Haggai / Haggaibuch
(erstellt: Oktober 2021)
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1. Name und Person
Über Haggai wird wenig mitgeteilt. Er wird als „Prophet“ (נָבִיא nāvî‘ Hag 1,1.3.12
Nach Esr 5,1
2. Die Haggaischrift
Die Haggai zugeschriebene Schrift ist Teil des → Zwölfprophetenbuches
3. Textüberlieferung
Das älteste erhaltene, vollständige Manuskript des Haggaibuches in hebräischer Sprache findet sich im Codex Petropolitanus (B19A; älterer Name: Codex Leningradensis), der auf das Jahr 1008 n. Chr. datiert wird. Den Editionen der Biblia Hebraica liegt der Text dieses Codex zu Grunde. Ältere Textzeugen fand man in der judäischen Wüste: Das Fragment 4Q77 (ca. 150 v. Chr.) enthält Hag 1,1-2
Die Septuaginta (LXX) und auch die anderen griechischen Übersetzungen bezeugen weitgehend den MT (einige Differenzen zwischen der hebräischen Vorlage der Septuaginta und dem MT liegen in Hag 1,1.11.12.14
4. Aufbau und Inhalt des Buches
4.1. Formeln
Das Haggaibuch enthält fast ausschließlich die vom Propheten übermittelten Gottesworte in der 1. Pers. Sg. Die Ausnahme ist Hag 2,10-14
4.2. Chronologisches System
Durch das Datierungssystem ist Haggai mit Sach 1-8 verbunden, denn auch dort finden sich entsprechende Daten zur zeitlichen Fixierung der Geschehnisse (Sach 1,1.7
4.3. Gliederung und Inhalt
4.3.1. Hag 1,1-15: Aufruf zum Wiederaufbau des Tempels im Horizont der agrarischen Krise
Nach der Datumsangabe (29.8.520 v. Chr.) und der Wortereignisformel werden in Hag 1,1
→ Serubbabel
Die Gottesrede beginnt in Hag 1,2b
Gott mahnt an, dass das Volk in Häusern wohnt, aber der → Tempel
In Hag 1,8
Hag 1,12-15
4.3.2. Hag 2,1-9: Zukunft des Tempels
Wie schon der erste Abschnitt, beginnt auch dieser mit der Datumsangabe (17.10.520 v. Chr.), der Wortereignisformel (Hag 2,1
Hag 2,6-8
Der gesamte Abschnitt Hag 1,15b-2,9
4.3.3. Hag 2,10-19: Unreinheit des Volkes und Segenswende
Der dritte Abschnitt beginnt – entsprechend dem bisherigen Schema – mit der Datumsangabe (18.12.520 v. Chr.) und der Wortereignisformel (Hag 2,10
Der dritte Abschnitt endet in Hag 2,19
4.3.4. Hag 2,20-23: Zukünftiger Umsturz der Völkerwelt
Der vierte und letzte Abschnitt des Haggaibuches wird mit der Wortereignisformel und der Datierung (18.12.520 v. Chr.) sowie dem Verweis eingeleitet, dass Haggai an diesem Tag das Wort Gottes ein zweites Mal empfängt (Hag 2,20
Nach diesem eschatologischen Einschub rückt endlich der angesprochene Serubbabel in den Mittelpunkt. In königsideologischer Sprache wird Serubbabel als „Knecht Gottes“ (Hag 2,23
Der Blick auf Jer 22,24
5. Entstehung
Neben wenigen Ausnahmen (z.B. Taylor 2004) besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass das Haggaibuch einen Entstehungsprozess durchlaufen hat. Die ältere Forschung rechnete mit sogenannten Auftrittsskizzen eines Prophetenschülers, die dann später durch einen Chronisten mit Datierungen und vereinzelten Zusätzen versehen wurden (z.B. Wolff 1986, 6). Die neuere Forschung hat gezeigt, dass eine Entstehungsgeschichte der Haggaischrift auch das Buchganze des Zwölfprophetenbuches im Blick haben muss (siehe u.a. Nogalski 1993; Schart 1998; Wöhrle 2006; Wöhrle 2008). Im Folgenden wird in Aufnahme der Forschungsergebnisse von Wöhrle (2008, 285-322) und Leuenberger (2015, 44-63) die Entstehungsgeschichte der Haggaischrift grob skizziert.
