Deutsche Bibelgesellschaft

Rezeptionsästhetik (AT)

(erstellt: September 2007)

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1. Grundlagen der Rezeptionsästhetik

Die Rezeptionsästhetik geht davon aus, dass Leserinnen und Leser (Rezipentinnen und Rezipienten) beim Erzeugen eines Textsinns eine aktive Rolle spielen.

1.1. Die Loslösung der Texte aus der Entstehungssituation

In Abgrenzung von der Produktionsästhetik sucht die Rezeptionsästhetik den Sinn eines Textes nicht in der Erhellung seiner Entstehungsbedingungen oder der Autorintention. Die Frage nach der intentio auctoris verliert deshalb ihre Relevanz, weil bei der Lektüre schriftlicher Texte die Autor/inn/en physisch abwesend sind und nicht mehr den Sinn oder die Bedeutung der Texte determinieren. Mit dieser Loslösung der schriftlichen Artefakte von den Autor/inn/en werden die Texte frei, in verschiedenen Situationen neue Bedeutungen zu gewinnen, die nicht mehr auf die Verfasserintention zu reduzieren sind.

1.2. Die Vieldeutigkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Texte

Nach Auffassung der Rezeptionsästhetik sind literarische Texte auch in dem Sinne offene Kunstwerke (vgl. Eco 1962), dass sie stets einer Leserin oder eines Lesers bedürfen, um aktualisiert zu werden. Im Grunde werden die materialen Artefakte erst im Akt des Lesens zu Texten, und deshalb sind literarische Texte nicht strukturalistisch-ontologisch, sondern nur im Spiegel ihrer Rezeption beschreibbar. Weil literarische Texte zeitlich linear angelegt sind wie ein Film oder eine zu entrollende Schriftrolle, wollen Texte nicht synchron aus der Vogelperspektive des Interpreten, sondern diachron in der zeitlichen Performanz des Leseprozesses betrachtet werden.

Weil Texte erst in den unterschiedlichen Lektüreprozessen eine Bedeutung erhalten, sind literarische Texte vielfältig deutbar und haben stets mehr als einen ‚richtigen‘ Sinn. Diese wesensmäßige Polyvalenz kann eine pluralisierende Lektüre von kanonischen Texten nutzen, um auch in veränderten Rezeptionskontexten immer wieder die Relevanz der unveränderlichen Texte herauszuarbeiten.

1.3. Die zentrale Stellung der Rezipient/inn/en

Durch den Abschied vom empirischen Autor und das Herausstellen der Interpretationsbedürftigkeit von Texten rückt die Rezeptionsästhetik den lange Zeit vernachlässigten ‚dritten Stand‘ der Leser/innen auf neue Weise in den Mittelpunkt. Sinn oder Kohärenz sind fortan nicht mehr Eigenschaften des Textes, sondern werden allein von den Rezipient/inn/en produziert. Darin wird die Nähe der Rezeptionsästhetik zum Konstruktivismus deutlich. Die Rezeptionsästhetik befasst sich vor allem mit den im Text angelegten Lesermodellen bzw. mit den empirischen Leser/inn/en.

1.4. Das rezeptionsästhetische Modell

Rezeptionsaesthetik 1

In ein Modell gefasst stellen sich die Größen Autor/in, Text und Rezipient/inn/en innerhalb der Rezeptionsästhetik wie folgt dar: Ausgegangen wird von den empirischen Leser/inne/n, die sich stets in Interpretationsgemeinschaften befinden und deren Rezeption durch sozio-kulturelle Bedingtheiten, durch bestimmte Einstellungen, Erwartungen und Kompetenzen bestimmt ist. Da die realen Autor/inn/en bei der Lektüre nicht anwesend sind und die Sinnkonstitution durch die Leser/innen nicht mehr kontrollieren, wird der empirische Autor bzw. die empirische Autorin als Schatten dargestellt. Jene Größe, der die Rezipient/inn/en z.B. die Überschriften und andere Beitexte zuschreiben, wird in der Rezeptionsästhetik „implizite/r Autor/in“ oder „Modell-Autor“ genannt. Er oder sie kann im Text Erzähler/innen sprechen lassen, die ggf. Erzählfiguren auftreten lassen. In diesem Bereich ist die erzähltechnische Analyse von Prosa-Texten zu verorten. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Modell die „implizite Leserin“ bzw. der „Modell-Leser“ als jene im Text angebotene Lese-Rolle, welche die empirischen Leser/innen einnehmen können.

