Dämonen / Dämonenbeschwörung (NT)
(erstellt: Oktober 2015)
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1. Vorkommen im NT
Von den beiden im NT begegnenden griechischen Begriffen für „Dämon“ ist δαιμόνιον / daimónion der weitaus geläufigere (Mt 11 mal, Mk 11 mal + 2 mal im sekundären Mk-Schluss, Lk 23 mal); δαίμων /
daímōn begegnet nur Mt 8,31
Der Begriff „Dämon“ begegnet v.a. in den (synoptischen) → Evangelien
Von den übrigen Briefen findet sich „Dämon“ nur
1Tim 4,1
Auch in irgendeiner Weise „böse“ Geister finden sich in den neutestamentlichen Briefen mit Ausnahme von
1Tim 4,1
In der → Apokalypse des Johannes
2. Dämonenglaube außerhalb des NT
2.1. Dämonenglaube in der hellenistischen Antike
Dämonenglaube war im antiken Griechentum ebenso common sense wie Dämonenaustreibung common practice war.
- von Apollonios von Tyana werden mehrere Exorzismen überliefert, so v. Apoll. IV 20 und IV 10 (bei letzterem Bericht wird der näherhin als Pestdämon identifizierte Unglücksbringer allerdings nicht ausgetrieben, sondern hat die Gestalt eines Bettlers angenommen, der sich bei seiner von Apollonios initiierten Steinigung in einen löwengroßen Hund verwandelt).
- Lukian beschreibt die Symptome eines von einem Dämon Besessenen und das Aussehen des Dämons selbst sowie die exorzistischen Praktiken eines „Syrers aus Palästina“ (Philops. 16).
- Plutarch berichtet von einem namenlosen Eremiten am → Roten Meer
, der nach eigener Auskunft zusammen mit Dämonen und Nymphen lebt (mor. 421).
Zum Dämonenglauben im antiken Griechenland vgl. Albinus, Greek; zu dem im antiken Rom vgl. Cancik, Dämonologie.
2.2. Dämonenglaube im antiken Judentum
Auch im antiken → Judentum
Das Buch → Tobit
Auch in → Qumranschriften
3. Dämonenglaube im NT
Der Gebrauch der einschlägigen Begriffe im NT unterscheidet sich nicht wesentlich von dem im antiken Judentum; beides lässt sich aber nicht ohne weiteres aus dem AT ableiten (→
Dämonen / Dämonenbeschwörung (AT)
Dämonenbeschwörungen (Exorzismen) werden im NT nur in Form von Dämonen- oder Geisteraustreibungen aus Besessenen überliefert. Der Begriff „Exorzismus“, der so viel wie „Herausbeschwörung“ bedeutet, wird im NT nur
Apg 19,13
3.1. Synoptische Evangelien
3.1.1. Erzählüberlieferung
Wie geschildert, berichten nur die Synoptiker und die Apg von Dämonenaustreibungen. Die Synoptiker überliefern insgesamt sechs Exorzismen Jesu, davon vier in ausführlichen Wundererzählungen:
- 1.
Die Heilung eines Besessenen in der Synagoge von Kapernaum (Mk 1,21-28
par Lk 4,31-37 ): Als Jesus am Sabbat in der → Synagoge „wie einer, der → Vollmacht hat“, lehrt, taucht ein Besessener auf, dessen unreiner Geist Jesus schreiend als den „Heiligen Gottes“ apostrophiert. Nach Jesu Befehl, zu verstummen und auszufahren, reißt der Geist den Besessenen noch einmal und fährt aus. Es folgt der Chorschluss der Menge. - 2.
