Hebräerbrief
Andere Schreibweise: Brief an die Hebräer; Epistle to the Hebrews; Letter to the Hebrews
(erstellt: März 2020)
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Hinführung
Der Hebräerbrief stellt innerhalb des Neuen Testaments einen sprachlich und thematisch einzigartigen, aber gewichtigen theologischen Entwurf dar. Mit seinem intensiven Bezug auf das alttestamentliche. Zeugnis führt er seinen Leserinnen und Lesern damals wie heute die Bedeutung Jesu Christi eindrücklich als heilsgeschichtliches Erfüllungsgeschehen vor Augen und drängt sie zugleich dazu, im Bekenntnis zu Jesus Christus nicht glaubensmüde zu werden.
Dabei stellen die Entstehungsumstände dieses Briefes die Wissenschaft jedoch bis heute vor ein Rätsel.
1. Ort, Zeit, Autor und Adressaten
Von wem der Hebräerbrief (Hebr) wann und wo verfasst und an wen er adressiert worden ist, kann nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden. Weder durch inner- noch außertextliche Hinweise lässt sich hier ein historisch zuverlässiges Urteil fällen.
1.1. Herkunfts- und Zielort
Einer der wenigen direkten Hinweise im Hebr selbst ist die Ortsangabe „es grüßen euch die aus Italien“ in Hebr 13,24
Es ist durchaus denkbar, dass Hebr an eine oder mehrere Hausgemeinden in Rom bzw. dessen Umland gerichtet gewesen ist. Die Verbindung zu Rom liegt durch die z.T. wörtliche Rezeption im 1. Klemensbrief nahe (1Klem 9,3f.; 1Klem 10,1-7; 1Klem 12,1; 1Klem 17,1.5; 1Klem 19,2; 1Klem 27,2; 1Klem 43,1; 1Klem 56,3f.; 1Klem 64,1), doch diese könnte ebenso gut mit Rom als Abfassungsort erklärt werden. Dass ein lokal eingrenzbares Gemeindenetzwerk Ziel gewesen sein dürfte, geht aus solchen Passagen hervor, die die Kenntnis um eine konkrete Gemeindesituation nahelegen (Hebr 5,12
1.2. Zeit
Allein die Rezeption des Hebr im 1. Klemensbrief mit dessen Abfassung um 95 n. Chr. setzt der Entstehungszeit des Hebr eine zeitliche Grenze. Jede weitere Eingrenzung zwischen ca. 40 bis 95 n. Chr. bleibt letztlich spekulativ.
Ob Hebr die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. noch vor sich hat oder schon hinter sich weiß, kann kaum einseitig plausibel beantwortet werden. Insofern führt diese Frage hinsichtlich der Datierung nicht weiter. Zielführendere Hinweise bieten hingegen solche Textstellen, in denen von Situationen des äußeren Drucks auf Seiten der Adressaten die Rede ist, seien es Anfechtung (Hebr 2,18
1.3. Autor
Die Autorenfrage des Hebr muss nach wie vor mit dem vielbemühten Zitat von Origines beantwortet werden: „Wer indes tatsächlich den Brief geschrieben hat, weiß Gott.“ (Eusebius, Historia Ecclesiastica, 6.25).
Aus dem Hebr selbst lässt sich folgendes über den Autor (aufgrund des maskulinen Partizips in Hebr 11,32
1.4. Adressaten
Die Diskussion um die religionsgeschichtliche Einordnung der Adressaten fragt klassischerweise danach, ob diese als Jesusnachfolger (Christen) mit einem jüdischen oder mit einem nicht-jüdischem Hintergrund anzusehen seien. Hier dürfte kaum ausschließlich zugunsten einer Seite entschieden werden. Das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden innerhalb der christlichen Gemeinschaft steht (anders als für Paulus) für Hebr an keiner Stelle zur Debatte. Gerade auch bei einer möglichen Lokalisation der Adressaten in oder um Rom ist eine Durchmischung für die zweite Hälfte des 1. Jh. wahrscheinlich und Hebr bietet selbst keine hinreichenden Signale, die zum Ausschluss einer Seite nötigen. Hier muss zudem bedacht werden, dass solche Kategorisierungen (Juden/Heiden) ohnehin für das erste und frühe zweite Jahrhundert angesichts der existierenden religiösen Komplexität zu einer historisch unzutreffenden Vereinheitlichung der damit bezeichneten Identitätsbestimmungen führen und zudem immer „nur“ eine Innenperspektive der jeweiligen Identität darstellen (vgl. Alkier / Leppin, 2018).