1.5. Rezeptionsästhetik, Wirkungsästhetik und Rezeptionsgeschichte

Die verschiedenen Rezeptionstheorien im deutschsprachigen und anglophonen Bereich unterscheiden sich vor allem in zwei Punkten: Zum einen legen sie entweder einen stärkeren Schwerpunkt auf den Text und seine Wirkung (Wirkungsästhetik, vgl. Wolfgang Iser) oder auf die Rezeption durch die Leser/innen (Rezeptionsästhetik im engeren Sinne, vgl. z.B. Stanley Fish). Zum anderen konzentrieren sich manche Konzepte stärker als andere auf die historische Abfolge von Rezeptionen, auf die Rezeptionsgeschichte (vgl. Hans Robert Jauß).

2. Rezeptionstheorien in Deutschland

In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft wurden rezeptionsorientierte Theorien ab Ende der 60er-Jahre des letzten Jh.s als Gegenreaktion auf die Einfühlungs-Hermeneutik, die werkimmanente Interpretation und den historischen Objektivismus entwickelt. Ein weltweites Echo hat die in der „Konstanzer Schule“ (Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Karlheinz Stierle, Rainer Warning) entwickelte Rezeptionstheorie ausgelöst, wobei das wirkungsästhetische Konzept von Iser und das rezeptionsgeschichtliche Modell von Jauß am meisten Beachtung fanden.

2.1. Rezeptionsgeschichte bei Hans Robert Jauß

Hans Robert Jauß plädiert 1967 dafür, die „vorgängige Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser“ (Jauß 1967, 171) in den Mittelpunkt einer neuen Geschichte der Literatur zu stellen. Damit will er „die Vorurteile des historischen Objektivismus“ abbauen und „die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik“ (Jauß 1967, 171) fundieren.

In Weiterführung der wirkungsgeschichtlichen Fragestellung Hans Georg Gadamers (→ Wirkungsgeschichte) entwickelt Jauß das Programm einer Rezeptionsgeschichte als die „sukzessive Entwicklung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehenden Urteil erschließt, sofern es die ‚Verschmelzung der Horizonte‘ in der Begegnung mit der Überlieferung kontrolliert vollzieht“ (Jauß 1967, 186).

Das Ziel dieses Programms ist es, „nicht allein, Sinn und Form des literarischen Werks in der geschichtlichen Entfaltung seines Verständnisses zu begreifen“ (Jauß 1967, 189), sondern „das einzelne Werk in seine ‚literarische Reihe‘ einzurücken, um seine geschichtliche Stelle und Bedeutung im Erfahrungszusammenhang der Literatur zu erkennen“ (Jauß 1967, 189).

Jedes Werk steht in einer Reihe von Werken und Erwartungen, jede Erwartung in einer Reihe von Erwartungen und Werken. Deswegen ist es notwendig, in einer Rezeptionsgeschichte jedes Werk und jede Lesereaktion in Beziehung zu den verschiedenen Erwartungshorizonten zu setzen.

Dabei ist zum einen zu unterscheiden zwischen dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont der Entstehungssituation eines Werkes und dem innerliterarischen Erwartungshorizont, der als Erwartungen an die Leser im Werk selbst codiert ist. Je größer die Distanz zwischen diesen beiden Horizonten ist, desto deutlicher tritt der Kunstcharakter des Werkes hervor und desto größer ist die Chance, dass sich ein Horizontwandel ereignet (Jauß 1967, 175ff.). Zum anderen ist zwischen dem lebensweltlich-gesellschaftlichen Erwartungshorizont der Entstehungszeit und dem der Rezeptionssituation zu differenzieren, um die hermeneutische Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis eines Werkes zu bewahren. Durch die Vermittlung der vergangenen und der gegenwärtigen Bedeutung findet die Aktualisierung des Textes statt (Jauß 1967, 183ff.).

