Deutsche Bibelgesellschaft

Josef / Josefsgeschichte

Andere Schreibweise: Joseph

(erstellt: Januar 2013)

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1. Der Name Josef

1.1. Bedeutung

Der Personenname Josef (hebräisch יוֹסֵף jôsef; griechisch Ἰωσήφ Iōsēph) erfährt in Gen 30,23.24 eine doppelte Erklärung. V23 verbindet ihn mit dem Verbalstamm אסף ’sp „einsammeln / wegnehmen / tilgen“ (3. Sg. Pf.) und deutet ihn volksetymologisch: „Gott hat meine Schmach von mir genommen“. Philologisch korrekt ist dagegen die Ableitung von der Wurzel יסף jsp „hinzufügen / fortfahren“ (3. Sg. Impf. Hif.), die nach v24 zu der Deutung führt: „JHWH möge mir (noch) einen anderen Sohn hinzufügen“. Der Wunschname, in dem sich das Ideal zahlreicher Nachkommenschaft Ausdruck verschaffte (vgl. Gen 15,5; Gen 17,6; Gen 24,60; Gen 28,14; Jer 33,22; Ps 127,4f u.ö.), gehört zu den theophoren Satznamen, die sich aus der Nennung einer Gottheit als Subjekt und einem verbalen Prädikat zusammensetzen. In der Kurzform, die auch bei dem Namen Josef (= „er möge hinzufügen“) vorliegt, kann die Nennung der Gottheit als Subjekt ausfallen, da sie sich von selbst versteht. In seiner Langform Josifja (יוֹסִפְיָה = „JH[WH] möge hinzufügen“) begegnet der Name in Esr 8,10 (vgl. auch Eljasaf [אֶלְיָסָף = „El hat hinzugefügt“] in Num 1,14; Num 2,14 u.ö.).

1.2. Personen namens Josef

Neben Josef, dem Sohn Jakobs, begegnen im Alten Testament mehrere Träger dieses Namens. So unter den Tempelsängern und Tempelmusikanten ein Sohn Asafs (1Chr 25,2.9), ein Sohn Binnuis (Esra 10,42), oder Josef, der Sohn des Priesters Schebanja (Neh 12,14). Num 13,7 nennt einen Josef als Vater eines gewissen Jigal. Ferner ist der Name inschriftlich belegt, z.B. als Vatersname auf einem Siegel (Avigad / Sass, Nr. 587). In den → Apokryphen begegnet ein Josef als Urgroßvater → Judits (Jdt 8,1). Ebenso trägt ein Bruder des → Judas Makkabäus den Namen Josef (2Makk 8,22) sowie ein militärischer Anführer der → Makkabäer: Josef, der Sohn Secharjas (1Makk 5,18.56.60).

Prominente Namensträger im Neuen Testament sind → Josef, der Mann Marias (Mt 1,16.18-25; Mt 2,13ff; Lk 1,27; Lk 2,4ff; Lk 3,23; Joh 1,45; Joh 6,42), ein Jünger Jesu, Josef von Arimatäa, in dessen Grabhöhle der Leichnam Jesu bestattet wurde (Mt 27,57ff; Mk 15,42ff; Lk 23,50ff; Joh 18,38ff), ein leiblicher Bruder Jesu (Mt 13,55; Mt 27,56) und andere (Apg 1,23; Apg 4,36). Aus all diesen Namensträgern lässt sich schließen, dass es sich um einen verbreiteten Personennamen gehandelt hat.

1.3. Der Stamm Josef

Darüber hinaus tragen den Namen Josef im Alten Testament nicht nur Individuen, sondern auch kollektive Größen. So der „Stamm Josefs“ (מַטֵּה יוֹסֵף), bzw. der aus Efraim und Manasse bestehende Stämmeverband der „Söhne Josefs“ (בְּנֵי יוֹסֵף) in Gen 49,22; Num 1,32; Num 13,11; Num 34,23; Num 36,1.5; Dtn 27,12; Dtn 33,13; Jos 16,1; Ez 47,13, der auch als „Haus Josefs“ (בֵּית יוֹסֵף) bezeichnet wird (Jos 17,17; Jos 18,5; Ri 1,22f; 2Sam 19,21; 1Kön 11,28), wobei diese Bezeichnung schließlich das gesamte Nordreich Israels umfassen kann (Ez 37,16.19; Am 5,6.15, Ob 18; Sach 10,6; → Stamm).

2. Die Josefsgeschichte (Gen 37-50)

2.1. Kontext

Die Josefsgeschichte im engeren Sinne findet sich in Gen 37-50. Sie ordnet mit Gen 37,2 Josef in das System der „Geschlechterfolgen“ (תּוֹלֵדוֹת tôledôt) ein, das die gesamte Genesis durchzieht und gliedert (→ Genealogie). Die Worte „dies sind die tôlədôt Jakobs“ eröffnen die Erzählung über die letzte der Generationenfolgen. Sie setzen mit der Schöpfung ein (Gen 2,4a) und führen über Adam (Gen 5,1) → Noah (Gen 6,9), die Söhne Noahs (Gen 10,1), Terach (Gen 11,27), → Isaak (Gen 25,19) bis hin zu → Jakob (Gen 37,2) und seinen Söhnen, von denen schließlich Josef ganz im Mittelpunkt des Geschehens steht. Allerdings wurde Josef nicht nur durch dieses genealogische Gerüst in den Erzählzusammenhang der Genesis eingebunden, sondern darüber hinaus durch eine Vielzahl von narrativen Einbettungen und Motivverknüpfungen. Die mit Gen 37 anhebende und mit Josefs Tod in Gen 50 endende Josefsgeschichte hat eine Vorgeschichte in der kurzen Notiz über seine Geburt (Gen 30,22-24) sowie eine Nachgeschichte, die uns über den Verbleib der Gebeine Josefs nach seinem Tod und ihre Bestattung in → Sichem informiert (Gen 50,24f; Ex 13,19; Jos 24,32).

Nach Gen 30,22-24 ist Josef der elfte von zwölf Söhnen, die Jakob mit seinen Frauen → Lea und → Rahel und deren Leibmägden → Silpa und → Bilha gezeugt hat.

Lea: 1. Ruben; 2. Simeon; 3. Levi; 4. Juda; 9. Issachar; 10. Sebulon;

Silpa: 7. Gad; 8. Asser;

Rahel: 11. Josef; 12. Benjamin;

Bilha: 5. Dan; 6. Naftali.