2. Literarische Einordnung und Struktur
So ungeklärt seine Entstehungsumstände sind, so sind es auch die literarische Strukturierung und Einordnung des Hebr. Es dürfte sich um ein Schreiben handeln, das in der öffentlichen Gemeindeversammlung verlesen werden will, weshalb die Bedingungen einer mündlichen Verlesung bei seiner Strukturierung stets mitbeachtet werden müssen. Herausfordernd für eine Gliederung sind gerade die ständigen Unterbrechungen der dogmatischen Abschnitte durch paränetische Einschübe (vgl. besonders Hebr 3,1-4,14
3. Textüberlieferung
Hebr ist – zumindest hinsichtlich seiner uns zugänglichen Überlieferung – von Beginn an mit dem paulinischen Schrifttum verbunden gewesen. Bereits P46 (um 200 n. Chr.) listet ihn unter den Paulusbriefen und auch die bis ins 4. Jh. zurückreichenden großen Kodizes (Sinaitikus א, Alexandrinus A etc.) enthalten den Text des Hebr nahezu komplett. Somit ist der Textumfang des Hebr schon relativ früh gut bezeugt.
Die Einheitlichkeit des Hebr wird in der gegenwärtigen Forschung kaum bestritten. Lediglich im Briefschluss in Hebr 13,22-25
4. Religionsgeschichtliche Einordnung
In der jüngeren Auslegung des Hebr lassen sich vier große Hauptlinien mit breiterer Rezeption feststellen: Dabei gehört (1) die Interpretation insbesondere des Motivs vom wandernden Gottesvolk im Hebr auf dem Hintergrund einer gnostischen Vorstellung von einer Seelenwanderung (z.B. Käsemann, 1939) mittlerweile zurecht der Vergangenheit an. Dagegen wurde (2) ein frühjüdisch-apokalyptisches Interpretationsmodell vorgetragen (z.B. Hofius, 1970), das den traditionsgeschichtlichen Bezug des Hebräerbriefes zum AT meist in linerar-zeitlichen Verhältnisbestimmungen wie „Verheißung“ und „Erfüllung“ und die Ausrichtung auf das zukünftige Eschaton betont. Daneben wird immer wieder (3) eine jüdisch-hellenistische (z.B. Backhaus, 2009) oder (4) mittelplatonische Einordnung (z.B. Eisele, 2003) des Hebr vorgetragen, bei denen die vertikalen Kategorien „himmlisch“ / “irdisch“ als maßgebend erkannt werden.
Mittlerweile etabliert sich jedoch zurecht auf breiter Linie die Einsicht, dass mit Hebr ein vielschichtiges Schriftstück vorliegt, das nicht monokausal und einseitig innerhalb einer geistesgeschichtlich vielfältigen Welt des 1. Jh. n. Chr. zu verorten, sondern als komplexes Gedankenwerk eines gebildeten und aufgeschlossenen Autors zu begreifen ist.
5. Theologie
5.1. Schriftverständnis / Worttheologie
Sein Umgang mit dem alttestamentlichen Schriftzeugnis hinsichtlich des Umfangs und der Art und Weise hebt Hebr unter den neutestamentlichen Schriften in eine hervorgehobene Stellung.
Hebr bezieht sich eindeutig auf den Text der Septuaginta, wobei die entsprechende Textform offenbleiben muss. Er folgt der Septuaginta auch dann, wenn diese offenkundig vom uns zugänglichen hebräischen Text abweicht. Einzelne Auslegungen im Hebr ergeben sich gerade erst aus solchen Abweichungen (vgl. z.B. die Wiedergabe von Hag 2,6
Zwar herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, dass Hebr die neutestamentliche Schrift mit den mit Abstand meisten alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen ist, jedoch bleibt eine genauere Schematisierung dieses Schriftgebrauchs umstritten. G. Guthrie (2007) unterscheidet mit Vorbehalt 37 Zitate, 40 Anspielungen, 19 Zusammenfassungen von alttestamentlichem Material und 13 Verweise auf einen alttestamentlichen Namen, ohne Bezug auf einen bestimmten Kontext.
