Lukasevangelium / Evangelium nach Lukas
(erstellt: Januar 2014)
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Hinführung
Lukas, der dritte unter den so genannten →
Synoptikern
1. Evangelium und Apostelgeschichte als „Doppelwerk“
Das Evangelium nach Lukas und die →
Apostelgeschichte
Es hat jedoch lange gedauert, diese Einsicht auch für die exegetische Arbeit fruchtbar zu machen. Erst seit Beginn des 20. Jh.s bürgert es sich ein, vom „lukanischen Doppelwerk“ bzw. von „Luke-Acts“ zu sprechen. Fortan wird die lukanische Theologie nur noch anhand beider Teile gemeinsam untersucht. Durchgängige Linien lassen sich etwa mit Blick auf das große Kontinuum der Verheißungsgeschichte Gottes, der Rolle des →
Heiligen Geistes
In jüngster Zeit wird diese Zusammengehörigkeit wieder diskutiert. Fragen ergeben sich vor allem hinsichtlich der generischen, kanonischen oder narrativen Einheitlichkeit des Doppelwerkes (Parsons / Pervo). Nach wie vor erweist sich indessen die Voraussetzung einer gemeinsamen theologischen Konzeption für die Interpretation beider Teile als konstitutiv.
2. Verfasser und Adressaten
Ursprünglich ist das dritte Evangelium anonym verfasst worden. Die Autorenangabe „Evangelium nach Lukas“ in der Form einer subscriptio (nachweisbar zuerst im Papyrus P75 um 200) tritt im Laufe des 2. Jh.s hinzu. "Lukas" ist in dieser Zeit ein gebräuchlicher, wenngleich nicht alltäglicher Name. Wer damit gemeint ist, bleibt zunächst offen.
In der altkirchlichen Exegese hat man unter dem „Lukas“ der
subscriptio den Paulusmitarbeiter Lukas (Phlm 24) verstanden und mit dem Autor der „Wir“-Passagen in der Apostelgeschichte kombiniert; weitere, vermutlich von Phlm 24 abhängige Erwähnungen eines „Lukas“ finden sich in 2Tim 4,11
Über den Autor „Lukas“ gibt allein der Text selbst Auskunft. Obwohl der Autor seinen Namen verschweigt, bringt er doch in einem stilgerechten Vorwort gleich zu Beginn sein schriftstellerisches „Ich“ pointiert zur Sprache und signalisiert damit den Anspruch, literarisch an den Konventionen der Geschichtsschreibung gemessen zu werden. Dass er ein Arzt gewesen sei (nach
Kol 4,14
Während man früher in Lukas gern den typischen Vertreter des jungen →
Heidenchristentums
Als Adressat des Doppelwerkes tritt zunächst jener Theophilos in den Blick, den Lukas in beiden Vorworten anspricht (
Lk 1,3
3. Zeit und Ort
Die Datierung des Lukasevangeliums in die Zeit um 90 n. Chr. beruht auf einem breiten Konsens. Von der Zeit der Augenzeugen trennt den Autor schon ein längerer Traditionsprozess (Lk 1,1
Entscheidend ist der Bezug des Lukas auf das Markusevangelium, das mit großer Wahrscheinlichkeit um 70 n. Chr. verfasst wurde. Die relativ vage Voraussage der Zerstörung Jerusalems aus
Mk 13,2
Alternativen bleiben marginal. Frühdatierungen lösen für gewöhnlich den Bezug zu Markus auf oder nehmen an, die Apostelgeschichte sei noch vor dem Ende des Paulus (unter Nero) geschrieben. Spätdatierungen wiederum machen sich an der These fest, dass Lukas ein profilierter Vertreter „frühkatholischer“ Theologie sei und rücken ihn deshalb weiter in das 2. Jh. hinein.
Über den Abfassungsort lässt sich nur spekulieren. Vom Ende her denkt man gern an →
Rom
4. Aufbau und Gliederung
Die Struktur des Lukasevangeliums erweist sich als ausgesprochen komplex. Ihre Nachzeichnung setzt eine Vielzahl exegetischer Einzelentscheidungen voraus. In der Literatur finden sich deshalb auch ganz unterschiedliche Vorschläge zur Gliederung des Textes.
