Sinai
(erstellt: September 2018)
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„Sinai“, „Horeb“, „Gottesberg“ und „Berg Jhwhs“ sind Ausdruckweisen, mit denen auf jenen Ort Bezug genommen wird, an dem sich nach der Darstellung des Pentateuch die Gesetzgebung des Volkes Israel ereignet hat.
1. Die Bezeichnungen und Namen
1. Der Ausdruck „Gottesberg“ (הַר הָאֱלֹהִים har hā-’älohîm) in seiner Funktion als Verweis auf den Ort der Gesetzgebung kommt im Alten Testament fünfmal vor: Ex 3,1
2. Der Ausdruck „Berg Jhwhs“ (הַר יְהוָה har jhwh) in seiner Funktion als Verweis auf den Ort der Gesetzgebung kommt im Alten Testament nur einmal vor, und zwar in Num 10,33
3. Der Name „Sinai“ (סִינַי sînaj) kommt im Alten Testament 35-mal vor, davon 5-mal nur „Sinai“ (Ex 16,1
4. Der Ausdruck „Horeb“ (חֹרֵב ḥorev) kommt im Alten Testament 17-mal vor, aber nur einmal davon (Ex 33,6
2. Die Literargeschichte der Bezeichnungen und Namen
2.1. Die Erzählungen und Gesetze des Pentateuch
Die terminologischen Varianten in der Bezugnahme auf den Ort der Gesetzgebung werden in der historisch-kritischen Forschung seit langem mit der Entstehungsgeschichte des → Pentateuch
Ex 19,2
Hier wird zunächst die Wüste mit dem Namen „Sinai“ eingeführt. Der Text fährt in Ex 19,12
Die notorischen Probleme der Urkundenhypothese veranlassten Lothar Perlitt 1967 zu einem neuen Vorschlag (s. Perlitt 1994): Danach haben die älteren Texte und Traditionen, ohne dass hier weiter differenziert werden könnte und müsste, die Ausdrücke „Gottesberg“ und „Sinai“ verwendet. Erst im Deuteronomium und in der deuteronomistischen Literatur (→ Deuteronomismus
Perlitts Vorschlag war insofern ein Fortschritt, als zum ersten Mal eine Erklärung für die Entstehung der terminologischen Vielfalt vorgelegt wurde. Weiter führte der Verzicht auf die Annahme einer elohistischen Quelle im Pentateuch zu mehr Klarheit in Bezug auf die Einordnung und Datierung der „Horeb“-Stellen: Diese sind frühestens deuteronomistisch. Aber die weitergehende, viele Zusatzannahmen erfordernde, Hypothese zum Verhältnis von „Sinai“ und „Horeb“ erwies sich als nicht haltbar. Zunächst ist fraglich, ob für Judäer des 1. Jahrtausends überhaupt eine Klangähnlichkeit bestand. Zur Frage der Lautungen bzw. Schreibungen s. Stol (1999) und Timm (2000, 283). Darüber hinaus ist ungewiss, ob eine Klangähnlichkeit, wenn sie denn vorlag, als anstößig empfunden wurde. Weiter muss aus heutiger Sicht überhaupt bezweifelt werden, dass es königszeitliche oder gar noch ältere Texte gibt, die den Namen „Sinai“ verwenden.
Was die Texte der pentateuchischen Gesetzgebung angeht, so sind alle Stellen, an denen der Name „Sinai“ vorkommt, priesterlicher oder sogar nachpriesterlicher Abkunft (Oswald, 1998, 80-89; Utzschneider / Oswald 2013, 118-119; Oswald 2014, 178-188). Für die Stellen in den Büchern Leviticus und Numeri – und diese machen die Hälfte der Belege aus – ist das ohnehin schon länger Konsens. Aber auch die Belege in der Sinaiperikope Ex 19-34 sind konzeptionell einheitlich, insofern die signifikanten „Sinai“-Abschnitte folgende Charakteristika aufweisen: (1) Der Berg ist Sperrgebiet für das Volk, (2) der Berg raucht, (3) Jhwh steigt herab auf die Spitze des Berges, (4) nur Mose und Aaron dürfen den Berg besteigen, (5) Mose fungiert durchgehend als Mittler zwischen Jhwh und Volk. Zu den Gründen für die priesterliche Innovation, s.u. 3.3.
