Klage (AT)
(erstellt: Dezember 2012)
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1. Einführung: Biblische Klage
Die biblische Klage steht unzweifelhaft in Verbindung zu institutionellen Formen des Rechtswesens und des Kultes, versteht sich jedoch zunächst als ein sprachlich-textliches Phänomen. In der Heiligen Schrift geben die Texte der Klage Erfahrungen unterschiedlicher Notsituationen Raum. Diese bedrohlichen Umstände und Situationen können konkret benannt werden, finden zumeist aber metaphorischen Ausdruck. Dabei können Klagephänomene auf der Ebene des individuellen wie des kollektiven Schicksals unterschieden werden. Die Texte der Klage spiegeln die Wahrnehmung, dass die umgebende Welt und die persönliche Situation des Sprechers nicht so erfahren werden, wie sie von der in der Glaubenstradition überlieferten Zusage Gottes her gewollt sind. Das in → Schöpfung
2. Texte der Klage
Neben einzelnen Klagepassagen können ganze Textbereiche oder biblische Bücher mit Klagesituationen in Verbindung gebracht werden. Es sind zumeist poetische Texte (z.B. → Psalmen
3. Geschichte der Forschung zur Klage
Die Deutung der Klage als unerlaubte „Auflehnung“ gegen Gott oder als „Pharisäismus“ verhinderte zunächst lange eine (bibel-)theologisch ertragreiche Befassung mit dem Phänomen der Klage. In der sogenannten „Skandinavischen Schule“ (→ Uppsala Schule
Die formgeschichtliche Deutung muss sich jedoch von der Tatsache hinterfragen lassen, dass sich nicht alle Klagetexte problemlos in die Schemata der postulierten Gattungen einordnen lassen. Auch der zumeist recht willkürlich angenommene kultische „Sitz im Leben“ rückt in der aktuellen Forschung zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr werden literarische Klagephänomene im Rahmen einer kontextuellen Lektüre zunächst individuell in der jeweiligen Leserlenkung beschrieben, wie die Klage textlich „geführt“ wird, welcher rote Faden, welches „Gespräch“ sich durch die Einbettung in den jeweiligen Mikrokontext ergibt. Weiterhin werden die Klagetexte mit ihrer theologischen Aussage dann in den Gesamtzusammenhang mit anderen Sprachformen in den kanonischen Makrokontext des jeweiligen Textbereichs (Buches, Kanonteils) eingeordnet (Intertextualität). Als weitere Auslegungskontexte ergeben sich patristische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Deutungstraditionen. Hinzu kommt, dass die Bibelwissenschaft unter Zuhilfenahme neuerer literaturwissenschaftlicher Perspektiven den performativen Charakter biblischer Klage neu entdeckt hat. Die entsprechenden Textpassagen werden auf dem Hintergrund von Rezeptionsästhetik und Leseforschung zunehmend als „Konfliktgespräche mit Gott“ (B. Janowski) wahrgenommen, die dem Leser der Bibel als Lebensbuch Formulare für die theologische Bearbeitung existenzieller krisenhafter Situationen an die Hand geben.
4. Klage und Systematik, Praktische Theologie und Spiritualität
Die biblische Klage spiegelt die Theodizeeproblematik der philosophisch-systematischen Reflexion auf ihre Weise und führt sie (text-)pragmatisch weiter. Das Ringen des Glaubenden und der Gemeinschaft um Gottes Gerechtigkeit findet in der dramatischen Gotteskommunikation mit ihm selbst statt. Die biblische Klage zeigt einen alternativen Weg auf zwischen schweigender Ergebung und der Konsequenz, Gott den Abschied zu geben (vgl. Dostojewski). Als Dialog mit Gott ist sie Gebet. Sie vermeidet dabei eine Domestizierung der Gebetssprache, stellt vielmehr biblisch legitimierten Protest gegenüber Gott als integrativen Bestandteil der Lebens- und Glaubenserfahrung dar. Die biblischen Texte der Klage öffnen den Menschen auf die Wirklichkeit seines Lebens und auf die Wirklichkeit Gottes hin. In der performativen Dimension des Sprechens als Handeln können sie kathartisch-therapeutische Qualität haben. Die biblische Klage jedoch widersteht der Herausforderung einer esoterischen „Selbstheilung“, vielmehr erhofft der sich in die Tradition der biblischen Klage einreihende Glaubende die Heilung durch Gottes Tun und Initiative.
5. Theologie der Klage
Die Texte der Klage in der Bibel zeigen in hohem Maße die „Leid- und Schmerzempfindlichkeit der biblischen Gottesrede“ (G. Steins). Sie tragen dialogischen Charakter und verweisen auf die dramatische Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Situation des Leidens. Die biblische Klage bewahrt gleichermaßen die Gottheit Gottes, die Realität und Mächtigkeit des Leidens und die eigene Würde und Hoffnung als Glaubender. Sie widersteht der Versuchung zur Sublimierung, Negierung oder Umdeutung des Leidens. Die Klage ist in der Situation des Leids die einzige Möglichkeit, an Gott festzuhalten, in der Gottesbeziehung zu verbleiben, sie gar zu intensivieren. Die Texte der Klage trauen Gott zu, die Situation zu wenden. Die Erinnerung der Heilstaten Gottes am Beter oder an seinem Volk (Memoria) wird zur Hoffnung (Expectatio) auf Erhörung und Erlösung, auf Befreiung in veränderter Zeit. Biblische Klage entwickelt so ein aktualisierendes und eschatologisches Potenzial, insofern sie auf Gegenwart und Zukunft verweist, die heilvoll von Gott her erwartet werden. Der Gefahr der Banalisierung der Klage kann nur durch Hinweis auf die existentielle Situation des von abgrundtiefem Leid Betroffenen begegnet werden. Insofern stellt biblische Klage eine Form der Gottesrede an den Grenzen der Sprache dar. Die Klage – in radikalisierter Form die biblische Anklage Gottes (z.B. Ps 44
In der jüdischen Theologie nach Auschwitz gewinnt die radikalisierte Klage (Anklage Gottes) in der Relecture der biblischen Klagetexte als Frage nach seinem Willen und seiner Macht wie nach der Erwählung des Volkes angesichts des Genozids eine eigene theologische Brisanz und Wertigkeit.
Literaturverzeichnis
- Ebner, M. / Fuchs, O. / Janowski, B. u.a. (Hgg.), Klage (JBTh 16), 2001.
- Fuchs, G. (Hg.), Angesichts des Leids an Gott glauben? Zur Theologie der Klage, Frankfurt am Main 1996.
- Fuchs, O., Klage. Eine vergessene Gebetsform, in: H. Becker u.a. (Hgg.), Im Angesicht des Todes, St. Ottilien 1987, 939-1024.
- Gunkel, H. / Begrich J., Einleitung in die Psalmen 1933, 4. Aufl. 1985.
- Harasta, E. (Hg.), Mit Gott klagen. Eine theologische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2008.
- Janowski, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie de Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003.
- Schmidt, J., Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens (RPT 58), Tübingen 2011.
- Schönemann, H., Der untreue Gott und sein treues Volk. Anklage Gottes angesichts unschuldigen Leidens nach Psalm 44, Göttingen 2009.
- Steins, G. (Hg.), Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000.
- Westermann, C., Die Rolle der Klage in der Theologie des Alten Testaments, in: ders., Forschungen am AT II, München 1974, 250-268.
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