Als große, in sich geschlossene Blöcke lassen sich die Geburtsgeschichte, Passionsgeschichte und Ostergeschichte erkennen. Das öffentliche Auftreten Jesu scheint grundlegend an der geographischen Gegenüberstellung von Galiläa und Jerusalem orientiert zu sein. Besonders auffällig ist die überdimensionale Ausdehnung des Weges nach Jerusalem, der nun deutlich als eine Art Herzstück des Evangeliums erscheint. Während der →
Galiläateil
Die größten Diskussionen gibt es hinsichtlich des „Reiseberichtes“ bzw. der „central section“ bzw. der „Wegphase“. Der Anfang lässt sich mit Lk 9,51
Lukas ist kein Redaktor, der lediglich Quellen oder Versatzstücke aneinanderreiht. Seine Ordnung des Stoffes folgt einem Konzept, das ein eigenständiges theologisches Profil erkennen lässt.
5. Quellen und Traditionen
5.1. Der Quellenbefund nach der 2-Quellen-Theorie
Lukas selbst weist in seinem Vorwort darauf hin, dass er Vorgänger hat und Quellen benutzt (Lk 1,1-4
5.1.1. Markus
Grundlegende Bedeutung hat der Bezug auf das Markusevangelium, dessen Stoff Lukas weitgehend übernimmt und – von einigen markanten Umstellungen abgesehen – auch in seiner Abfolge beibehält. An zwei Stellen lässt er Stoff aus:
- „große Auslassung“: zwischen Lk 9,17
und Lk 9,18 – das betrifft Mk 6,45-8,26 - „kleine Auslassung“: nach Lk 10,9
– das betrifft Mk 9,41-10,12
Entweder hat Lukas diese Texte bewusst übergangen, oder er hat sie in seiner Markus-Vorlage gar nicht vorgefunden. Im letzteren Falle stellt sich die Frage: Waren sie darin noch nicht oder nicht mehr enthalten? Hier setzt die Diskussion um einen Protomarkus und Deuteromarkus an.
5.1.2. Logienquelle
Zusätzlich greift Lukas auf die sogenannte →
Logienquelle (Q)
- „kleine Einschaltung“: Lk 6,20-8,3
– dazu gehört im Wesentlichen die „Feldrede“ - „große Einschaltung“: Lk 9,51-18,14
– sie macht den größten Teil der Wegphase aus
Eine genauere Abgrenzung der Q-Stoffe fällt schwer. Der Optimismus präziser Rekonstruktionen ist heute eher einer verbreiteten Skepsis gewichen. Zwar lässt sich der Kernbestand einer gemeinsamen Quelle wahrscheinlich machen. Dennoch bleiben Grauzonen und Unschärfen bestehen.
5.1.3. Sondergut
Das sogenannte „Sondergut“ wird ganz besonders kontrovers diskutiert. Es nimmt nahezu die Hälfte des Stoffes ein (548 von 1149 Versen). Anfang und Ende des Evangeliums sind komplett daraus gespeist (Lk 1-2 und Lk 24); ansonsten findet es sich in den beiden Einschaltungen gern mit Q-Stoffen verbunden. Lange Zeit hat man darin eine Quelle eigenen Ranges mit eigenem theologischem Profil gesehen und zum Leitstern für die gesamte Konzeption des Lukas gemacht. Inzwischen schwingt das Pendel nach der anderen Seite. Das Sondergut stellt nichts anderes als eine „Restkategorie“ dar (Wolter, Lukasevangelium), die lediglich das enthält, was übrig bleibt.
5.2. Proto-Lukas-Hypothese und Elia-Elisa-Erzählkranz
Eine eigenständige Lösung der Quellenfrage stellt die Proto-Lukas-Hypothese (Streeter; Taylor) dar. Sie nimmt an, dass Lukas aus Logienquelle und Sondergut eine mit Markus zeitgleich entstandene Schrift geschaffen habe. Erst später sei dann der Markusstoff eingefügt und die Geburtsgeschichte vorgeschaltet worden – gleichsam als Lukas in zweiter, erweiterter Auflage. Eine andere Variante geht von einer Urfassung des Evangelienstoffes im Umfang von Lk 1 bis Apg 15 aus, die an dem Erzählkranz um →
Elia
5.3. Ähnlichkeiten zwischen Lukas und Johannes
Auffällig sind auch die zahlreichen Berührungen zwischen Lukas und Johannes. Sie begegnen weniger in den großen Strukturen als in den sogenannten „Parallelperikopen“ (Schniewind) sowie in einer Fülle überraschender Details.