2.2. Der Name „Sinai“ in poetischen Texten
Die überlieferungsgeschichtliche Forschung des 19. und 20. Jh.s war der Auffassung, dass den Erzählungen des Pentateuch eine alte Sinaitradition vorausliege, die in einer Gruppe von poetischen Texten noch greifbar sei, zu der das Deboralied Ri 5 (→ Debora
Alle diese Annahmen werden in der neueren europäischen Forschung überwiegend abgelehnt. Die Sprache dieser Textgruppe ist weder archaisches noch archaisierendes Hebräisch, sondern schlicht poetische Sprache mit kunstvollen Gestaltungselementen, wie sie etwa auch in jüngeren Psalmen (Ps 140; Ps 143) vorkommt. Auch traditionsgeschichtlich ist diese Textgruppe nicht alt, sondern setzt perserzeitliche Texte und Konzepte voraus. Die in Frage stehenden Texte selbst stammen mithin aus spätpersischer und hellenistischer Zeit. Vgl. zum Ganzen Loretz 1996, insb. 242-245; Pfeiffer 2005 sowie speziell zum Deboralied Waltisberg 1999. Zu den Texten im Einzelnen:
2.2.1. Das Deboralied Ri 5
Die relevante Passage Ri 5,4-5
4aα Jhwh, als du auszogst von Seïr, / als du einherschrittest vom Gebiet Edoms,
4aβb bebte die Erde, ja, es troff der Himmel, / ja, die Wolken troffen von Wasser.
5 Die Berge zerflossen vor Jhwh / zæh sînaj / vor Jhwh, dem Gott Israels.
Die Fügung זֶה סִינַי zæh sînaj wird (a) mit „dies ist (der) Sinai“ wiedergegeben oder (b) mit „der des / vom Sinai“. Variante (a) entspricht dem Standardhebräischen, Variante (b) nimmt an, dass hier zæh in Analogie zu den Texten aus Ugarit eine genitivische Funktion habe. Die Vorstellung, dass ein derart insuläres sprachliches Element vom Protokanaanäischen ins Hebräische eingewandert sei, konnte im Paradigma des „Archaischen Hebräisch“ noch halbwegs wahrscheinlich gemacht werden. Geht man aber – in der Sache sicher zutreffend – davon aus, dass das Deboralied in seinem Kern aus dem späten 10. oder frühen 9. Jh. stammt, wird diese Annahme schon schwieriger. Knauf (2005) und Groß (2009, 308-309) halten trotzdem an der Ableitung aus Ugarit fest. Hinzu kommt, dass die meist gewählte Übersetzung „der vom Sinai“ (so etwa Groß 2009, 291) die hebräische Fügung gar nicht genetivisch übersetzt, sondern ablativisch, was der eigenen Hypothese durchaus nicht entspricht. Weiter hat Holmstedt (2014) gezeigt, dass es die behauptete Genitivfunktion der nordwestsemitischen Pendants zum hebräischen zæh gar nicht gibt. Wie die ablativische Aussage „Jhwh von/m“ + nomen loci im Hebräischen ausgedrückt wird, zeigt etwa Ps 135,21
Die Übersetzungsvariante (b) ist mithin vom philologischen Standpunkt aus unhaltbar, hinzu kommen noch literarische Argumente. Der Passus Ri 5,5
2.2.2. Psalm 68
Die relevante Passage lautet:
8 Gott, als du auszogst vor deinem Volk, / als du einherschrittest durch die Wüste, //
9 bebte die Erde, auch troff der Himmel vor Gott, / zæh sînaj / vor Gott, dem Gott Israels.
Ps 68,8-9
2.2.3. Der Mosesegen Dtn 33
Der Mosesegen Dtn 33,6-25
2aα Jhwh ist aus Sinai gekommen / und ist ihnen aufgeleuchtet von Seïr.
2aβ Er ist hervorgestrahlt vom Berg Paran / und ist gekommen aus Meribat-Kadesch.
In Dtn 33,2
2.3. Zusammenfassung
Eine kurz gefasste Literargeschichte der Bezeichnungen des Ortes der Gesetzgebung beginnt mit der Feststellung, dass es Traditionen über einen außerhalb des Landes liegenden Berg der Gottesbegegnung, die den Pentateuchkompositionen vorausgegangen wäre, nicht gegeben hat. Die ältesten Texte im Pentateuch – und das ist vor allem die vorpriesterliche und vordeuteronomistische Erzählung im Buch Exodus – kennen nur die Bezeichnung „Gottesberg“ oder „Berg“. Das Deuteronomium und die deuteronomistischen Texte des Pentateuch verwenden weiterhin die allgemeine Bezeichnung „Berg“ und führen zusätzlich die Ortsbestimmung בְּחֹרֵב bɘḥorev „in der Einöde“ ein. Der Name „Sinai“ zur Bezeichnung des Ortes der Gesetzgebung ist schließlich die Innovation der priesterlichen Komposition. Daran schließen Ri 5,5
3. Die Lokalisierungen des Gottesberges, der Einöde und des Sinai
3.1. Die Forschung des 19. und 20. Jh.s und ihre Probleme
Die Ermittlung der Lage des Ortes der Gesetzgebung wurde zumeist als Aufgabe der historischen Geographie verstanden. Nun sind aber alle Überlieferungen, die den Gottesberg bzw. den Berg Sinai an einer bestimmten Stelle verorten – etwa im Süden der heute „Sinai“ genannten Halbinsel – sehr späten Datums (s.u. 3.3. und 5.). Ohne sichere geographische Anhaltspunkte kann das Problem nur so gelöst werden, dass man primär nach der Ortsvorstellung der jeweiligen Texte fragt und nur sekundär die Möglichkeit einer geographischen Lokalisierung erkundet.