Jauß demonstriert seine rezeptionsgeschichtliche Methode, die oft als Ergänzung zu Gadamers amethodischer Theorie der → Wirkungsgeschichte betrachtet wurde, anhand von historischen Zeugnissen über Lesereaktionen.

Im Zuge seiner Forschungen arbeitet er verschiedene Muster der Identifikation des Lesers mit dem Helden heraus: Die assoziative Identifikation als spielerische Übernahme einer Rolle, die Selbst- und Fremderfahrung ermöglicht, die admirative Identifikation mit einem vollkommenen Helden, die sympathetische, einfühlende und sich solidarisierende Identifikation mit dem unvollkommenen, alltäglichen Helden, die kathartische, befreiende und entlastende Identifikation mit dem leidenden oder bedrängten Helden durch tragische Erschütterung oder Mitlachen und die ironische Identifikation mit dem Anti-Helden (Jauß 1972, bes. 46; Jauß 1977, 244-293).

2.2. Wirkungsästhetik bei Wolfgang Iser

Eine wichtige Stellung nehmen in der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers die Begriffe der „Unbestimmtheit“ (Iser 1970, 12 u.ö.) und der „Leerstellen“ (Iser 1970, 15 u.ö.) ein.

Unbestimmtheit ist zunächst ein besonderes Kennzeichen fiktionaler Texte. Sie entsteht dort, wo sich die literarischen Texte auf der einen Seite von der vorfindlichen Wirklichkeit abheben (sonst wären sie „banal“ [Iser 1970,12]) und sich auf der anderen Seite auf diese beziehen (sonst wären sie „phantastisch“, [Iser 1970, 12]). Diese Unbestimmtheit weckt die Aktivität des – bei Iser stets männlich bezeichneten – Lesers. Dieser kann die Unbestimmtheit abbauen, indem er z.B. den Text auf das Verifizierbare reduziert oder die Lektüre abbricht.

Unbestimmtheit entsteht sodann an allen Stellen, an denen „schematisierte Ansichten“ (Iser 1970, 14ff.) aneinanderstoßen, indem etwa durch Schnitttechniken unvermittelt neue Personen eingeführt werden oder ein neuer Handlungsstrang beginnt, „so daß sich die Frage nach den Beziehungen zwischen der bisher vertrauten Geschichte und den neuen, unvorhersehbaren Situationen aufdrängt“ (Iser 1970, 18).

Die Unbestimmtheitsstellen, die eine Konkretisation verlangen, sind „das wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser“ (Iser 1970, 33). Denn der „Unbestimmtheitsbeitrag“ enthält ein „Beteiligungsangebot“ (Iser 1970, 16) an die Leser und eröffnet einen „Auslegungsspielraum“ (Iser 1970, 15). Dadurch gewinnen die Texte eine „Appellstruktur“ (Iser 1970), und ihre „Adaptierbarkeit“ (Iser 1970, 13 u.ö.) wird gewährleistet. Diese Unbestimmtheitsstellen kann Iser auch „Leerstellen“ (Iser 1970, 15 u.ö.) nennen, die der Leser durch Auffüllen beseitigt. An anderer Stelle beschreibt Iser die Leerstelle als das in Szenen und Dialogen Verschwiegene, als den „Spielraum der Suggestionen“. Dieses engere Verständnis von Leerstellen wird deutlich häufiger rezipiert als Isers differenzierte Ausführungen zum „Unbestimmtheitsbeitrag“ (Iser 1970, 11 u.ö.) und „Leerstellenbeitrag“ (Iser 1970, 16) von Texten.