Die Heilung des Besessenen von Geraza (Mk 5,1-20
par Mt 8,28-34 par Lk 8,26-39 ): Im Gebiet der → Gerasener begegnet Jesus einem Besessenen, der in Grabhöhlen wohnt. Der unreine Geist lässt sein Opfer sich selbst verletzen und sich von jeglichen Fesseln, die andere ihm anlegen, befreien. Als der Besessene sich vor ihm niederwirft und ihn bei Gott (!) beschwört, ihn nicht zu quälen, fragt Jesus nach dem Namen des Geistes, der sich daraufhin als „Legion“ zu erkennen gibt und ergänzt: „Denn wir sind viele.“ Die Geister (Numeruswechsel!) erkennen, dass sie nicht umhin kommen, aus dem Besessenen vertrieben zu werden und bitten Jesus, sie in eine Herde Schweine fahren zu lassen, die sich nach erfolgtem Einfahren in einen See stürzt. Der Besessene erscheint daraufhin „vernünftig“ und ist angekleidet. - 3.
Die Heilung der Tochter der syrophönizischen Frau (Mk 7,24-30
par Mt 15,21-28 ): Jesus wird von einer Syrophönizerin aufgesucht, die ihn darum bittet, den unreinen Geist ihrer Tochter auszutreiben. Nach einem Zwiegespräch zwischen Jesus und der Frau, bei dem er sie bittet, zuerst die Kinder zu sättigen, damit das Brot nicht den Hunden vorgeworfen würde, woraufhin die Frau zur Antwort gibt, dass doch die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder fressen, schickt er sie nach Hause, weil der Geist „um dieser Worte willen“ ausgefahren sei. - 4.
Die Heilung eines besessenen Knaben (Mk 9,14-29
par Mt 17,14-21 par Lk 9,37-42 ): Ein Junge hat einen „sprachlosen Geist“, der ihm folgende immer wiederkehrende Symptome beschert: Schrei, Sturz, Hypersalivation (Schaum vor dem Mund), Kloni (der Geist „reißt“ den Jungen). Die Symptomatik lässt an eine Epilepsie mit rezidivierenden Grand-mal-Attacken denken (vgl. Schneble, Heillos, 66-67; eine ähnliche Symptomatik ist übrigens bei Lukian, Philops. 16, beschrieben). Der Vater des Jungen berichtet Jesus, dass seine Jünger sich vergeblich am Exorzismus versucht hätten. Der bloße Anblick Jesu bringt den Geist dazu, den Besessenen zu reißen. Jesus befiehlt dem unreinen Geist auszufahren. Der Junge wird ein letztes Mal gerissen und liegt wie tot da, ist aber von dem Geist befreit. Die beiden anderen Überlieferungen finden sich in Q-Stoff: - 5.
Austreibung aus einem stummen Besessenen (Q 11,14 = Lk 11,14
par Mt 12,22 ): Jesus treibt den bösen Geist eines Stummen aus, der daraufhin reden kann. - 6.
Die Heilung eines stummen Besessenen (Mt 9,32-33
): Auch hier liegt Q 11,14 zugrunde.
3.1.2. Wortüberlieferung
- 1.
Summarium: Exorzismus mehrerer Jüngerinnen (Lk 8,2-3
). - 2.
Allgemeine Summarien: Mk 1,34.39
; Mk 3,11-12 ; Lk 7,21 . - 3.
Mitteilung an Herodes: Lk 13,32
. - 4.
Beelzebulkontroverse (Mk 3,22-27
; Q 11,14-26): Schriftgelehrte werfen Jesus wegen seiner Exorzismen vor, den Beelzebul zu haben, weil er diese nur mit Hilfe des obersten Dämons, des Beelzebuls, durchführen könne. Jesus erwidert in gleichnishafter Rede, dass dem nicht so wäre.