Die Grundschicht (Hag 1,2-11.12b-13
Die ältere These einer chronologischen Redaktion, die Datierungen in die Schrift eintrug, erwies sich auch in der neueren Forschung als belastbar. Wenige narrative Worte bzw. Einleitungsformeln (Hag 1,1.3.12a.14-15
Das Verständnisproblem des dritten Abschnitts in Hag 2,10-19
Der aus dem Rahmen fallende Dialog zwischen Haggai und den Priestern in Hag 2,10-14
Ebenfalls zeigen die Stücke Hag 2,6-8
Zum Schluss sind sehr wahrscheinlich noch Hag 2,5*.17 nachgetragen worden, die aber kaum textinterne Anker oder buchübergreifende Verknüpfungen ins Zwölfprophetenbuch erkennen lassen. Wann diese Nachträge Eingang in die Haggaischrift gefunden haben, liegt im Dunkeln.
6. Theologische Aspekte
6.1. Der Tun-Ergehen Zusammenhang
In der Haggaischrift spielt der sogenannte → Tun-Ergehen-Zusammenhang
Der Tun-Ergehen-Zusammenhang erklärt nicht nur die Gegenwart als Konsequenz vergangenen Handelns, er unterliegt auch der Prognose für die Zukunft. Wenn das Volk den Tempel wiederaufbaut (Hag 1,8
6.2. Die Zionstheologie
Die → Zionstheologie
Weiterhin heißt es in Hag 1,8
Das zweite Verb כבד kbd hat im vorliegenden Nif. reflexive Bedeutung und meint „verherrlicht werden“ und steht in direkter Verbindung zum Substantiv כׇּבוֺד kāvôd, was in Bezug auf JHWH meist mit „Herrlichkeit“ übersetzt wird. Auch dieses Wort gehört zum sprachlichen Inventar der Zionstheologie. Ist der kāvôd in der vorexilischen Tempeltheologie „noch als Attribut JHWHs verstanden worden“ (vgl. Jes 6,3
Ob Haggai annimmt, dass JHWH den wiedererrichteten Tempel wieder bewohnen wird, ist umstritten. Nach Leuenberger „drängt es sich für Hag 1,8
Schließlich ist noch ein Blick in das → Zwölfprophetenbuch
6.3. JHWH als Krieger und Herr der Welt
Ist die Grundschicht und die chronologisch-narrative Redaktion noch ganz auf Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels fokussiert, weitet sich der Blick in den späteren, eschatologischen Versen Hag 2,6-8
7. Haggai in der Kunst (Klaus Koenen)
Eine lebensgroße Steinfigur Haggais befindet sich an der Westfassade der gotischen Kathedrale von Amiens im Bereich des Portals Saint Fermin; unter ihr veranschaulichen vier Medaillons mit Reliefs die Botschaft des Propheten (13. Jh.). In der oberen Reihe der Medaillons erscheint links der Tempel, der noch in Trümmern liegt, rechts eines der prächtigen Häuser, die sich die Jerusalemer gebaut haben. Unten wird rechts an ein paar vertrockneten Pflanzen die Dürre illustriert und links daneben erscheint Gott Haggai. Mit ausgestrecktem Zeigefinder verweist er auf den zerstörten Tempel im Medaillon darüber und gibt ihm damit den Auftrag, den Wiederaufbau des Tempels voranzutreiben.
Ein Plakat, das Joseph Binder 1956 im Auftrag der Chaplains Division (Abteilung Militärgeistliche) der U.S. Navy entworfen hat (Chaplains Serie, Set F), zeigt Haggai als Initiator des Tempelbaus, doch wird der Tempel in der Beischrift spiritualisiert: Man baut einen Tempel, indem man Gutes tut, und dieser Tempel ist herrlicher als der Salomos.
Vielfach wird die Botschaft Haggais auf die Christusbotschaft des Neuen Testaments bezogen. Sehr verbreitet war im Mittelalter die meist ca. 40 Seiten umfassende Biblia pauperum mit ihren zum Teil handkolorierten Holzschnitten. Sie ist wohl in der Mitte des 13. Jh.s entstanden, doch stammen die ältesten erhaltenen Exemplare erst aus dem frühen 14. Jh.