Die Unbestimmtheit wird zur „Basis einer Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist“ (Iser 1970, 33). Diesen textimmanenten Leser, der durch die Unbestimmtheitsstellen des literarischen Kunstwerkes angelegt ist, nennt Iser den „impliziten Leser“ (Iser 1972), definiert als „den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens“ (Iser 1972, 9). Der implizite Leser ist durch die Rezeptionsvorgaben des Textes bestimmt, die von realen Lesern zwar unterschiedlich realisiert werden, aber zugleich intersubjektiv nachvollziehbar sind.

Hierdurch wird deutlich: Auch wenn Iser davon ausgeht, dass Bedeutungen erst im Lesevorgang generiert werden, dient ihm der implizite Leser letztlich als heuristisches Modell zur Beschreibung der Wirkungssignale des Textes. Damit entwickelt Iser letztlich keine Rezeptionstheorie, sondern eine Wirkungsästhetik.

Ähnliches kann von Umberto Ecos Theorie vom offenen Kunstwerk und seinem Entwurf eines „Modell-Lesers“ (Eco 1979 passim) gesagt werden.

3. Der reader-response-criticism im anglophonen Bereich

Im anglophonen Bereich wurden mit der Rezeptionsästhetik vergleichbare Konzepte unter den Bezeichnungen reader-response criticism, reception theory oder readeroriented criticism bekannt. Der vielleicht wichtigste Vertreter der englischsprachigen Rezeptionsästhetik ist Stanley Eugene Fish. Etwa zeitgleich mit dem Entstehen der „Konstanzer Schule“ entwickelt er 1970 in den USA sein Konzept einer „Affektiven Stilistik“. Diese besteht in der „Analyse der sich an den zeitlich aufeinanderfolgenden Wörtern entwickelnden Reaktionen des Lesers“ (Fish 1970, 200/213), die Frage „Was bedeutet dieser Satz?“ löst sich auf in die Frage „Was tut dieser Satz?“ (Fish 1970, 198). Damit ist der Text “kein Objekt mehr, kein Ding-an-sich, sondern ein Ereignis“ (Fish 1970, 202), und die Bedeutung ist nicht im Text verborgen, sondern entfaltet sich in der Wirkung auf den sprachlich und literarisch kompetenten und historisch verankerten Leser.

Befindet sich Fish mit der Affektiven Stilistik bereits am Rand einer textzentrierten Wirkungsästhetik, so vollzieht er einige Jahre nach dem Entwurf dieser Methode eine bemerkenswerte Akzentverschiebung hin zu einer leserzentrierten konstruktivistischen Rezeptionstheorie. „Die Reaktion des Lesers geschieht nicht auf die Bedeutung hin,“ so stellt er nun dar, sondern: „sie ist die Bedeutung“ (Fish 1980, 3). Der Text ist keine objektive statische Größe mehr und seinen formalen Strukturen kommt keine Realität mehr zu, weil diese nicht unabhängig von den Rezipient/inn/en existieren. Alles, was Ausleger/innen einem Text zuschreiben, ist in Wahrheit das Ergebnis der eigenen Interpretationen, und somit bedeutet einen Text zu lesen im Grunde, ihn neu zu schreiben. Dieser Ansatz ist gewürdigt worden als ein Weg, der „aus der Sackgasse der Subjektivismus-Objektivismus-Debatte“ (Erbele-Küster 2001, 31) herausführt.

Diejenigen, die eine Deutungs-Anarchie als Folge dieser Rezeptionstheorie befürchten, beruhigt Fish mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass Lesen nie solipsistisch, sondern stets gemeinschaftsbezogen ist, weil sich jeder Leser, jede Leserin in einer Interpretations-Gemeinschaft befindet. Diese Interpretations-Gemeinschaft bestimmt mit ihren Normen und Konventionen im hohen Maße die Lektüreweise ihrer Leser/innen.