Exkurs I: Das Spezifikum der Exorzismen Jesu
Es ist gerade die breite synoptische Bezeugung in unterschiedlichen Traditionsschichten (Erzählüberlieferung, Wortüberlieferung), die die Historizität des exorzistischen Wirkens Jesu plausibel erscheinen lässt. → Jesus von Nazareth
3.2. Apostelgeschichte
In der Apostelgeschichte wird lediglich von einer Austreibung ausführlich berichtet; der Ausgetriebene wird hier als „Wahrsagegeist“ (πνεῦμα πύϑων /
pneúma pýthōn) apostrophiert (Apg 16,16-22
Daneben wird in der Apostelgeschichte in zwei Summarien berichtet, dass viele Menschen um Jerusalem ihre Kranken und von bösen Geistern Geplagten zu Petrus bringen, die daraufhin alle „gesund“ werden (Apg 5,16
4. Formgeschichtliches
Wurden früher Exorzismen zumeist wie selbstverständlich zu den Wunderheilungen gerechnet (vgl. allein → Bultmann
Typischerweise hat eine Dämonenaustreibung drei konstituierende Elemente, die im Folgenden in erster Linie anhand von
Mk 5,1-20
1) Der Besessene wird vom Dämon fremdbeherrscht, er ist nicht mehr selbstbestimmtes Subjekt, sondern Objekt einer fremden Macht (Mk 5,5
2) Dämon und Exorzist führen einen Kampf gegeneinander, wobei sie zumeist die gleichen Mittel verwenden (Mk 5,7
3) Das Ausfahren wird durch eine letzte Wirkung des Dämons vor Augen geführt (Mk 5,12-13
Exkurs II: Besessenheit und Krankheit
Zwar können Krankheiten auf einen Dämon zurückgeführt werden, jedoch ist die Heilung hiervon noch keine Dämonenaustreibung (z.B.
Lk 13,10-17
5. Erklärungen für Dämonenglauben
Fragt man nach Ursachen für Dämonenglaube, Besessenheit und Besessenheitszuschreibung, so legt die Beobachtung der Ubiquität der Phänomene nahe, nicht nur in proximaten, sondern auch in ultimaten Erklärungen Antworten zu suchen. Proximate Erklärungen sehen die Ursache des Dämonenglaubens in Kontingenzerfahrungen; der Alltag wird gestört durch das Anderssein von Menschen, das sich in bestimmter Weise äußert, oder Störungen des Normalen, des Erwartbaren. Da die in den Quellen beschriebenen Symptome von Besessenheit neurologisch oder psychiatrisch beschreibbaren Krankheiten ähneln, legen sich proximate medizinische Erklärungen nahe. Hierzu zählen alle Krankheiten, bei denen der Betroffene temporär oder dauerhaft die Kontrolle über sich verliert und für die Zeit der auftretenden Symptomatik Beobachtern erscheint, als wäre er nicht er selbst. Modern wird zumeist Epilepsie diagnostiziert (vgl. z.B. Schneble, Heillos, 66–67), z.T. auch Manie (vgl. z.B. Kollmann, Jesus, 206), Hysterie, dissoziative Persönlichkeitsstörung oder multiple Persönlichkeit.
Eine proximate soziohistorische These vertreten Crossan und Hollenbach, für die die Dämonenbesessenheit im antiken Palästina eine Art Protest gegen die römische Besetzung des Landes darstellte (vgl. Crossan, Jesus, 121–124, der seine These an
Mk 5,1-20
Strecker distanziert sich von medizinischen und soziohistorischen Erklärungen der Besessenheit und entwirft ein performancetheoretisches Modell, wonach ein Besessener öffentlich ein Rollenmuster aktiviert, das den anderen Besessenheit anzeigt, die von Beobachtern ja immer nur als auffälliges Verhalten wahrgenommen werden kann (Strecker, Jesus, 58). Die Grenze zwischen Performance („ich gebe mich besessen“) und Wirklichkeit („ich bin besessen“) verwischt, insofern der Performer die Darstellung „gleichsam in sich aufsaugt“ (Strecker, ebd.) – er erscheint sowohl dem Publikum als auch sich selbst als „besessen“. Der Besessene bedient sich dabei des „Besessenheitsidioms“, also eines geprägten kulturellen Musters. Durch einen Exorzismus wird „die Identität der Besessenen neu konstituiert, die Platzordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die kosmische Ordnung neu etabliert“ (vgl. Strecker, Jesus, 60). Jesus weist durch den Exorzismus dem ehemals Besessenen einen Platz in der nun neuen kosmischen Ordnung zu, die das Reich Gottes ist (vgl. Strecker, Jesus, 62).