Während Rahel, die Lieblingsfrau Jakobs, zunächst kinderlos blieb (Gen 29,31; Gen 30,1f) und damit das Geschick der Erzmütter → Sara (Gen 11,30; Gen 16,1; Gen 18,11ff) und → Rebekka (Gen 25,21) teilte, war Lea, die weniger geliebte Frau, überaus fruchtbar, was sich in der Zahl ihrer sechs Söhne und der Tochter → Dina niederschlug, die sie Jakob schenkte (Gen 29,32-35; Gen 30,17-21). Das Motiv der um die Liebe Jakobs wetteifernden Frauen Lea und Rahel sowie die Konflikte, die sich daraus ergaben, bereitet bereits die Auseinandersetzung zwischen Josef und seinen (Halb-)Brüdern vor, die in Gen 37 offen zum Ausbruch kommt. Die Einbettung der Josefsgeschichte in die Familiengeschichte → Jakobs sowie Josefs Eingliederung in die Reihe seiner zwölf Söhne hat dazu geführt, dass die Josefsgeschichte in ihrer vorliegenden Gestalt eine unmittelbare Fortsetzung der Erzelternerzählungen der Genesis darstellt, die sie mit dem Tod Jakobs (Gen 49,29-50,14) zum Abschluss bringt.

Die Erzelternerzählungen bilden allerdings nicht nur einen genealogischen und familiengeschichtlichen Rahmen für die Josefsgeschichte, sondern kennen auch die mit dem Hungersnotmotiv (→ Hunger; → Hungersnotstele) verknüpfte Problematik der vorübergehenden Übersiedlung von Protoisraeliten (→ Israel) nach Ägypten (Gen 12,10-20; Gen 26,1f; Gen 42,1ff).

Mit der Ansiedlung der Sippe Jakobs in Ägypten (Gen 46,1-47,12) wird schließlich die Voraussetzung für die Exoduserzählung geschaffen, die in Ex 1,1-8 explizit an die vorausgehende Josefsgeschichte anknüpft. Auf diese Weise wurde die Josefsgeschichte zu einem Brückentext, der die beiden großen „Ursprungserzählungen“ Israels, die Erzelterngeschichten (Gen 12-36) mit der Mose-Exodus-Erzählung (Ex 1-15) verbindet (K. Schmid 1999).

2.2. Komposition

Die Erzählung beginnt mit dem Hinweis, dass Jakob / Israel Josef mehr liebte als seine Brüder, diese ihn hassten und er deswegen nicht mehr friedlich mit ihnen reden konnte (Gen 37,4). Am Ende wird gesagt, dass er die Brüder tröstete und ihnen zu Herzen redete (Gen 50,21). Im ersten Traum Josefs fallen die Garben der Brüder vor der Garbe Josefs nieder (Gen 37,7). Am Ende fallen die Brüder selbst vor Josef auf ihr Angesicht und erklären sich zu seinen Knechten (Gen 50,18). Diese Anfangs- und Schlussbemerkungen sind thematisch und lexematisch aufeinander bezogen. Sie schildern das Aufbrechen des Konflikts und seine Lösung. Dadurch entsteht ein narrativer Spannungsbogen mit einer aufsteigenden und einer absteigenden Konfliktlinie, der sich über viele Etappen immer weiter zuspitzt und schließlich entspannt. Die aufsteigende Konfliktlinie erreicht ihre Klimax damit, dass sich Josef seinen Brüdern zu erkennen gibt, diese küsst, vor innerer Bewegung weint und die Brüder mit ihm reden (Gen 45,15). In Gen 45,16 setzt die absteigende Konfliktlinie ein, die in Gen 50 zur vollständigen Aussöhnung zwischen Josef und seinen Brüdern führt und mit der Sterbenotiz Josefs endet (Gen 50,26).

Josef 1

Schaut man sich den Plot der Erzählung genauer an, dann lässt sich folgende Grobgliederung vornehmen (s. Tabelle). Gen 37 bildet mit den beiden Träumen Josefs die Exposition der Erzählung. Sie eröffnet mit dem Bruderkonflikt eine lange Reihe von Komplikationen, in der sich ein Schritt aus dem anderen ergibt. Es entsteht eine Handlungskette, die durch mehrere Motivverknüpfungen den Eindruck eines lückenlosen Erzählverlaufs erweckt. Die wichtigsten Motive sind das Traummotiv (Gen 37,5-11.19f; Gen 40,5-22; Gen 41,1-36; Gen 42,8; → Traum), das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es sich jeweils um Doppelträume handelt, das Kleidermotiv (Gen 37,3.23.31ff; Gen 39,12-16; Gen 41,14.42; Gen 45,22), das Grube- / Gefängsnismotiv (Gen 37,22-24.28f; Gen 39,20; Gen 40,15; Gen 41,14; Gen 42,17), das Motiv der Brüdermahlzeiten (Gen 37,25; Gen 43,16.25.31-34), das Hungersnotmotiv (Gen 41,27-36.53-57; Gen 42,1ff; Gen 43,1ff; Gen 45,6.11; Gen 47,13ff) und das mit diesem verknüpfte Motiv der Lebenserhaltung (Gen 42,2; Gen 43,8; Gen 45,5.7; Gen 47,19.25; Gen 50,20).

Eine Unterbrechung findet die Handlungs- und Motivkette gleich am Anfang durch Gen 38, die Erzählung von → Juda und → Tamar, die zwar eine ganze Reihe von Verbindungen mit der Josefsgeschichte aufweist, aber nach allgemeiner Überzeugung nicht zu ihrem ursprünglichen Bestand gehört.

Den I. Hauptteil bilden die Kap. Gen 39,1-41,57. In ihnen ist Josef in der Fremde ganz auf sich allein gestellt. Man erfährt nichts über seine Familie. In drei Anläufen wird die Geschichte eines Hebräers in Ägypten erzählt, der vom Sklaven zum Hausverweser Potifars (Gen 39,1-19), vom Häftling zum Gefangenenaufseher (Gen 39,20-40,23) und schließlich vom Traumdeuter zum Vizepharao und Landwirtschaftsminister aufsteigt (Gen 41,1-57).