Parallelperikopen:
Lk 5,1-11
Details:
Lk 3,20
Die wahrscheinlichste Erklärung bietet nach wie vor die Annahme, dass Johannes und Lukas unabhängig von einander auf gemeinsame Traditionen zurückgreifen.
6. Sprache und Stil
Unter den →
Evangelisten
Lukas verfügt über einen deutlich größeren Wortschatz als die anderen Evangelisten; er bedient sich gern der gehobenen Literatursprache und vermeidet Vulgarismen, ersetzt lateinische Lehnworte weitgehend durch ihre griechischen Äquivalente und tilgt Semitismen. Dieser Wortschatz ist vielfach untersucht worden (Jeremias; Denaux). Demnach gehört der Evangelist einer Bildungsschicht an, für die er den überlieferten Stoff auch sprachlich neu zu erschließen versucht.
In stilistischer Hinsicht meidet Lukas das erzählende Präsens, liebt Partizipialkonstruktionen oder operiert mit indirekter Rede; in der Apostelgeschichte brilliert er mit Zitaten und Anspielungen aus der klassischen Literatur (z.B.
Apg 17
7. Textüberlieferung
Der größte Teil des Textes ist fragmentarisch bereits durch Papyri bezeugt. Als ältester und bedeutendster Zeuge gilt der P
75 (um 200 n. Chr.). Vollständig liegt der Text vom 4. Jh. an in den großen → Pergamentcodices
Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Textfassung des →
Markion
An einigen wenigen Stellen gibt es theologisch belangvolle Varianten, die in jedem Falle zu berücksichtigen sind:
Lk 22,15-20
Lk 22,43-44
Lk 23,34a
Lk 24,12
Lk 24,50-53
8. Theologische Schwerpunkte
Das besondere theologische Profil des Lukas kommt in einer Reihe von Motivlinien zum Ausdruck, die das gesamte Doppelwerk durchziehen und die sich in den folgenden Themenbereichen zusammenfassen lassen.
8.1. Zeit und Geschichte
Lukas zeigt ein besonders sensibles Gespür für die Bedeutung der Zeit. Sie ist das Strukturelement der Geschichte; zugleich steht sie der Wirklichkeit Gottes gegenüber, die außerhalb von Raum und Zeit existiert.
Seiner Erzählung hat Lukas ein geschichtliches Periodenschema zugrunde gelegt. Dessen Dreiteilung nach den Abschnitten Zeit Israels, Zeit Jesu und Zeit der Kirche (Conzelmann) wird heute jedoch nicht mehr vertreten. Die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche gehören ebenso eng zusammen wie das Auftreten Jesu und die Geschichte Israels. Vielmehr entwirft Lukas die Geschichte einer einzigen großen Epoche als „Vorgeschichte seiner Gegenwart“ (Wolter, Epochengeschichte).
Die Geschichte folgt für Lukas einem göttlichen Plan, der vor allem durch das Wörtchen δεῖ dei („es muss sein / geschehen“) angezeigt wird. Alles, was geschieht, steht unter der Regie Gottes. Ob man dafür allerdings den Begriff der „Heilsgeschichte“ verwenden sollte, ist zunehmend umstritten (Reinmuth).
Die „Königsherrschaft Gottes“, die im Zentrum der Botschaft Jesu steht, ist eine spannungsvolle Größe: sie ist gegenwärtig, oder im Anbruch begriffen, oder erst in der Zukunft zu erwarten. Ihre zeitliche Bestimmung lässt sich am besten durch die Formel „schon erfüllt, aber noch nicht vollendet“ (Cullmann) beschreiben.
