Preisgabeerzählungen
(erstellt: April 2009)
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Als „Preisgabeerzählungen“ bezeichnet man drei Erzählungen der → Genesis
1. Die drei Preisgabeerzählungen
Das Verhältnis der drei Preisgabeerzählungen zueinander wird kontrovers diskutiert. Aufgrund vielfältiger Parallelen, die teilweise bis in den Wortgebrauch hinein reichen, scheint es geboten, von einer Abhängigkeit zwischen den drei Fassungen auszugehen (vgl. u.a. Fischer, 190ff.). Dabei lassen sich grundsätzlich folgende Erklärungsmodelle unterscheiden:
1. Alle drei Erzählungen gehen je für sich auf eine gemeinsame mündliche Vorstufe zurück, so dass sich die Gemeinsamkeiten überlieferungsgeschichtlich erklären lassen.
2. Die drei Texte sind literarisch voneinander abhängig.
3. Denkbar sind auch Mischformen aus 1. und 2., dergestalt, dass von zwei ursprünglich selbständigen Erzählungen auszugehen ist, und die dritte von mindestens einer dieser beiden literarisch abhängig ist. Oder aber alle drei sind sowohl von vorliterarischem Erzählstoff beeinflusst als auch untereinander literarisch abhängig.
Zu dieser Frage nach der Verhältnisbestimmung der drei Fassungen tritt die Frage nach ihrem Alter bzw. der Reihenfolge ihrer Entstehung. Im Rahmen der forschungsgeschichtlich bedeutsamen neueren Urkundenhypothese, die den Pentateuch auf ursprünglich selbstständige Quellenschriften zurückführt (→ Pentateuchforschung
Geht man von einer literarischen Abhängigkeit aus, so werden folgende Hypothesen vertreten: Da die Version von Gen 20
1. Als Argumente für die Priorität von Gen 12
Vgl. Gunkel (225f): „Der Hauptunterschied der drei Erzählungen besteht darin, daß 12 unbefangen Dinge erzählt, die dem späteren Empfinden höchst anstößig erscheinen mussten, während 20 und noch mehr 26 sich bemühen, dies Bedenkliche fortzuschaffen.“ […] „12 ist eine alte Sage im knappen, schönen Stil der alten Zeit; 20 zeigt den späteren Stil, der weitausgeführte Reden liebt, und es gar versteht, raffiniert ‚nachholend’ zu erzählen; 26 ist ästhetisch geringwertig: durch die Verschiebung der Motive und Situationen ist die Sage hier in zwei Erzählungen auseinandergefallen; sie hat, da die Gefahr der Ahnfrau nur noch eine hypothetische ist, die ‚Verwickelung’ verloren und aufgehört eine eigentliche ‚Geschichte’ zu sein.“
2. Wird die Priorität hingegen Gen 26,1-11
Vgl. Wellhausen (317, Anm. 1): „Die Erzählungen über Abraham und über Isaak sind sich so ähnlich, daß an gegenseitige Unabhängigkeit nicht zu denken ist; die über Isaak aber sind ursprünglicher, wie das besonders schlagend aus einem Vergleich von Gen. 20,2-16 mit 26,6-12 sich ergibt: die kurze und profane Version, worin Isaak der Held ist, ist die lebendigere und motivirtere, die lange und erbauliche, wo Abraham an seine Stelle tritt, steigert die mögliche Gefahr zur wirklichen, macht dadurch das Eingreifen der Gottheit notwendig […]“.
Wie immer man sich in dieser Frage entscheiden mag, in jedem Fall lohnt sich aufgrund der unübersehbaren motivlichen Parallelen und der dennoch vorhandenen spezifischen Unterschiede bei der Beschäftigung mit einer der drei Fassungen immer ein Vergleich mit den beiden Parallelüberlieferungen.