Im II. Hauptteil (Gen 42,1-47,28) kommt wieder die Familie Josefs ins Spiel. Nachdem diese in Gen 37 zerbrochen war, steht am Ende eine Familienzusammenführung (Gen 47,1-28). Die Sippe Jakobs folgt dem Weg Josefs von Kanaan nach Ägypten, der ihnen von Gott lediglich vorausgeschickt worden war, um sie am Leben zu erhalten (Gen 45,5). Dabei steht dem dreifachen Aufstieg Josefs im I. Hauptteil eine dreifache Reise der Brüder im II. Hauptteil der Erzählung gegenüber (Gen 42,1-38; Gen 43,1-45,27; Gen 45,28-47,28).

Der III. Hauptteil der Erzählung (Gen 47,29-50,14) hat als zentrales Thema die Vorbereitungen Jakobs auf sein Ende, seinen Tod und seine Bestattung zum Inhalt. Dabei werden Themen aufgegriffen, die vor allem für das Leben Israels in der Diaspora von Bedeutung waren. Unter welchen Bedingungen können Kinder aus einer Mischehe (vgl. Josefs Ehe mit der ägyptischen Priestertochter Asenat aus On und die daraus hervorgegangenen Söhne Efraim und Manasse in Gen 41,45.50-52) zu legitimen Kindern Jakobs / Israels, also zu Angehörigen des Gottesvolkes Israel mit einem bleibenden Rechtsanspruch am gelobten Land werden? Bedarf es dazu eines der → Adoption vergleichbaren Rechtsaktes (Gen 48,1-20)? In welchem Land ist es legitim für das Gottesvolk Israel zu leben (Gen 47,27-48,7.21f; Gen 50,1-14)? Nur im Land, in dem sich die Gräber der Erzeltern befinden?

Auffällig sind in diesem Hauptteil die vom Prosastil der Erzählung abweichenden poetischen Stammessprüche in Gen 49, die ebenfalls nach allgemeiner Auffassung kein ursprünglicher Bestandteil der Erzählung gewesen sein dürften.

Der Abschluss der Erzählung berichtet über die endgültige Versöhnung Josefs mit seinen Brüdern nach dem Tod Jakobs (Gen 50,15-21) sowie letzte biographische Notizen über sein Leben und seinen Tod in Ägypten (Gen 50,22-26).

Das auffälligste Kompositionsprinzip der Josefsgeschichte sind die zahlreichen Doppelungen. Es handelt sich jeweils um ein Traumpaar (Gen 37,5-11; Gen 40,1-19; Gen 41,1-36), von zwei Karawanen ist die Rede (Gen 37,25-27.28), Josef wird zweimal von seiner Herrin versucht (Gen 39,7-9.11-12), zweimal verleumdet sie ihn (Gen 39,13-15.16-19), zweimal müssen die Brüder nach Ägypten reisen, um Getreide zu kaufen (Gen 42,1-38; Gen 43,1-34), zweimal werden die Brüder durch Josef hart geprüft (Gen 42,25-28; Gen 44,1-17), zweimal bedarf es der Versöhnung (Gen 45,1-15; Gen 50,15-21) und zweimal wird von Jakob der Wunsch geäußert, im Land der Väter bestattet zu werden (Gen 47,29f-31; Gen 49,29-33). Auf diese Weise kommen retardierende Momente in die Erzählung, die die Spannung erhöhen. Außerdem wird den Doppelungen der Träume eine theologische Funktion zugesprochen (Gen 41,32), die bei der Frage nach der Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit der Erzählung zu beachten ist.

2.3. Gattung

Im Unterschied zu den Sagenkränzen der → Erzelternerzählungen wird die Josefsgeschichte immer wieder als Novelle (→ Erzählende Gattungen) bezeichnet. Sie erfüllt die meisten Kriterien, die für Novellen kennzeichnend sind:

• Erzählung eines Konfliktes, der sich aus einem Normenbruch ergibt (Gen 37,8: Josef, der jüngere Bruder, will über die älteren Brüder herrschen);

• der Protagonist der Erzählung ist weitgehend auf sich allein gestellt und gerät in Schwierigkeiten und Isolation (Gen 37,23f; Gen 39-40: Josef in der Zisterne, im Hause Potifars, im Gefängnis);

• eine durch Leitmotive verknüpfte straffe Handlungsführung, die sich zu einem Höhepunkt in Gestalt einer „unerhörten Begebenheit“ (J.W. v. Goethe) zuspitzt (Gen 41: Josefs Aufstieg zum Vizepharao);

• im Zusammenhang mit der „unerhörten Begebenheit“ spielt der Zufall eine wichtige Rolle (Gen 41,9-13: Erinnerung des Obermundschenks an Josef);

• mit der Klimax ist die Grundlage für die Auflösung des Konflikts gegeben (Gen 45: Versöhnung mit den Brüdern);

• häufig wird am Ende das weitere Ergehen des „Helden“ der Erzählung nur noch angedeutet (Gen 50,22-26).

Mit dieser Gattungsbestimmung als Novelle liegt allerdings nur eine formale Charakterisierung der Erzählung vor. Darüber hinaus lassen sich auch inhaltliche Profile erkennen, die es erlauben, die Josefsnovelle einem ganz bestimmten Typos antiker Erzählungen zuzuordnen. Das auffälligste Merkmal besteht darin, dass es sich um die Erzählung vom Aufstieg eines Israeliten in der Fremde handelt. Das hat zu der präzisierenden Charakterisierung der Josefsgeschichte als Diasporanovelle geführt (A. Meinhold 1975/76), der das → Esterbuch und Teile des → Danielbuches an die Seite gestellt werden können. In der → Diaspora ergaben sich für das Leben der Israeliten viele Probleme (die Frage der Mischehen und der Rechtsstellung der daraus hervorgegangenen Kinder [Gen 41,45.50-52; Gen 48,1-20]; unterschiedliche Speisegesetze [Gen 43,31f]; das Verhältnis von Fremde und gelobtem Land [Gen 46,1-4; Gen 47,11f; Gen 48,21f; Gen 49,29-32; Gen 50,24f]), die durch derartige Erzählungen eine narrative Bearbeitung erfuhren.