8.2. Gott und Mensch
In der Vaterprädikation findet das lukanische Gottesbild seinen dichtesten Ausdruck. Die Vater-Anrede gibt Jesus in seiner Gebetsunterweisung weiter (
Lk 11,1-13
Das lukanische Werk ist von einer sorgfältig konzipierten →
Wort-Gottes-Theologie
Vor Gott steht der Mensch als ein Sünder da. → „
Sünde
Das Stichwort „Umkehr“ (μετάνοια
metanoia) spielt für Lukas eine wichtige Rolle. Von der Predigt des Täufers über die Botschaft Jesu bis hin zu den Reden eines Petrus oder Paulus begleitet die Aufforderung zur Umkehr die Verkündigung der frohen Botschaft (programmatisch in Lk 5,32
8.3. Jesus Christus Gottessohn
Eine der christologischen Grundlinien nimmt zunächst die Erwartung des Volkes auf, in Jesus einen Propheten zu sehen (
Lk 9,7-8
In der lukanischen Passionsgeschichte trägt nicht der äußerste Tiefpunkt menschlicher Existenz, sondern die Hoheit des Gottessohnes den Ton. Am Kreuz stirbt Jesus nicht mit dem Schrei der Gottverlassenheit (
Mk 15,34
Großen Wert legt Lukas auf das Gebetsleben Jesu. Immer wieder zeigt er ihn am Beginn von Schlüsselszenen in Gebetssituationen (
Lk 3,21
8.4. Reichtum und Armut
Der Umgang mit materiellen Gütern steht im Zentrum der lukanischen Ethik. Lukas vertritt nicht – wie lange behauptet – ein Armutsideal. Vielmehr lautet seine Position: Armut soll es nach Gottes Willen nicht geben. Er ergreift Partei für die Notleidenden und mahnt die Reichen. Der Anspruch aus
Dtn 15,4
Als Begriff für „arm“ favorisiert Lukas πτωχός
ptōchos („bettelarm“) in scharfem Kontrast zu dem Begriff πλούσιος plousios („reich“). Durchgängig geht es ihm darum, zu einem sozialgerechten Verhalten und zu einer Ethik des Teilens je nach Bedarf (Apg 2,45
8.5. Gottesvolk und Kirche
Die Geschichte Jesu aus Nazareth ist Teil der Geschichte Israels. Der Tempel bleibt von Anfang bis zum Schluss der Erzählung ein Ort der Heilsoffenbarung Gottes (Ganser-Kerperin). Das Kind Jesus wächst in einem frommen Elternhaus auf; der Erwachsene geht in die Synagoge „nach seiner Gewohnheit“ (
Lk 4,16
Die Sendung Jesu besteht in der Sammlung Israels. Mit der Etablierung des Zwölferkreises vollzieht Jesus eine prophetische Zeichenhandlung (
Lk 6,12-19
Aus dieser Sammlung Israels wächst die Kirche hervor (Lohfink), deren Ausbreitung immer weitere Kreise zieht – von der Synagoge über verschiedene Randgruppen bis hin zu den →
Samaritanern
8.6. Geist und Glaube
Gottes Geist ist die Triebkraft aller Ereignisse. Er hat durch die Propheten geredet und kommt auch weiterhin in dem Wort der „Schriften“ zur Sprache. Auch Jesu Ursprung liegt in diesem Geist (
Lk 2,35
Glaube erscheint grundsätzlich als ein Beziehungsgeschehen und wird in Heilungsgeschichten, Streitgesprächen, →
Gleichnissen
8.7. Theologia Viatorum
Lukas entwickelt eine wohlkalkulierte Wegmetaphorik. Ihren strukturellen Anhalt findet sie an der geographischen Ausrichtung der Erzählung – also an dem Weg von Galiläa nach Jerusalem und dann darüber hinaus „bis an die Enden der Erde“ (
Apg 1,8
Zunächst spiegelt sie auf der Erzählebene schlicht die erstaunliche Mobilität der frühen Christenheit wider. Alle Figuren sind ständig unterwegs. Die Welt wird klein angesichts der Bedeutung ihrer Botschaft, die auf Verbreitung aus ist. Nicht zufällig ist ein Itinerar mit der Auflistung von Reisestationen eine der wichtigsten Quellen der Apostelgeschichte.
