgelösten Veränderungen in der katholischen Kirche) zur Geltung gebracht werden. Auch kann die Form des Konzils als Option, plurale Perspektiven von Amtsträgern, Laien sowie Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt zu kirchlich relevanten Fragestellungen einzuholen, in ihrer Relevanz für eine „ecclesia semper reformanda“ (in Anspielung an LG 8,3) diskutiert werden; nicht zuletzt im Horizont der voranschreitenden Diversifizierung in den Gesellschaften.

In theologiedidaktisch-praktischer Hinsicht bietet das Zweite Vaticanum auch heute noch Potenzial für produktives, bildendes Nachdenken und Handeln.

3.1. Rangordnung der Glaubensaussagen

Eine goldene Regel, die unumgänglich immer wieder der inhaltlichen Konkretion und didaktischer Methodologie bedarf, formuliert das Konzil mit dem Begriff „Rangordnung (Hierarchie) der Glaubenswahrheiten“ (UR 11,3) (→ Wahrheit). Das bedeutet bspw., dass von Mensch und Gott mehr zu sprechen ist als über das Böse ungeachtet seiner Faszination; dass über Kirche, Welt, Kirche in der Welt und Welt in der Kirche mehr zu sprechen ist als über die Unterwelt und ihre Etagen und Geister; dass von konkretem Handeln mehr zu sprechen ist als von abstrakten dogmatischen und moralischen Grundsätzen. Als Regel gilt an dieser Stelle: Ein denkerisch naher Bezug auf Gott legitimiert die insgesamt weit zu verstehenden Themen des Glaubens umso stärker, deshalb gilt diesen Themen die jeweils größere Aufmerksamkeit. Damit verhält es sich wie auf einer Theaterbühne: Wohin das Licht fällt, findet die Handlung statt. Was am dunklen Rand geschieht, braucht die Zuschauenden nicht zu beschäftigen. Die Berücksichtigung der Rangordnung der Glaubensaussagen hat Papst Franziskus ausdrücklich sowohl für die Dogmen als auch für die Morallehre zur Forderung erhoben (Evangelii gaudium, 2013, Nr. 36). Dem letzten Konzil ist daran gelegen, den christlichen Glauben in katholischer Interpretation kollegial zu formulieren, was dessen Verständlichkeit und Akzeptanz erhöhen soll. Denn der Glaube ist „für die ganze Menschheit bestimmt“ (Ut unum sint, 1995, Nr. 19). Man muss jedoch berücksichtigen, dass zu dieser Selbstverpflichtung, die Papst Johannes Paul II. in seiner Ökumeneenzyklika abgegeben hat (Ut unum sint, 1995, Nr. 19), die dogmatisch/kirchenrechtlichen Aussagen über die Lehrautorität der Bischöfe und Päpste (LG 25) in einem nicht zu übersehenden Gegensatz stehen.

Die beiden Päpste des Zweiten Vatikanums wenden sich mit den Konzilsbeschlüssen ausdrücklich an „alle Menschen guten Willens“. Johannes XXIII. hat mit diesem Adressatenkreis einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Auf diese Weise wurde die während der pianischen Ära geschliffene katholische Bastion in die Richtung der Welt, der Erde bzw. des Landes der Seliggepriesenen Jesu (Mt 5,5), also nach außen, durchlässig gemacht. Es ist Aufgabe der theologischen Fachwissenschaften, diese Horizontverschiebung „ad extra“ dauerhaft einzuholen, wobei sie zugleich die katholische Kirche „ad intra“, in ihrer dogmatisch-theologischen Selbstwahrnehmung und ihrem kontextuellen Selbstverständnis, essenziell verändert.

3.2. Begegnung

Während die Rede von der Rangordnung der Glaubensaussagen ein formal-dogmatisches Desiderat ist, das sich ans höhere und höchste Lehramt und an die Theologiewissenschaft richtet, setzt das Konzil mit der Kategorie „Begegnung“ inhaltlich-pastoral neu an. Die durch und durch personale Kategorie Begegnung, die in der Freundschaft zwischen zwei Personen anhebt (DV 2), avanciert zum Gütesiegel einer insgesamt vielschichtig komplexen Wirklichkeit, die das Konzil proaktiv mitzugestalten anregt.

4. Desiderate

Die Umsetzung des Konzils ist unaufhörlich auf dem Weg. Ob der schillernd verbleibende, neue Begriff „Synodalität“ geeignet ist, das Tempo auf dem Weg der Umsetzung mit Pathos zu beschleunigen, wird man erst in etlichen Jahren gesättigt sagen können. Die Rezeption sucht sich ihre Wege. So kann unprätentiös dagegengehalten werden. Sie fordert aller Willigen Kräfte ein.

Dabei verbindet auf dem Fundament der Taufe die Christinnen und Christen mehr als sie trennt (GS 92,2). In ihrem Verständnis als Weltkirche ist die katholische Kirche von Rom noch nicht am Zielpunkt angekommen. In ihrem sakramentlichen Selbstverständnis, das auf die priesterliche Funktion aller Getauften baut, muss sie das Verhältnis von basalem, gemeinsamem Priestertum aus der Taufe und dem besonderen Priestertum des sakramentlich ordinierten Amtes (LG 10,2) besser bestimmen. Dies lässt auch die Frauenordination nicht unberücksichtigt. Auf die sogenannten Laien sollte weiterhin Achtsamkeit gerichtet werden, insofern sie sich nicht hinreichend vom sakramentlich ordinierten Amt her bestimmen lassen. Die Widersprüche bei einer notwendig mehrschichtigen Bestimmung von Ehesakrament und Ehe sind konzeptionell zu überwinden (LG 11,2 und GS 47-52); darin ist die sich inzwischen laut regende Problematik der Bestimmung von Familie und Partnerschaft innovativ einzubeziehen (→ Ehe und Familie). Um die Statik und den Essenzialismus des Menschenbildes der Konzilstexte (GS 5,3) zu verflüssigen, ist es angebracht, die Bedeutung der Lebensalter als konstante Variable des Menschen in die Ausführungen über den Menschen einzubeziehen. Dies kann dem Menschsein angesichts der Brüche des Lebens, aber auch im Wachsen und Schwinden des persönlichen Glaubens besser gerecht werden. Die Desiderate erschöpfen sich in den genannten nicht.

Programmatisch bleibt festzuhalten: Die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils müssen aus ihrer geschichtlichen Vergangenheit situativ in ihre Gegenwart und Zeitgenossenschaft der Menschen „über-setzt“ werden.

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Die Abkürzungen der Dokumente des Konzils, die auch in diesem Beitrag verwendet werden, folgen in der Regel den Anfangsbuchstaben der ersten beiden Wörter des lat. Textes; Ausnahme: DiH für „Dignitatis humanae“. Die Abkürzungen sind u.a. zu finden in: Lexikon für Theologie und Kirche 3. Aufl. XI (2001), 697*.

Kommentare

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