Neben der Charakterisierung als Diasporanovelle wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass Josef und sein Wandel in Ägypten den Idealen der biblischen → Weisheit entsprechen (G. v. Rad 1971). Er lässt sich nicht vom Liebeswerben der verheirateten fremden Frau betören (Gen 39,7-12; vgl. Spr 2,16-19; Spr 5,1-23; Spr 6,23-25; Spr 7,5-21). Er erweist sich als ein kluger politischer Ratgeber im rechten Augenblick (Gen 41,25-36; vgl. Spr 8,12; Spr 11,14; Spr 15,22; Spr 20,18; Spr 24,6); er hält sich an den Anfang aller Weisheit, die Gottesfurcht (Gen 42,18; vgl. Spr 1,7.29; Spr 2,5; Spr 8,13; Spr 10,27 u.ö.). Daher lässt sich die Josefsnovelle auch mit guten Gründen in die Reihe der weisheitlichen Lehrerzählungen einordnen (→ Erzählende Gattungen).

2.4. Entstehung

2.4.1. Schichtung

Zur Frage der Entstehung der Josefsgeschichte gibt es in der gegenwärtigen Forschung keinen Konsens. In der laufenden Debatte werden mit mehr oder weniger Varianten drei Lösungsansätze verfolgt:

1. Urkundenhypothese. Die im Text zu beobachtenden Widersprüche, Spannungen und Doppelungen wie das Auftreten der → Ismaeliter neben den → Midianitern (Gen 37,25-29), die Bezeichnung des Vaters als Jakob (Gen 37,1.34; Gen 42,1.4.29.36; Gen 45,25; Gen 46,2.5f u.ö.) und Israel (Gen 37,3.13; Gen 43,6.8.11; Gen 45,28; Gen 46,1.29.30 u.ö.), die Position von Juda (Gen 37,26; Gen 43,3.8; Gen 44,16-34) und Ruben (Gen 37,21f; Gen 42,22.37) als Sprecher der Brüder u.a., sind nach der Auffassung einiger Forscher immer noch am besten mit der klassischen Urkundenhypothese zu erklären (→ Pentateuchforschung). Dabei wird der größte Teil des Textes auf die beiden Quellen J (→ Jahwist) und E (→ Elohist) aufgeteilt, die dann in Gen 37,1.2a; Gen 41,46a; Gen 46,6f.8-27; Gen 47,5.6a.7-11.27f; Gen 48,3-7; Gen 49,1a.28b-33; Gen 50,12f.22-26 eine Überarbeitung im Sinne von P (→ Priesterschrift) erfahren haben. Weitere Einschübe und Glossierungen (Gen 38; Gen 41,50-52; Gen 46,1-5; Gen 48; Gen 49) seien später hinzugekommen (L. Schmidt, L. Ruppert, H. Seebass u.a.).

2. Ergänzungshypothese. Schon früh wurde bemerkt, dass der Text zwar Wachstumsspuren erkennen lasse, eine Aufteilung auf die klassischen Pentateuchquellen allerdings Probleme bereitet. Daher hat man sich bei der Analyse von der klassischen Urkundenhypothese gelöst und ein neues Modell der Textgenese entwickelt, das sich vor allem am Auftreten der beiden Sprecher der Brüder Josefs, Ruben und → Juda, orientiert. In diesem Modell geht man von einer Grundschicht der Erzählung aus, in der ursprünglich nur einer der beiden Erwähnung fand (Ruben / Juda?), sowie einer ersten Wachstumsstufe, in der ihm der andere an die Seite getreten sei (W. Dietrich, H.-Chr. Schmitt; K. Schmid u.a.). Unabhängig davon wird mit der unter 1. genannten priesterschriftlichen Redaktion und späteren Zusätzen gerechnet.

Mit einer Grunderzählung, die ursprünglich lediglich 40% des gesamten Erzählstoffes umfasste, und einem noch weit differenzierteren Kommentierungs- und Ergänzungsprozess rechnet H. Schweizer.

3. Einheitlichkeitshypothese. Die überaus unterschiedlichen Ergebnisse der literar- und redaktionskritischen Analysen über den Umfang und die Gestalt der ursprünglichen Josefsgeschichte und ihre späteren Bearbeitungsschübe haben dazu geführt, dass immer wieder der Versuch gemacht wurde, die Josefsnovelle als weithin einheitlichen und kohärenten Erzähltext zu verstehen (H. Donner, C. Westermann, H.J. Boecker 2003, R. Lux 2001, J. Ebach u.a.). Die Doppelungen und Spannungen werden dabei in den meisten Fällen als literarische Stilmittel gedeutet, die nicht zwingend auf unterschiedliche Wachstums- und Bearbeitungsstufen schließen lassen müssen (vgl. dazu die explizite theologische Begründung in 41,32). Als spätere Bearbeitungen und Einfügungen werden lediglich die Kap. Gen 38; Gen 48*; Gen 49 sowie die oben genannten priesterschriftlichen Zusätze betrachtet.

2.4.2. Datierung

Die unterschiedlichen Forschungspositionen mit ihren jeweils berechtigten Detailbeobachtungen machen es schwer, die Josefsgeschichte in die Literaturgeschichte Israels möglichst plausibel einzuzeichnen. Ausgehen kann man von dem Minimalkonsens, der von nahezu allen Auslegern geteilt wird, dass Gen 38; Gen 49 und die nachexilische priesterschriftliche Redaktion (6./5. Jh. v. Chr.) nicht zur ursprünglichen Erzählung gehören. In welche Zeit die eigentliche Erzählung (samt ihren Wachstumsstufen) datiert werden kann, bleibt umstritten. Die Vorschläge reichen von der sogenannten „davidisch-salomonischen Aufklärung“ im 10./9. Jh. v. Chr. (G. v. Rad, L. Schmidt, L. Ruppert, H.J. Boecker 1992) bis in die Perserzeit des ausgehenden 6./5. Jh. v. Chr. (D.B. Redford, A. Meinhold, H. Schweizer, R.G. Kratz, K. Schmid, M. Fieger / S. Hodel-Hoenes u.a.), oder gar erst in die hellenistische Epoche des 3. Jh. v. Chr. (A. Kunz).