4. Die Rezeptionsästhetik in der Theologie

4.1. Die Rezeptionsästhetik in der systematischen Theologie

Einen wichtigen Impuls für die Aufnahme der Rezeptionsästhetik in der systematischen und biblischen Theologie gab 1974 Paul Ricœur durch seinen Aufsatz „Philosophische und theologische Hermeneutik“. Hierin plädierte er dafür, nichtbiblische und besonders biblische Texte als einen „Entwurf von Welt“ (Ricœur 1974, 32) zu betrachten, der nicht „hinter“ dem Text in der Intention verborgen ist, sondern sich „vor dem Text [findet] als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt“ (Ricœur 1974, 33). Einen Text verstehen, heißt daher nicht: die „Sache des Textes“ verstehen, sondern sich selbst vor dem Text verstehen (Ricœur 1974, 33). Damit zwingt der Leser nicht dem Text die begrenzte Fähigkeit seines Verstehens auf, sondern gewinnt „ein erweitertes Selbst“ (Ricœur 1974, 33), bei der Lektüre der Bibel: das „neue Sein“ (Ricœur 1974, 41).

Von hier aus kann der „Ursprung der Theologie im Lesen“ gesehen werden (Huizing 1996), wobei der „inspirierte Leser“ (Körtner 1998) oder die inspirierte Leserin angesichts der biblischen Texte sich selbst verstehen lernt.

4.2. Die Rezeptionsästhetik in der Bibelwissenschaft

In der Bibelwissenschaft bot sich die Rezeptionsästhetik als Ergänzung insbesondere zur historisch-kritischen Auslegung an. Bereits 1984 nimmt Erhard Blum am Ende seiner Dissertation die These auf, dass „jeder Textsinn erst im ‚Gespräch‘ zwischen dem Text und dem Interpreten“ (Blum 1984, 506) entsteht. Seit den 90er-Jahren wurden rezeptionsorientierte Modelle zunächst auf neutestamentliche, dann auf alttestamentliche Texte angewendet: Auf das Johannes- (Thyen 1992) und das Matthäus-Evangelium (Mayordomo-Marín 1998), auf Gen 22 (Steins 1999), das Buch → Hiob (Köhlmoos 1999), auf die → Jakoberzählung der Genesis (Taschner 2000), auf die → Psalmen (Erbele-Küster 2001) oder auf die → Isaakerzählungen in Gen 12, Gen 20 und Gen 26 (Dieckmann 2003a).

5. Kritik und Weiterentwicklungen der Rezeptionsästhetik

Besonders im deutschsprachigen Bereich wird häufig die Sorge artikuliert, dass der rezeptionsästhetische Zugang zu biblischen Texten die interpretative Beliebigkeit und Willkür befördere und den ursprünglichen historischen Kontext der Texte vernachlässige. Dem halten Rezeptionsästheten entgegen, dass nur ein reflektierter Umgang mit der faktischen Vielfalt legitimer Interpretationen die Beliebigkeit der Auslegung verhindern kann und dem Verstehen des ursprünglichen historischen Kontextes deutliche Grenzen gesetzt sind, weil wir immer schon in der → Wirkungsgeschichte der Texte stehen, die wir verstehen wollen. Zudem wird darauf verwiesen, dass die Rezeptionsvorgaben der Interpretationsgemeinschaft einer willkürlichen Auslegung entgegenwirken (vgl. oben 3.1).

Von feministischer Seite wird kritisiert, dass das rezeptionsästhetische Lesermodell fast immer männlich konstruiert wird und eine Reflexion über die Leserin durchweg fehlt (Erbele-Küster 2001, 35).

Kaum rezipiert wurde in der Bibelwissenschaft bislang die deutliche Kritik der empirischen Literaturforschung an der Rezeptionsästhetik. Die empirische Literaturwissenschaft (Schmidt u.a.) weist darauf hin, dass Rezeptionsästheten ihre Erkenntnisse lediglich in intuitiven und introspektiven Verfahren gewinnen und ihre Ergebnisse nur an den subjektiven Kriterien der subjektiven Evidenz und Plausibilität messen. Trotz der dadurch bedingten geringen Aussagekraft ihrer Interpretationen generalisieren die Rezeptionsästheten ihre persönlichen Lese-Reaktionen, indem sie in wissenschaftlich unzulässiger Weise von sich auf ‚den‘ impliziten, intendierten, idealen oder Modell-Leser schließen. Insofern sei der „implizite Leser“ nichts weiter als ein alter ego der Interpreten. Diese Kritik hat die empirische Literaturwissenschaft veranlasst, durch qualitative oder quantitative Methoden die Leseprozesse realer Rezipient/inn/en zu untersuchen.