Doch nicht nur die Anzahl der alttestamentlichen Zitate im Hebr ist gegenüber anderen neutestamentlichen Schriften bemerkenswert, sondern auch sein Umgang mit ihnen. Während alttestamentliche Zitate im Neuen Testament i. d. R. mit einer Formel wie „nach den Schriften“ (vgl. u.a. 1Kor 15,3-4
Dabei kann im Hebr innerhalb dieses Sprechens feinsinnig zwischen Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist unterschieden werden, wobei Gott den Sohn anspricht (Hebr 1,5
Wie Brewer (1992) herausgearbeitet hat, bedient sich Hebr bei seiner Verarbeitung der alttestamentlichen Schriften gängiger Methoden vor allem des Diasporajudentums im 1. Jh. n. Chr., wie z.B. einer midraschartigen Auslegung von Ps 40,7-9
5.2. Christologie und Soteriologie
Zentraler Lehrgegenstand im Hebr ist die Christologie, in der Jesus Christus als Sohn Gottes und Hohepriester beschrieben wird. Beide Aspekte sind jedoch nicht voneinander zu trennen. Die Sohnschaft beschreibt das Wesen Jesu, sein hochpriesterliches Wirken seine Funktion.
5.2.1. Jesus als Sohn Gottes
Jesus wird im Hebr neunmal direkt (Hebr 1,2
Obwohl der Sohn seinem Wesen und Ursprung nach Anteil an der Herrlichkeit Gottes hat, erlangt er seine eigentliche Würde jedoch erst durch die Erfüllung seines heilstiftenden Auftrages. Dabei vollzieht der Sohn eine Bewegung von seiner himmlischen Hoheit zu seiner irdischen Niedrigkeit und wieder zurück zu seiner himmlischen Hoheit – d.h. die heilsgeschichtliche Abfolge von Präexistenz / Schöpfungsmittlerschaft (Hebr 1,2-3
Diese Sohnschaft Jesu ist das Fundament aller weiteren Überlegungen im Hebr.
5.2.2. Jesus als Hohepriester
Der Sohn Jesus erfüllt seinen Auftrag, die Menschen zu retten (Hebr 2,7-10
Auf dem Hintergrund von Ps 110,4
Obwohl Hebr Tod und Auferstehung Jesu als sühnewirkendes Opfer versteht, das Jesus in seiner Menschlichkeit im Irdischen vollzogen hat, erblickt er dessen eigentlichen theologischen Wirkungsort jedoch in der himmlischen Wirklichkeit (Hebr 8,1-5
5.3. Der Glaube (Pisteologie) und das Volk Gottes (Ekklesiologie)
5.3.1. Pisteologie
Hebr entfaltet seine Glaubenslehre in Kontinuität zu frühjüdisch-alttestamentlichen Traditionen. Glaube (ἡ πίστις, pístis) ist für Hebr daher vorranging ein Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott. Konkret ist damit die positive Bewegung des Menschen hin zu Gott (Hebr 9,14
Unter Verarbeitung hellenistisch-philosophischer Begrifflichkeiten kann Hebr so durchweg von unterschiedlichen Ausdrucksformen des Glaubens wie Geduld (Hebr 10,36
Dieses vielschichtige Glaubensverständnis gelangt schließlich in der sog. „Glaubensdefinition“ in Hebr 11,1
5.3.2. Ekklesiologie
Die Glaubenslehre (5.3.1.) im Hebr bildet das Fundament seiner Ekklesiologie. All diejenigen, bei denen dieser Glaube sich vollzieht, gehören zu einer Glaubensgemeinschaft, die sich durch sämtliche irdische Kategorien wie Zeit, Raum oder Ethnizität hinweg- bzw. hindurchzieht. Eindrücklich demonstriert Hebr dies in der sog. „Wolke der Zeugen“ (vgl. Hebr 12,1
Die einzelnen Beispiele – allen voran Abel, Henoch und Noah als Vertreter der Urgeschichte, aber auch Rahab in Jericho – zeigen, dass Hebr diese Glaubensgemeinschaft nicht auf das alttestamentliche Volk Israel beschränkt. Zudem mündet die Auflistung, die zum Ende hin immer allgemeiner und sprachlich gedrängter wird, in eine letztlich offene Zahl. Dafür spricht auch, dass Hebr schließlich in Hebr 12,1-2
Dieses glaubende Gottesvolk ist der Haushalt Gottes, zu dem alle gehören, die im Glauben mit einem durch das Sühneopfer des Sohnes gereinigten Gewissen freimütig vor ihn treten (Hebr 3,6
- 1. Er ist in seinem Gehorsam selbst Glaubensvorbild gegenüber Gott (Hebr 4,15
; Hebr 5,7-9 ), auf das es gemeinsam mit allen anderen Glaubensbeispielen zu blicken gilt (Hebr 12,1-2 ). - 2. Er hat durch sein Sühnewirken für alle Glaubenden die Reinigung des Gewissens erwirkt (Hebr 9,15
), die dem Glauben als Beziehungsgeschehen zu Gott mit der Ermöglichung des Eintritts in dessen eschatologische Gemeinschaft end-, voll- und letztgültig an sein Ziel bringt (Hebr 10,22 ). - 3. Er ist selbst auch Objekt des Bekenntnisses zu Gottes treuem Heilshandeln, an dem es als wesentlicher Aspekt des Glaubensvollzugs festzuhalten gilt (Hebr 10,23
; Hebr 13,25 ).