Wenn man trotz der dominierenden Diasporathematik mit einem vorexilischen Bestand rechnen kann, dann ließe sich mit aller Vorsicht folgender Werdegang der Erzählung vermuten:

Stufe 1: 8./7. Jh. (?), mündliche Überlieferung von Gen 39-41(?). In der vorexilischen Zeit stand wahrscheinlich eine nur mündlich überlieferte Erzählung über die außergewöhnliche, aber nicht einzigartige Karriere eines Israeliten in Ägypten mit Namen Josef (Gen 39-41). Das historische Vorbild hierfür könnte das Geschick des ersten Nordreichskönigs → Jerobeam I. gewesen sein (1Kön 11,40; 1Kön 12,2f), der einst – wie auch andere Prominente – in Ägypten Zuflucht gefunden hatte. So gab es auch vom 8. Jh. v. Chr. an intensivere Beziehungen zwischen Ägypten und dem Nordreich Israel (= Haus Josefs) als mit dem Südreich (= Haus Judas). Durch die assyrische Westexpansion verstärken sich nach dem Untergang des Nordreiches (722 v. Chr.) Fluchtbewegungen einzelner Bewohner der syro-palästinischen Landbrücke nach Ägypten (M. Görg, U. Schipper). In dieser geschichtlichen Phase ist die Geschichte vom Aufstieg eines Israeliten, den es nach Ägypten verschlagen hatte, gut denkbar.

Stufe 2: 6. Jh.; Verschriftung und Verknüpfung mit der Jakob / Israel-Tradition: Gen 37*; 39-47*; 50*. In einer zweiten Überlieferungsstufe wurde diese mündliche Josefstradition mit der Jakob- / Israeltradition verknüpft. Erst auf dieser Überlieferungsstufe entstand wahrscheinlich der eigentliche Plot der Erzählung und erfolgte ihre Verschriftung. Das geschah frühestens nach dem Untergang Judas (587 v. Chr.), durch den es zu einer größeren Fluchtbewegung von Judäern nach Ägypten und der Herausbildung einer nennenswerten ägyptischen Diaspora kam (vgl. 2Kön 25,22-26; Jer 41-44). Damit ließen sich auch die hervorgehobene Rolle → Judas und sein Einsatz für → Benjamin in der Erzählung erklären (Gen 44,18-34). Im Zuge der Verschriftung hätte der Erzählstoff der Kap. 39-41 mit Kap. 37 (und 38?) eine Exposition mit gesamtisraelitischer Perspektive erhalten, die den Ausbruch des Konfliktes zwischen Josef und seinen Brüdern schildert (Rückblick auf die Geschichte der beiden Reiche Israel und Juda?), und mit der Familienzusammenführung, Versöhnung sowie dauerhaften Ansiedlung der Sippe Jakobs in Ägypten endet (Gen 42-47* u. Gen 50*). Diese Gen 37; Gen 39-47*; Gen 50* umfassende und in sich kohärente Erzählung existierte zunächst unabhängig von ihrer Einbettung in die Tora. Das wird z.B. daran deutlich, dass nach Gen 37,10 Rahel, die Mutter Josefs, noch lebt, während sie nach Gen 35,16-20 bereits gestorben war. Außerdem unterscheidet sich die Josefsgeschichte in ihrem positiven Ägyptenbild fundamental von der folgenden Exoduserzählung, nach der Ägypten das Sklavenhaus par excellence ist (Ex 1,1-2,10).

Stufe 3: 5. Jh.; Priesterschriftliche Redaktion, Glossierungen und Einfügung von Sondertraditionen: Gen 37,1f; 38?; 41,46a.50-52; 46,1-7.8-27; 47,5.6a.7-11.27f; 48*; 49; 50,12f.22-26. In einem dritten Wachstumsschub erfolgten schließlich in der nachexilischen Zeit (5. Jh. v. Chr.) die priesterschriftliche Kommentierung der Erzählung sowie weitere Einfügungen von Sondertraditionen und Zusätzen im Zuge der Pentateuchredaktion.

2.5. Theologie

Die Josefsgeschichte redet mehr indirekt als direkt von göttlichen Dingen. Nicht ganz zu Unrecht hat man davon gesprochen, dass in ihr „das Handeln Gottes in eine radikale Verborgenheit“ (G. v. Rad 1971) verwiesen worden sei. Der aufmerksame Leser gewinnt allerdings immer wieder den Eindruck, dass die menschlich allzu menschlichen Konflikte, die im Vordergrund der Bühne des Geschehens spielen, von einer „unsichtbaren Hand“ im Hintergrund gesteuert werden. Das beginnt mit den drei Traumpaaren. → Träume waren für den Menschen der Antike Botschaften des Himmels. Diese göttlichen Traumbotschaften (Gen 41,16.25.28.39; Gen 46,2) geben von Anfang an dem Geschick Josefs immer wieder eine neue Wende. Doch auch darüber hinaus reiht sich ein „Zufall“ an den anderen. Wie aus dem Nichts taucht in → Sichem ein namenloser Mann auf, der Josef den Weg zu den Brüdern weist (Gen 37,15-17), trifft er auf die prominenten Gefangenen des Pharao (Gen 40), erinnert sich der Obermundschenk an ihn (Gen 41,8-13), stoßen die Brüder bei ihrer ersten Reise unmittelbar auf Josef (Gen 42,6). All dies macht deutlich, dass da im Hintergrund Regie geführt wird. Im kontingenten Weltgeschehen waltet kein dunkles Schicksal, sondern die göttliche Vorsehung (providentia dei). Das wird schließlich auch vom Erzähler explizit gemacht, indem er die Ägypter erkennen lässt, dass Josef ein Mann ist, dem einfach alles gelingt, weil JHWH bzw. der Geist Gottes selbst mit ihm ist (Gen 39,2.21.23; Gen 41,38). Und andererseits weist Josef seine Brüder im Zuge der Versöhnung ausdrücklich darauf hin, dass er in all dem Bösen, das sie ihm zufügten, nicht allein ihre Schuld sieht, sondern in der Rückschau auch das vorhersehende Walten Gottes zu erkennen vermag, der selbst das Böse noch zum Guten wenden kann und will (Gen 45,5f; Gen 50,20).

Engstens mit diesem verborgenen Walten Gottes ist daher die Absicht der Lebenserhaltung der Sippe Jakobs verbunden. Das wird nicht nur in der Offenlegung des Willens Gottes durch Josef in Gen 45,5-7; Gen 50,20 deutlich ausgesprochen, sondern auch durch das wiederholte Ringen Jakobs und seiner Söhne zum Ausdruck gebracht, am Leben zu bleiben und nicht zu sterben (Gen 42,2; Gen 43,8), bzw. in der Huldigung, die Josef durch die Ägypter erfährt, weil er sie am Leben erhalten habe (Gen 47,25).