Die ältere Forschung verfuhr jedoch genau umgekehrt, indem sie von einem tatsächlich existierenden Ort, der in der Frühgeschichte Israels eine gewisse Rolle gespielt haben soll, ausging und sekundär diesen Ort mit Hilfe der Texte lokalisieren wollte. Nach → Wellhausen
Das Problem an den klassisch zu nennenden Auffassungen von Wellhausen und Noth ist zum einen der postulierte Wallfahrtscharakter des Berges. Für eine solche → Wallfahrt
3.2. Die Ortsvorstellung der vordeuteronomistischen und der deuteronomistischen Texte
Die Unbestimmtheit der Lage des Gottesberges in Ex 3-4 sowie in Ex 18 und in der Grundschicht von Ex 19-24 ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt recht deutliche Anspielungen auf den einen, allseits bekannten und anerkannten Gottesberg Israels bzw. Judas, den Tempelberg in Jerusalem, den Zion. Auf diesem Berg begegnet Israel seinem Gott, traditionellerweise jedoch im Tempel, von dem aber in den vorpriesterlichen Pentateuchtexten nicht die Rede ist. Statt eines Tempels gibt es auf dem Gottesberg nach Ex 3,2-4
Die von den Deuteronomisten eingeführte Bezeichnung „Horeb“ = „Einöde“ greift diese Vorstellung auf und verstärkt sie noch. Die verwandten Wörter חָרְבָּה ḥårbāh „Trümmerstätte“, חֹרֶב ḥoræv „Einöde“ werden fast ausschließlich zur Bezeichnung des zerstörten Landes Juda, der zerstörten Stadt Jerusalem (Jes 44,26
3.3. Die Ortsvorstellung der priesterlichen Texte
Die priesterlichen Texte (→ Priesterschrift
Insofern verweist der priesterliche Gottesberg nicht auf eine zerstörte, sondern auf eine (wieder) intakte Kultstätte. Alles andere würde für die priesterlichen Trägerkreise dieser Texte auch keinen Sinn machen. Gleichzeitig wird jedoch die Identifizierung des Gottesberges mit dem Jerusalemer Tempelberg aufgehoben. Denn es ist die priesterliche Komposition, die die vielen Etappen in die Erzählung einbringt (Ex 16,1a
Diese Gola-orientierte Konzeption der priesterlichen Texte machte die Verlegung des Gottesberges nach außerhalb des Landes notwendig. Man kann annehmen, dass die priesterlichen Autoren der mittleren und späten Perserzeit mit dem Namen „Sinai“ eine Örtlichkeit südlich von Juda bzw. Palästina verbunden haben. Nach Gese (1990, 49-56) deuten die pentateuchischen Ortsangaben, sofern sie überhaupt geographisch auswertbar sind, auf das Gebiet östlich des Golfes von Akaba im Nordwesten des heutigen Saudi-Arabien.
4. Zwei hermeneutische Nachgedanken
1. Die in den weit verbreiteten Bibelatlanten stets vorgenommene geographische Lokalisierung des Gottesberges bzw. des Sinai ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Der Gottesberg wird in den vorpriesterlichen Texten einerseits bewusst unscharf lokalisiert, aber andrerseits mit dem Jerusalemer Tempelberg assoziiert. Der Sinai der priesterlichen und nachpriesterlichen Texte ist demgegenüber „irgendwo im Süden“ gedacht. Kartographisch abbildbar ist keine dieser „Lokalisierungen“.
2. In der Frage nach der religionsgeschichtlichen Herkunft Jhwhs, des Gottes Israels, die oft mit der Sinaifrage verknüpft wird, ist mit den obigen Ausführungen nichts entschieden. Es ist nur so, dass die Gottesberg-, Horeb- und Sinai-Belegstellen dazu nichts beitragen können. Zu dieser komplexen Thematik vgl. van Oorschot / Witte 2017.
5. Zur Rezeptionsgeschichte
Im Neuen Testament kommt nur der Name „Sinai“ vor. Im heilsgeschichtlichen Summarium der Rede des Stephanus (Apg 7,2-53
Die Verlagerung der Lokalisierung des Sinai von der Region östlich des Golfes von Akaba in die Region westlich davon, also auf die heute so genannte Halbinsel, beginnt erst im 3. Jahrhundert n. Chr., nachdem die römische Herrschaft über die Region östlich des Golfes von Akaba geendet hatte (Gese 1990, 62). Die frühesten Belege, die man auf den Berg im Süden der Halbinsel Sinai beziehen kann, sprechen von einer Ansiedlung von Mönchen im 4. Jahrhundert n. Chr. (Timm 2000, 284). Das Katharinenkloster am Fuße des heute „Dschebel Musa“ genannten Berges wurde im 6. Jahrhundert n. Chr. gegründet.
Literaturverzeichnis
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