Wiederum einen anderen Weg beschreitet Alkier, dessen Interpretation von Dämonenglaube und Exorzismen sich im Rahmen seiner semiotischen Wunderexegese bewegt. Er postuliert, die sich in den Schriften des NT niederschlagenden kulturellen Plausibilitätsstrukturen zusammen mit dem zugehörigen enzyklopädischen Weltwissen zu rekonstruieren. Erst wenn man verstünde, wie „Wunder“ („Exorzismus“) innerhalb des Zeichenkosmos des antiken → Palästina
Conrady und Vouga bleiben bei ihrer Dämonendeutung auf der Ebene des jeweiligen Textes. So gehe es bei den Besessenheitsbeschreibungen bei Markus nicht um den Versuch, „pathologische, psychische oder physische Erscheinungen zu erklären“ (wie es bei Matthäus und Lukas, aber auch bei hellenistischen und jüdischen Autoren der Fall sei), sondern um „die Diagnose einer seelischen Krankheit, unter welcher auch gesunde Menschen leiden und die die menschliche Befindlichkeit kennzeichnet“ (Conrady, Vouga, Interpretation, 258).
Ultimate Erklärungen suchen den Ursprung des Dämonenglaubens in den (evolutionären) Umständen, unter denen er sich entwickelt hat und die als „Environment of Evolutionary Adaptedness“ (EEA) bezeichnet werden. Guthrie (Faces) schlägt in seiner „New Theory of Religion“ vor, dass Dämonen- (und Götter-) Glaube auf eine bestimmte Fähigkeit des menschlichen Gehirns zurückgeht, nämlich in zufälligen, chaotischen Anordnungen Gesichter und Lebewesen zu erkennen (Pareidolie). Das für die Gesichtswahrnehmung zuständige Gehirnareal ist die Fusiform Face Area (FFA) des Gyrus fusiformis oder Gyrus occipitotemporalis lateralis (Spindelwindung) des rechten Schläfenlappens. An die FFA grenzt die Fusiform Body Area (FBA) zur Erkennung von Körpern und Körperteilen. Beide vermögen auch in unbelebter, chaotischer Materie Gesichter und Lebewesen visuell zu konstruieren. Die EEA, in der sich Pareidolie entwickelt haben könnte, ist vorzustellen etwa als eine, in der das eigene Überleben davon abhing, möglichst schnell auf Fressfeinde zu reagieren. Wurde in der Dämmerung ein Busch fälschlich als Löwe interpretiert und der Fluchtmechanismus in Gang gesetzt, war dies für das Überleben besser, als wenn ein Löwe zu spät erkannt worden wäre. Die visuelle Konstruktion von Gesichtern und Lebewesen in toter oder pflanzlicher Materie ist also ein Selektionsvorteil; wir werden seiner heute noch gewahr, wenn wir z.B. in Wolkenformationen, einer Holzmaserung oder den Schweinwerfern eines Automobils ein Gesicht sehen. Guthrie macht plausibel, dass dies die Zuschreibung von toter Materie als „lebendig“ begründete, mithin das Bewusstsein, von Lebewesen umgeben zu sein, die Gegenstände bewohnen und die man „Dämonen“ (oder „Götter“) nennen konnte (zum Ganzen vgl. auch den populärwissenschaftlichen Beitrag Wetz, Evolution). Im NT werden Dämonen lediglich in der Apokalypse des Johannes (etwa Apk 16,13-14
Weitere Erklärungen von und Erörterungen über Funktion und Bedeutung des Dämonenglaubens finden sich bei Tuczay, Geister, 237–248. Zu kulturanthropologischen Fragen und Beobachtungen des Besessenheitsphänomens vgl. Goodman, Ekstase, 25–56.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Beispiel von Pareidolie durch die Fusiform Face Area: Ein Berg auf dem Mars wird im Gehirn als Gesicht visuell konstruiert. Aufgenommen von der NASA-Sonde Viking I (1976), gemeinfrei.
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