Die providentia dei, Gottes Führung (gubernatio), die gegen allen Augenschein Josef und seinen Brüdern in Ägypten widerfährt, findet ihre menschliche Antwort in der Fürsorge (cura), die Josef seinem Vater Jakob, seinen Brüdern und darüber hinaus den Ägyptern durch sein kluges Handeln erweist (Gen 39,5; Gen 45,21-23; Gen 47,12.25; Gen 50,21). Darin wird Josef nicht nur als ein Glückspilz erkennbar, dem alles gelingt (Gen 39,2.23), sondern auch als ein Mann der Gottesfurcht (Gen 42,18). Als solcher entspricht er nicht nur dem Ideal des weisen jungen Mannes, sondern auch dem, der sich an Gottes Weisungen und Gebote hält (Gen 39,9; vgl. Ex 20,14; Dtn 5,18).

Das führt zu der Frage, worin eigentlich die Herrschaft Josefs über seine Brüder (Gen 37,8; Gen 42,10.30.33; Gen 44,18f; Gen 45,26) gründet und ihre Legitimation findet. Ganz bestimmt nicht in der Vorzugsstellung, die ihm der Vater eingeräumt hat. Vielmehr kommen hier wieder die Träume Josefs (Gen 37,5-11) als Botschaften Gottes ins Spiel. Herrschaft wird danach und in der gesamten weiteren Josefsgeschichte nicht als ein durch Herkunft und Geburt erworbenes Vorrecht des Älteren über die Jüngeren definiert (vgl. Gen 25,23; 1Sam 16,1-13), sondern gründet in der freien Erwählung durch Gott (Gen 45,8f; → Erwählung) und legitimiert sich gegenüber den Beherrschten durch ein dem Leben und Überleben dienendes, vorausschauendes und erhaltendes Handeln (Gen 39,5; Gen 41,33-36; Gen 45,5-7.10; Gen 47,25; Gen 50,21). Dazu gehört, dass der Herrschende jeder Vergötzung und Verabsolutierung seiner Macht abschwört und diese dadurch zu relativieren weiß, dass er einen Mächtigeren über sich respektiert, dem auch er rechenschaftspflichtig bleibt, sei es nun ein Mensch (Gen 39,9; Gen 41,40.44) oder Gott (Gen 50,19). Die Institution des Königtums und der staatlichen Herrschaft ist in der Josefsgeschichte daher – anders als in der Exodustradition – positiv konnotiert (F. Crüsemann).

Diese Haltung, die im Herrschen einen Dienst am Leben sieht, schließt auch die Bereitschaft zur Vergebung und Versöhnung ein (Gen 45,1-5.14f; Gen 50,15-21). Während es im Ordnungsdenken des Alten Orients in der Regel die Aufgabe des Herrschers ist, im Rahmen des → Zusammenhangs von Tun und Ergehen für → Gerechtigkeit zu sorgen, indem er die Bösen bestraft und die Guten schützt, bekommt diese weisheitliche Verhaltensmaxime durch die starke Betonung der Bereitschaft Josefs zur Versöhnung einen eigenen Akzent. Vergebung setzt die → Vergeltung des Bösen durch Böses (Bestrafung des Täters) außer Kraft (K. Koenen 1998, A. Meinhold 2012). Wenn es um die Erhaltung des Lebens durch Versöhnung geht, bekommt Vergebung den Vorzug vor der Vergeltung, geht Gnade vor Gerechtigkeit. Dem kann aber nur dort Raum gegeben werden, wo Schuld – wie von den Brüdern Josefs – vor Gott und den Menschen erkannt und bekannt wird (Gen 42,21f; Gen 44,16; Gen 50,17f). Die harten Proben, auf die Josef seine Brüder stellt (Gen 42,7-28; Gen 44,1-17), schieben der „billigen Gnade“ (D. Bonhoeffer) einen Riegel vor und führen diese zur Schuldeinsicht und → Umkehr.

3. Wirkungsgeschichte

3.1. Frühjudentum

Nach der innerbiblischen Spur, die Josef in Ps 105,16-22 hinterließ, fand er im apokryphen Buch der Weisheit Salomos (1. Jh. v. Chr.; → Weisheit Salomos) durch Anspielungen auf seine Person als Verkörperung der Weisheit Erwähnung (Weish 10,13f). Aus dem Jüngling der Josefserzählung wird hier ein Mensch, der mit der göttlichen Frau Weisheit im Bunde steht und daher allen Versuchungen der fremden Frau Potifars in Ägypten zu widerstehen vermag.

In der außerbiblischen Literatur des frühen Judentums findet sich eine sehr viel breitere literarische Aufnahme des Stoffes. Im Jubiläenbuch (→ Jubiläenbuch) wird der große Versöhnungstag (→ Jom Kippur) mit dem vermeintlichen Tod Josefs sowie dem Tod → Bilhas und → Dinas in Verbindung gebracht (Jub 34,12f.18). Auf diese Weise sollte die Josefsgeschichte mit all ihrem Leid, das sie über Jakob brachte, und der Schuld, die die Brüder auf sich luden, im Festkreis des Jahres erinnernd „begangen“ werden.

Eine intensivere Aufnahme fand die Gestalt Josefs bei Philo von Alexandrien (ca. 20 v. – 50 n. Chr.; → Philo von Alexandrien; Text Philo). In seiner Schrift De Josepho entdeckt er in Josef den idealen Staatsmann von außergewöhnlichem Format, der auf den einzelnen Ausbildungsstufen als Hirte im Haus des Vaters Jakob und als Hausverwalter Potifars schließlich zum höchsten Staatsverwalter in Ägypten aufsteigt (De Josepho 8). Neben der Kunst der Menschenführung lernt er im Haus Potifars die für einen Staatsmann so wichtige Tugend der Beherrschung seiner Leidenschaften und Gefühle (De Josepho 11). Philo kennt allerdings noch einen anderen Josef. In seiner Schrift De somniis (Über die Träume, Buch II) kommt das Negativ zum Positiv zur Darstellung. Da wird Josef als labiler Charakter vorgestellt. Die Tugenden hat Josef von väterlicher Seite, die Untugenden von der Mutter (De somniis II,2). Diese widersprüchliche Sicht Josefs bei Philo spiegelt zwei Lesarten der biblischen Vorlage wider, die neben dem sichtbaren auch den unsichtbaren Charakter des Menschen zu ergründen suchen.