2. Die einzelnen Fassungen
2.1. Gen 12,10-20
Der Abschnitt Gen 12,10-20
Neben der „Theologisierung“ durch das geschilderte Eingreifen Jhwhs sind in Gen 12
Die Anklänge an die Exoduserzählung werden u.a. durch folgende sprachliche und motivliche Gemeinsamkeiten hervorgerufen (vgl. Schmid, 64f; Blum, 309): Der Hauptakteur neben dem Erzelternpaar ist der ägyptische Pharao, der mit Plagen geschlagen wird. In Gen 12,20
Während Gunkel (173) die Parallelität zur Exoduserzählung zwar nicht bestreitet, einen direkten Zusammenhang jedoch ausschließt (vgl. auch Westermann, 193), kann der Abschnitt auch als bewusste Vorwegnahme des Exodus des nachmaligen Gottesvolkes durch Abraham und die Seinen gelesen werden (als „Exodusprolepse“; vgl. Gese, 35). Die Parallelen sprechen dafür, dass in Gen 12,10-20
Auffällig ist die kompositionelle Position von Gen 12,10-20
Was die moralische Beurteilung von Abrahams Handeln in Gen 12,10-20
2.2. Gen 20,1-18
In Gen 20,1-18
Mit → Abimelech
Im Vergleich mit den Parallelüberlieferungen ergeben sich folgende Besonderheiten: In Gen 20,1
Singulär ist in Gen 20,12
Andererseits unterscheiden sich die Fassungen von Gen 12
Mit der Charakterisierung Abrahams als Prophet und Fürbitter (Gen 20,7
Insgesamt wird in Gen 20
Indem hier die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz ohne Aufgabe der eigenen Identität vor Augen geführt wird, verdeutlicht diese Episode, wie Israel in der Diasporaexistenz leben kann (vgl. Köckert, der den Text deshalb frühestens in spätpersischer Zeit verortet; für eine nachexilische Datierung vgl. auch Blum, 415f.).
2.3. Gen 26,1-11*
Gen 26,1-11
Die Akteure sind Isaak, Rebekka und der als Philisterkönig vorgestellte Abimelech. Als Grund für Isaaks Aufbruch nach Gerar wird eine Hungersnot angegeben, die zu der in Gen 12,10
Anders als in den Parallelüberlieferungen ist die Gefahr für die Ahnfrau hier keine reelle, sondern nur eine potentielle, und die hypothetische Schuld betrifft nicht den Herrscher selbst, sondern das ganze Volk. Im Vergleich mit den parallelen Versionen fällt außerdem auf, dass die Erzählung gänzlich ohne göttliches Eingreifen auskommt, wenn man von Gen 26,2
3. Außerbiblische Rezeption
3.1. Jubiläenbuch
Die Episode von der Gefährdung Saras, die im → Jubiläenbuch
Weder wird im Jubiläenbuch von der Gefährdung Saras in Gerar nach Gen 20
3.2. Genesisapokryphon
Die Preisgabeerzählung im → Genesisapokryphon
Eine weitere Ergänzung gegenüber der Genesis ist ein ausführliches Lob auf die Schönheit Saras, mit dem die knappe Bemerkung aus Gen 12,11
Der Charakter der Erzählung ist emotionaler, und Gott kommt in dem Geschehen eine größere Rolle zu als in Gen 12
Insgesamt wird deutlich, dass in dieser Variante der Ahnfrau-Erzählung Details aus Gen 12 und 20 vermischt werden, der Verfasser also offensichtlich beide Varianten vor Augen hatte (so auch Fischer, 248; Oßwald, 23). Man kann vermuten, dass er die Doppelung vermeiden und beide Erzählungen als eine Episode verstanden wissen wollte.