Neuerdings wird vorgeschlagen, eine Empirische Bibelforschung (Dieckmann 2003b) zu entwickeln, um rezeptionsästhetische Auslegungen mit Erkenntnissen über die Lektüre von „Normalleser/inne/n“ ins Gespräch zu bringen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Metzler Lexikon Literatur- und Kulturbegriffe, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2001 (darin auch Art. Rezeptionsforschung, empirische und Rezeptionsgeschichte)
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (darin Art. Wirkungsgeschichte / Rezeptionsgeschichte)

2. Weitere Literatur

  • Blum, E., 1984, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn
  • Dieckmann, D., 2003a, Segen für Isaak. Eine rezeptionsästhetische Auslegung von Gen 26 und Kotexten (BZAW 329), Berlin u.a.
  • Dieckmann, D., 2003b, Empirische Bibelforschung als Beitrag zur Wahrnehmungsästhetik. Am Beispiel von Gen 12,10-20, in: Grund, A. (Hg.), „Wie schön sind deine Zelte, Jakob!“ Beiträge zur Ästhetik des Alten Testaments (BThSt 60), Neukirchen-Vluyn, 13-42
  • Ebach, J., 1997, Die Bibel beginnt mit „b“. Vielfalt ohne Beliebigkeit, in: ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn, 85-114
  • Eco, U., 1962, Opera aperta (dt. Das offene Kunstwerk, übers. v. Günter Memmert, Frankfurt am Main 1973)
  • Eco, U., 1979, Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrativi (dt. Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. v. Heinz-Georg Held, München 1987)
  • Erbele-Küster, D., 2001, Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen (WMANT 87), Neukirchen-Vluyn
  • Fish, S.E., 1980, Is there a Text in this Class? The Authority of Interpretative Communities, Cambridge Mass.
  • Fish, S.E., 1970, Literature in the Reader. Affective Stylistics. In: New Literary History, 123-162 (zit. nach der gekürzten dt. Ausgabe in: Warning 1994, 196-227)
  • Gadamer, H.-G., 1960, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen
  • Grohmann, M., 2000, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn
  • Huizing, K., 1996, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie des Lesens, Berlin
  • Iser, W., 1970, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz
  • Iser, W., 1972, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München
  • Iser, W., 1976, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München
  • Jauß, H.R., 1967, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz
  • Jauß, H.R., 1972, Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz
  • Jauß, H.R., 1977, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main
  • Köhlmoos, M., 1999, Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch (FAT 26), Tübingen
  • Körtner, U.H.J., 1994, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen
  • Körtner, U.H.J., 2006, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt
  • Mayordomo-Marín, M., 1998, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen
  • Ricœur, P., 1974, Philosophische und theologische Hermeneutik. In: ders. / Jüngel, E. (Hgg.): Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München
  • Schmidt, S.J., 1975, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft. Zur Grundlegung einer rationalen Literaturwissenschaft, München
  • Steins, G., 1999, Die Bindung Isaaks im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre. Mit einer Spezialbibliographie zu Gen 22 (HBS 20), Freiburg u.a.
  • Taschner, J., 2000, Verheißung und Erfüllung in der Jakoberzählung (Gen 25,19-33,17). Eine Analyse des Spannungsbogens (HBS 27), Freiburg
  • Thyen, H., 1992, Rezension R.T. Fortna. The fourth Gospel and its Predecessor, ThLZ 117, 34-38
  • Utzschneider, H., 1993, Zur vierfachen Lektüre des Alten Testaments. Bibelrezeption als Erfahrung von Diskrepanz und Perspektive. In: Bartelmus, R. (Hg.): Konsequente Traditionsgeschichte (FS Klaus Baltzer; OBO 126), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 383-401
  • Warning, R., 1994, Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, 4. Aufl., München

Abbildungsverzeichnis

  • Graphik zum rezeptionsästhetischen Modell.

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