Das christologischer Schema der Sendung Jesu bedient sich ebenfalls der Wegmetaphorik: Jesu Ursprung liegt im Geist Gottes, sein Ziel in der Entrückung zu Gott selbst. Der Weg nach Jerusalem und der Ausgang (ἔξοδος
exodos) (Lk 9,31
Auch die lukanische Ethik insgesamt entfaltet sich maßgeblich in Weggesprächen. Der lange Weg nach Jerusalem (
Lk 9,51-19,40
Das Wegmotiv hat schließlich auch ekklesiologische Relevanz. Die Ausbreitung des Evangeliums, in deren Zuge die Kirche entsteht, erscheint als ein Prozess fortwährender Grenzüberschreitungen – deren wichtigste im Hause des Kornelius (Apg 10-11) erfolgt. Dieser Weg der Verkündigung gewinnt eine zunehmende Dynamik und erreicht in der Verhaftungs- und Schiffbruchsgeschichte des Paulus (Apg 27-28) seinen dramatischen Höhepunkt: Nichts und niemand vermag diesen Weg aufzuhalten. Das entspricht auch dem Selbstverständnis der christl. Gemeinde, die sich als „der Weg“ oder als „diejenigen, die auf dem Wege sind“ zu bezeichnen vermag (
Apg 9,2
8.8. Erzählfiguren
Das Werk des Lukas zeichnet sich auch durch die Stilisierung einer ganzen Reihe von Erzählfiguren aus, die sein theologisches Programm repräsentieren. Das betrifft z.B. „Gerechte“ des Gottesvolkes Israel wie →
Zacharias
Johannes der Täufer (siehe auch: → Johannes der Täufer
Maria, die Mutter Jesu, (siehe auch: → Maria, Mutter Jesu
Petrus (siehe auch: → Petrus
9. Linien der Rezeption
Erstmals nachweisen lässt sich die Benutzung des Lukasevangeliums in der Mitte des 2. Jh.s bei Markion und Justin. Von da an findet es rasche Verbreitung. Kommentare in Form von Homiliensammlungen schreiben →
Origenes
→
Eusebius von Cäsarea
Die Liturgiegeschichte sowie die Entstehung des Kirchenjahres erhält von dem lukanischen Werk wichtige Impulse. Zum einen entwickeln die hymnischen Passagen aus Lk 1-2 eine ganz eigene Dynamik für die spätere Hymnologie; zum anderen helfen Feste wie Himmelfahrt und →
Pfingsten
Bis an die Neuzeit heran (und weit darüber hinaus) gilt Lukas vor allem als Theologe einer „Heilsgeschichte“. Für die reformatorische Theologie wird er zum Zeugen der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Größere theologische Kontroversen gibt es nicht. Erst um die Mitte des 20. Jh.s gerät Lukas relativ unerwartet in das Visier einer massiven theologischen Sachkritik.
10. Wege der Forschung
Im Kontext einer grundlegenden Neuorientierung der christlichen Theologie kommt es in den 50er und 60er Jahren auch zu einer Diskussion um den Evangelisten Lukas, die wenigstens 30 Jahre lang kontrovers und vehement geführt wird (Kümmel). Dabei spielt methodisch vor allem die noch junge Redaktionskritik eine wichtige Rolle.
Gegenüber dem Theologen Lukas macht man in dieser Diskussion eine ganze Reihe von Kritikpunkten geltend. Lukas habe:
- an die Stelle urchristlicher Apokalyptik eine Geschichtstheologie gesetzt,
- eine frühkatholische Traditions- und Legitimationstheologie propagiert,
- die theologia crucis durch eine theologia gloriae verdrängt,
- das urchristliche Kerygma weitgehend preisgegeben.
Im Einzelnen geht es dabei um:
- den Verzicht auf die Naherwartung der Parusie Christi,
- den Verlust einer Heilsbedeutung des Todes Jesu zugunsten einer Märtyrerideologie,
- die Bedeutung von Werken für die Ethik
- das Interesse an apostolischer Tradition.