In den Testamenten der zwölf Patriarchen (2. Jh. n. Chr.; → Testamente der zwölf Patriarchen) befindet sich auch eine „Abschrift des Testaments Josefs“ in Gestalt der letzten Worte Josefs an seine Söhne. Liest man sie, so stellt sich Verwunderung ein. Denn es sind vor allem zwei Dinge, die Josef den Seinen noch zu sagen hat. Ausführlich warnt Josef seine Söhne vor der fremden Frau am Beispiel von Potifars Weib, die geradezu krank vor Liebesleidenschaft nach ihm gewesen sei (TJos V,1; VI,1ff; VIII,2ff; IX,1ff.4f). Josef dagegen stellt sich als Musterexemplar der Keuschheit dar. Ein zweiter Aspekt, der im Testament Josefs zum Zuge kommt, ist der der Bruderliebe. Josef tut alles, um die Schuld seiner Brüder zu verbergen (TJos XIII – XIV).

Als letztes Beispiel für die frühjüdische Rezeption der Josefserzählung sei der antike Roman Josef und Asenet (→ Josef und Asenet) erwähnt, der wohl in der ägyptischen Diaspora entstand. Seine Datierung bleibt unsicher (1. Jh. v. oder 1. Jh. n. Chr.). Die Hauptfigur dieses Romans ist nicht Josef, sondern seine Frau Asenet. Der Roman gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil erzählt die Liebesgeschichte zwischen Josef und Asenet (JosAs 3-9.19-21). In diese Liebesgeschichte bettet der Autor die Bekehrungsgeschichte Asenets ein (JosAs 10-18). Eines der wesentlichen Anliegen des Romans war es, die ägyptische Frau Josefs einzugemeinden und zu einer frommen Jüdin werden zu lassen. Insofern handelt es sich um die Geschichte einer Proselytin. Josef selbst wird in seiner Doppelrolle als Staatsmann und Ehemann vorgestellt. Der zweite Teil des Romans (JosAs 22-29) entfernt sich vollkommen von seiner biblischen Vorlage. Er erzählt von einem Komplott des Sohnes des Pharao, der mit allen Mitteln versucht, Asenet für sich zu gewinnen. Zu diesem Zwecke heuert er Dan und Gad, die Brüder Josefs, an, um ihn bei seinem Plan der Tötung zu unterstützen. Der Anschlag misslingt. Benjamin und die übrigen Brüder retten Josef, der auch in diesem Falle den Missetätern Dan und Gad vergibt. Der Roman endet mit dem Tod des Verschwörers und dem Tod des Pharao.

Der Roman hatte eine bemerkenswerte literarische Nachgeschichte. Schon früh erfuhr er wohl auch christliche Bearbeitungen. So findet sich z.B. in JosAs 8,5 ein Hinweis auf die im Judentum üblichen Segenssprüche über dem Brot des Lebens und dem Kelch der Unsterblichkeit, der an die neutestamentlichen Abendmahlsworte anklingt.

3.2. Christentum

Im Neuen Testament fand Josef lediglich im Rahmen der Rede des → Stephanus vor dem Hohen Rat Erwähnung (Apg 7,9-16). Diese Rede enthält einen Rückblick des Stephanus auf die Geschichte Israels von Abraham bis David. Sie thematisiert Gottes Treue zu Israel und Israels Untreue und Widerstand gegen Gott. Beide Aspekte klingen – wenn auch noch sehr verhalten – in der summarischen Nacherzählung der Josefsgeschichte an. Gottes Treue erweist sich darin, dass er mit Josef war (Apg 7,9), ihn aus Bedrängnis rettete und vor dem Pharao zu Amt und Ansehen gelangen ließ (Apg 7,10). Israels Widerstand gegen Gott wird am Verhalten der Brüder demonstriert. Sie beneiden Josef und verkaufen ihn nach Ägypten (Apg 7,9). Wie in der Josefsgeschichte wendet Gott aber das Böse zum Guten. Die Brüder Josefs avancieren damit zu den frühesten Repräsentanten des widerspenstigen Israel. Im 2. Jh. n. Chr. wird Josef dann immer mehr zum Vorbild und exemplum Christi stilisiert. Das wird nicht zuletzt an christlichen Bearbeitungen frühjüdischer Schriften wie dem Testament der Patriarchen deutlich. Josef wird zum Sündlosen, der wie in Jes 53 für die Gottlosen sterben muss (TB III,8), oder zum „unbefleckten“ Lamm (TJos XIX,8f)

Diese Josef-Christus-Typologien eroberten sich schließlich in der christlichen Auslegung der Josefsgeschichte einen festen Platz. Die Kirchenväter spielten sie in allegorischen Auslegungen immer wieder durch. So wie Jakob seinem Sohn Josef einen bunten Rock gefertigt habe, um ihn damit zu kleiden, so habe Gottvater im inkarnierten Christus menschliche Gestalt angenommen, die er wie ein Kleid über seinem göttlichen Wesen trug. Zu den festen Bestandteilen solcher Deutungen gehört auch der Verkauf Josefs durch seine Brüder (Joseph venditur), worin man ein Abbild der Passion Christi sah. Ebenso wird der Kaufpreis von 20 Silberschekeln zu den 30 Silberlingen in Beziehung gesetzt, die → Judas für den Verrat Jesu erhielt (Mt 26,15; Mt 27,3-5 par).

Origenes (3. Jh.) hat in seinen Genesisauslegungen die Josef-Christus-Typologie weiter ausgezogen. Er berichtet u.a., dass Jakob vor Gram erblindet sei, als ihm der blutige Rock Josefs gebracht wurde. Erst als er den tot geglaubten Josef in Ägypten wieder in die Arme schließen durfte, habe dieser ihm die Hände auf die Augen gelegt und ihm das Augenlicht wiedergegeben. So wie Josef am Vater handelte, so handelte auch Christus als verus Joseph bei der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1-12). Und Josefs Sturz in die Zisterne (Gen 37,22) wird schließlich mit der Grablegung Christi konfiguriert.