Im Saal der Sibyllen der Borgia-Gemächer im Vatikan zeigen Fresken von Pinturicchio in den Lünetten jeweils einen Propheten des Alten Testaments und eine Sibylle als Vertreterin der klassischen Antike, um zu verdeutlichen, dass Christus in beiden Kulturkreisen angekündigt worden ist (1492-1495). Haggai erscheint neben der Cumaeischen Sibylle. Sein Spruchband bietet eine Zusammenstellung von Hag 2,22
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Evangelisches Kirchenlexikon, Göttingen 1989.
- Neues Bibellexikon, Zürich u.a. 1991-2001.
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005.
- Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006.
- Herders Neues Bibellexikon, Freiburg i. Br. 2008.
- Encyclopedia of the Bible and its Reception, Berlin u.a. 2009ff.
2. Kommentare
- Leuenberger, M., 2015, Haggai (HThK.AT), Freiburg i.Br.
- Lux, R., 2019, Sacharja 1-8 (HThK.AT), Freiburg i.Br.
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- Reventlow, H.G., 1993, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (ATD 25,2), Göttingen
- Rudolph, W., 1976, Haggai – Sacharja 1-8, Sacharja 9-14 – Maleachi, Gütersloh
- Taylor, R.A., 2004, Haggai, in: Ders. und E.R. Clendenen, Haggai, Malachi (NAC 21A), Nashville, 20-202
- Willi-Plein, I., 2007, Haggai, Sacharja, Maleachi (ZBK.AT 24,4), Zürich
- Wolff, H.W., 1986, Dodekapropheton 6. Haggai (BKAT 14/6), Neukirchen-Vluyn
3. Weitere Literatur
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- Stamm, J.J., 1980, Beiträge zur hebräischen und altorientalischen Namenkunde (OBO 30), Göttingen
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- Wöhrle, J., 2006, Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches. Entstehung und Komposition (BZAW 360), Berlin / New York
- Wöhrle, J., 2008, Der Abschluss des Zwölfprophetenbuches. Buchübergreifende Redaktionsprozesse in den späten Sammlungen (BZAW 389), Berlin / New York
Abbildungsverzeichnis
- Haggai in einer Reihe der Zwölf Kleinen Propheten (Archivoltenfigur im Hauptportal des Kölner Doms; 19. Jh.). © public domain; Foto: Klaus Koenen, 2020
- Das chronologische System im Buch Haggai.
- Bibelkundlicher Überblick über das Buch Haggai.
- Haggai ruft zum Tempelbau auf (Roda-Bibel, Spanien, 10./11. Jh.). Paris, Nationalbibliothek, lateinische Handschrift 6 [3], fol. 89v (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90658394/)
- Haggai und seine Botschaft (Statue und Reliefs, Kathedrale Notre-Dame in Amiens, Westfassade, Portal Saint Fermin; 13. Jh.). Aus: Wikimedia Commons; © Dguendel, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons
-Lizenz, Attribution-Share Alike 4.0 International ; Zugriff 26.10.2021 (Ausschnitt) - Joseph Binder, Haggai (Plakat, 1956). © Museum für angewandte Kunst, Wien
- Haggai (unten rechts) mit Hag 1,6 als Verweis auf den Judaslohn (Biblia Pauperum, Niederlande, 1480-1485). Bibliothèque nationale de France, Paris, Xylo-5, fol. 22r (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k850504w.image)
- Haggai (links) und Matthäus (rechts) in einem Apostel-Propheten-Credo (Kirchenfenster von Saint-Pierre in Quemper-Guézennec, Bretagne; 1460-1470). Aus: Wikimedia Commons; © Ph. Saget, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons
-Lizenz, Attribution-Share Alike 3.0 unported ; Zugriff 26.10.2021 - Haggai und die Cumaeische Sibylle (Pinturicchio, 1492-1495). Aus: Wikimedia Commons; © Scala, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons
-Lizenz, Attribution-Share Alike 4.0 International ; Zugriff 26.10.2021 (Ausschnitt)
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