Das glaubende Gottesvolk wird also durch den Glauben als Grundstruktur mit einander verbunden und durch die Notwendigkeit der Gewissensreinigung für den Eintritt in die eschatologische Gottesgemeinschaft, die allein durch das Opfer Jesu erfolgt, dem Sohn als „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2
Für die Charakterisierung dieser Glaubensgemeinschaft spielt die Verhältnisbestimmung von Juden(-christen) und Heiden(-christen) im Hebr keine Rolle, da er eben nur ein einziges, nämlich dieses glaubende Gottesvolk innerhalb der gesamten Menschheit kennt. Diese Vorstellung tritt, zumindest indirekt, in Analogie zu dem Gedanken von einem heiligen Rest derer, die Gott die Treue halten, in der alttestamentlichen Schriftprophetie (vgl. u.a. Jes 1,9
5.4. Eschatologie
Das gesamte Schreiben ist motiviert und geprägt von der Zuversicht, durch das hochpriesterliche Wirken des Sohnes Zutritt in die himmlische Gemeinschaft mit Gott erhalten zu haben und diesen auch einst eschatologisch zu vollziehen. Die angefochtenen und glaubensmüden Adressaten sollen an diese Zuversicht erinnert, darin vergewissert und zugleich dazu ermahnt werden (Hebr 4,11
Diese ungetrübte Gemeinschaft mit Gott umschreibt Hebr mit dem Ausdruck der (Sabbat-)„Ruhe“ (κατάπαυσις / katápausis), die er als Sinn der Schöpfung (Hebr 4,3-4
Dass diese Verheißung noch niemand erlangt hat, begründet Hebr auf zweifache Weise:
- 1. Aus der existentiellen Erfahrung (Hebr 4,10
): Die Adressaten können quasi an ihrer eigenen „unruhigen“ irdischen Existenz selbst ablesen, dass sie die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott noch nicht erlangt haben. - 2. Aus dem alttestamentlichen Zeugnis (Hebr 3,15-4,9
): Die Ruhe ist seit der Schöpfung verheißen, aber aufgrund des Unglaubens ist bislang noch kein Mensch in sie eingegangen. Dies verdeutlicht Hebr an der Generation der Israeliten während der Wüstenwanderung unter Mose als warnendes Negativbeispiel (Hebr 3,15-19 ). Dieser Generation hatte Gott aufgrund ihres Unglaubens den Eintritt in das versprochene Land verwehrt (vgl. Num 14 ). Aber auch die nachfolgende Generation, die nach alttestamentlicher Überlieferung das Land tatsächlich unter Josua betreten und bewohnen durfte, ist dennoch nicht in die Ruhe eingegangen (Hebr 4,8), was Hebr daraus schließt, dass Gott zeitlich später durch David mit Ps 95 noch einmal die Warnung bekräftigt, sein Herz nicht wie jene zu verhärten, sondern auf die Stimme Gottes zu hören und ihr Glauben zu schenken (Hebr 3,15 ; Hebr 4,7 ; vgl. Ps 95,7-9 ). Dass Gott sich genötigt sah, später noch einmal zur Glaubenstreue aufzurufen, zeigt für Hebr, dass die verheißene Ruhe immer noch aussteht (Hebr 4,6-8 ). Umso mehr gilt es nun im Glauben standhaft zu bleiben, um selbst in die Ruhe eingehen zu können (Hebr 4,11 ).
Die Ruhe bildet das Ziel aller Generationen des einen glaubenden Gottesvolkes. Dabei versteht Hebr sie nicht als abstrakten Zustand, sondern als konkretes räumliches Ziel, das aber zugleich noch in der Zukunft liegt: Die himmlische Stadt (Hebr 13,14
Das ist der Zion, das himmlische Jerusalem, zu dem die Glaubenden unterwegs sind, in das bislang aber noch niemand eingetreten ist (Hebr 11,39-40
Literaturverzeichnis
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2. Wichtige Kommentare
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Abbildungsverzeichnis
- Die drei Hauptteile des Hebräerbriefes (Andreas-Christian Heidel)
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