3.3. Pseudo-Eupolemos
Im Werk dieses Schriftstellers, das uns in einem Zitat Alexander Polyhistors bei → Euseb
3.4. Philos „De Abrahamo“
In der Preisgabeerzählung bei → Philo
3.5. Josephus
In den Antiquitates nimmt → Josephus
Auch bei Josephus findet sich die bereits in anderen Schriften beobachtete Tendenz, Abraham in der Preisgabeerzählung moralisch zu entlasten. Dies wird zum einen dadurch erreicht, dass Sara als Nichte Abrahams eingeführt wird (Antiquitates 1,151.154), was Abrahams Notlüge abschwächt. Zum anderen verweist Josephus in der ersten Preisgabeerzählung explizit auf den bekannten „Hang der Ägypter zu Ausschweifungen“ (Antiquitates 1,162), durch den sich Abraham schließlich veranlasst sieht, sich als Saras Bruder auszugeben. Die Befürchtungen Abrahams bewahrheiten sich, als sich der Ruf von Saras Schönheit im ganzen Land verbreitet (vgl. Genesisapokryphon). Auch in der Darstellung des Josephus verhindert Gott den Beischlaf des Pharaos mit Sara, und als der Pharao die Wahrheit erfährt, entschuldigt er sich bei Abraham und entschädigt ihn mit reichen Geschenken (vgl. Gen 20
Die zweite Preisgabeerzählung bei Josephus bezieht sich explizit auf die erste zurück, und auch hier verhindert Gott den Beischlaf mit Sara, indem er Abimelech mit einer Krankheit schlägt. Statt des nachholenden Stils von Gen 20
3.6. Jüdische Kommentarliteratur
In der rabbinischen Literatur gilt die Gefährdung der Ahnfrau als eine der zehn Prüfungen Abrahams (vgl. Oberhänsli-Widmer, 277ff). Im Midrasch Bereschit Rabba werden alle drei biblischen Versionen der Preisgabeerzählung in unterschiedlicher Ausführlichkeit kommentiert (vgl. Fischer, 249ff). Wenn auch kritische Töne nicht gänzlich fehlen (vgl. Oberhänsli-Widmer, 285), so wird generell in der jüdischen Kommentarliteratur doch die Tendenz noch weiter fortgeführt, Abraham zu entlasten, indem zum Beispiel erzählt wird, dass er versucht habe, die Schönheit Saras vor den Ägyptern zu verbergen und sie in einer Kiste über die Grenze zu schmuggeln (vgl. z.B. Bereschit Rabba 40,4f; Midrasch Tanchuma B, Lekh-Lekha [„Zieh aus!“] §4).
Literaturverzeichnis
- Blum, E., 1984, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn
- Fischer, I., 1994, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12-36 (BZAW 222), Berlin / New York
- Gese, H., 1991, Die Komposition der Abrahamserzählung, in: ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen, 29-51
- Graupner, A., 2002, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn
- Gunkel, H., 1977, Genesis (HKAT I/1), Göttingen, 9. Aufl.
- Holzinger, H., 1898, Genesis (KHC 1), Tübingen
- Kilian, R., 1966, Die vorpriesterlichen Abrahamsüberlieferungen, literarkritisch und traditionsgeschichtlich untersucht (BBB 24), Bonn
- Köckert, M., 2006, Abraham: Ahnvater, Fremdling, Weiser. Lesarten der Bibel in Gen 12, Gen 20 und Qumran, in: S. Martus / A. Polaschegg (Hgg.), Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N.F.13), Bern, 139-169
- Levin, Chr., 1993, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen
- Noth, M., 1948, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart (unveränderter Nachdruck, Darmstadt 3. Aufl. 1966)
- Oberhänsli-Widmer, G., 1998, Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur. Gleichnisse und Bilder zu Adam, Noah und Abraham im Midrasch Bereschit-Rabba, Judaica et Christiana 17, Bern u.a.
- Oßwald, E., 1960, Beobachtungen zur Erzählung von Abrahams Aufenthalt in Ägypten im „Genesis-Apokryphon“, ZAW 72, 7-25
- Rad, G.v., 1976, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen, 10. Aufl.
- Schmid, K., 1999, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments (WMANT 81), Neukirchen-Vluyn
- Seters, J. van, 1975, Abraham in History and Tradition, New Haven / London
- Weimar, P., 1977, Untersuchungen zur Redaktionsgeschichte des Pentateuch, Berlin
- Wellhausen, J., 2001, Prolegomena zur Geschichte Israels. Mit einem Stellenregister, Berlin / New York (Nachdr. der 6. Ausg. von 1927)
- Westermann, C., 1981, Genesis. 2. Teilband: Genesis 12-36 (BK I/2), Neukirchen-Vluyn
- Zimmerli, W., 1976, 1. Mose 12-25: Abraham (ZBK.AT 1.2), Zürich
Abbildungsverzeichnis
- Abraham und Sara bei Abimelech (Wandteppich Freiburger Münster; 17. Jh.).
- Abimelech beobachtet Isaak und Rebeka (Raffael; Fresco im Vatikan; 1518-19).
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