Martin Luther hat in einer Predigt die Josefsgeschichte (WA 24,609-710; → Luther) als „eine schöne lustige Historien“ (WA 24, 612,11) von hohem theologischen Gewicht gewürdigt. Methodisch verfährt er dabei so, dass er zunächst dem Wortsinn der einzelnen Kapitel nachgeht, dem dann eine allegorische Auslegung folgt. In seiner zunächst am Wortsinn der Erzählung orientierten Auslegung thematisiert er die Frage, ob Gott durch sein Handeln seinen eigenen Verheißungen widerspreche. „Sihe, das sind die rechten güldenen legenden, darynne uns Gott leret, wie er seine heiligen kochet und brett und so mit yhn spielet, als sey es alles erlogen was er yhn verheisset“ (WA 24, 613,26-28). Die Väter werden angehalten, gleichsam gegen Gott an Gottes Verheißungen festzuhalten. Dieser am Wortsinn der Texte orientierten Auslegung stellt Luther schließlich eine allegorische Deutung der Josefsgeschichte an die Seite, in der er die Tradition der Josef-Christus-Typologie aufnimmt: „Denn in Josephs person hat Gott auffs aller feinest Christum und sein gantzes reich geistlich abgemalet. So ist nu die Summa von dieser figur: Wie es Joseph gehet mit seinen brüdern, also gehet es Christo mit seinen brüdern, das ist: mit den Jüden“ (WA 24, 615,18-21). Damit wurde der Konflikt zwischen Josef und seinen Brüdern auf das Verhältnis der Juden zu Jesus und schließlich der Synagoge zur Kirche übertragen. Die Juden werden zu exemplarischen Gegnern Jesu und zu Christusmördern erklärt (WA 24, 618,15-22). Die Josef-Christus-Typologie wird zum Baustein → antijudaistischer Bibelauslegung.

Man würde Luther allerdings Unrecht tun, wollte man seine Predigt über die Josefsgeschichte auf den Aspekt des Antijudaismus reduzieren. Immer wieder deckt er auch den eigentlichen theologischen Gehalt der Erzählung als einer Sammlung von exempla des wunderlichen und doch tröstlichen göttlichen Regiments auf: „wo man meynet, es sey der teufel und tod, da ist er am nehisten, Er (Josef) meynet, er sey verlassen von Gott und der welt, so wartet sein Gott und hat ein Auge auff yhn, lest yhn wol verkaufft und gefangen werden, als sey kein Gott bey yhm, Aber da die zeit kömpt, setzt er yhn zun hohisten ehren“ (WA 24, 632,31-35). So wird für ihn die Josefsgeschichte auch zur Schule des Trostes und des Glaubens.

3.3. Islam

Auch in der dritten der drei großen monotheistischen Buchreligionen, im Islam, kam es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gestalt Josefs. Ihm wurde die 12. Sure im Koran gewidmet (Text Koran). Von dieser Sure gingen vielfältige Wirkungen auf die Geschichte der orientalischen Literatur aus. Sie erzählt wie ihre biblische Vorlage die Geschichte von einem Traum, der in Erfüllung ging, weil Allah hinter allen Wegen und Irrwegen Josefs stand. In Einzelheiten weicht die Sure aber erheblich vom biblischen Vorbild ab. So durchschaut z.B. Jakob das böse Spiel seiner Söhne, das sie mit seinem Liebling Josef getrieben haben, von Anfang an (12,18). Auch die Episode von Potifars Weib weist interessante Eigenheiten auf. Während es in der biblischen Erzählung nicht zu einer ausdrücklichen und öffentlichen Feststellung der Unschuld Josefs kam, wird diese in der Josefssure geradezu kriminalistisch ermittelt (12,26-29). Andererseits jedoch zeigt der Erzähler auch Verständnis für die Frau des Ägypters. Die Affäre mit Josef, die keine Affäre war, wird – nicht ohne Humor – mit Josefs engelgleicher Schönheit entschuldigt (12,31f), von der die Freundinnen der Frau Potifars sich anlässlich einer Einladung mit eigenen Augen überzeugen konnten. Sie sind von der Schönheit Josefs so geblendet, dass sie sich beim Schälen von Orangen mit den scharfen Obstmessern die Finger blutig schneiden.

Da zeigt sich eine neue, ungewöhnliche Sicht auf Potifars Weib. Sie wird nicht wie im Testament des Josef als Inkarnation des Bösen vorgestellt, sondern als ein Wesen mit menschlichen Schwächen.

Allerdings unterscheidet sich die Josefssure nicht nur in solchen narrativen Einzelzügen von der biblischen Vorlage. Die Differenzen zwischen beiden sind bei allen Gemeinsamkeiten fundamentaler. Da Gott Josef vorher jeden Schritt seines Handelns einschließlich des guten Ausgangs mitteilt, verlieren die Leiden und Prüfungen Josefs im Koran an Schärfe. Dem Frommen ist sein Lohn gewiss (12,22). Und wie in der christlichen Auslegung, in der es zu einer Identifikation Josefs mit Jesus kam, so wird auch im Koran das Geschick Mohammeds mit dem Josefs identifiziert. Mohammed erfährt in den Konflikten, die er selbst durchzustehen hatte, aus der Josefsgeschichte Trost und Ermutigung (12,111).

So lesen Juden, Christen und Muslime die Josefsnovelle auf dem Hintergrund ihrer eigenen Traditionen und Erfahrungen. Dass sie darüber hinaus viele Maler und Literaten bis hin zur Josefstetralogie Thomas Manns inspiriert hat, macht ihren ganz außergewöhnlichen Rang und Reiz in der Literaturgeschichte der Menschheit aus.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Semitische Kleinviehnomaden in Ägypten (Grabmalerei aus Beni Hassan; 19. Jh. v. Chr.). Aus: H. Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin / Leipzig 2. Aufl. 1927, Tafel XXI
  • Paser, Bürgermeister von Theben, wird in Anwesenheit von Ramses II. von zwei Dienern eingekleidet und mit dem Ehrengold des Königs ausgezeichnet (13. Jh. v. Chr.). Aus: J.G. Wilkinson, The Manners and Customs of the Ancient Egyptians, Bd. III, London 2. Aufl. 1878, Pl. 64
  • Ausgemergelte Nomaden (Detail des Hungersnotreliefs; Aufgang zur Pyramide des Unas in Sakkara; um 2500 v. Chr.). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 17.4.2010
  • Josef gibt sich seinen Brüdern zu erkennen (Francois-Pascal Gerard, 19. Jh.).
  • Josefs Schönheit (Islamische Malerei; 19. Jh.).

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