Die „Historisierung“ des Stoffes, die Lukas von der Apostelgeschichte auch auf die Jesus-Christus-Geschichte der Evangelien übertrage, laufe Gefahr, die „Wahrheit des Evangeliums“ (
Gal 2,5
Für diese Sicht sind zwei Grundüberzeugungen leitend: Zum einen fungiert Paulus als Maßstab, an dem nun auch Lukas gemessen wird. Zum anderen betrachtet man Lukas als einen Vertreter des „Frühkatholizismus“ und ordnet ihn damit einer eher negativ bewerteten Phase der frühen Kirchengeschichte zu. Besonders kontrovers und weit über den exegetischen Bereich hinaus wird der Begriff einer „Heilsgeschichte“ diskutiert. Auch die Apostelgeschichte ist in diesen Diskurs mit eingeschlossen
Erst allmählich schwingt das Pendel wieder zurück. Man erkennt, dass der lukanische Entwurf sein eigenes Recht hat und unabhängig von Paulus zu bewerten ist. Vor allem aber ändert sich die Beurteilung jener Übergangszeit in der 2. / 3. Generation, deren theologische Leistung man wieder zunehmend positiver zu würdigen bereit ist. Das große Verdienst des Lukas besteht darin, christliche Identität unter veränderten Umständen bewahrt und zukunftsfähig gemacht zu haben. Die Kontroverse ebbt ab, als auch die redaktionsgeschichtliche Methode in die Kritik gerät und neuen methodischen, namentlich narratologischen Zugängen Platz machen muss. Lukas bedarf keiner Verteidigung. Seine Stimme nimmt im Konzert neutestamentlicher Theologie einen unverzichtbaren Platz ein.
Mit diesem Perspektivenwechsel geht ein erneuter Aufschwung der Lukasforschung einher, der sich in einer längst unüberschaubar gewordenen Literatur niederschlägt. Darüber geben vor allem die jüngeren Kommentare von F. Bovon (1989 / 1996 / 2001 / 2009), H. Klein (2006) und M. Wolter (2008) Auskunft. Auch hier gibt es eine Parallele in der Exegese der Apostelgeschichte.
Heute besteht über die folgenden Punkte weitgehend Konsens: Lukas ist ein in den Schriften verwurzelter Judenchrist, der mit seinem „Evangelium“ den Schritt in die Völkerwelt vollzieht. Neu stellt sich dabei die Frage nach seiner Beziehung gegenüber Israels, die ambivalente Züge trägt. Der alte Vorwurf, Lukas habe die Heilsbedeutung des Todes Jesu unterbewertet, wird inzwischen deutlich relativiert (Mittmann-Richert): Er spricht über den Tod Jesu anders als Paulus, aber er misst ihm deshalb nicht weniger Bedeutung im Sinne eines effektiven Sterbens zu. Die lukanische Christologie ist allein im Kontext frühjüdischer Theologie zu verstehen. Auch die Sicht des römischen Staates ist eine differenziertere geworden: Hier versteht Lukas durchaus auch kritische Töne anzuschlagen.
Literaturverzeichnis
Die Literatur ist gerade in letzter Zeit ins Uferlose gewachsen – umfassende Bibliographien bieten die jüngsten Kommentare von Bovon, Klein und Wolter. vgl. ferner:
1. Kommentare (die wichtigsten aus jüngerer Zeit – chronologisch)
- Schürmann, H., 1969, Das Lukasevangelium [Bd. 1: Lk 1,1-9,50], HThK III / 1.2, Freiburg 1994 [Bd. 1: Lk 1,1-9,50; Bd. 2: Lk 9,51-11,54].
- Schürmann, H., 1994, Das Lukasevangelium [Bd. 2: Lk 9,51-11,54], HThK III / 2.2, Freiburg
- Ernst, J., 1977, Das Evangelium nach Lukas, RNT 3, Regensburg
- Schneider, G., 1977, Das Evangelium nach Lukas, ÖTK 3 / 1.2, Gütersloh
- Schmithals, W., 1980, Das Evangelium nach Lukas, ZBK 3.1, Zürich
- Fitzmyer, J.A., 1981 / 85 The Gospel According to Luke I / II, AncB 28, New York
- Schweizer, E., 1982, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen
- Bovon, F., 1989 / 1996 / 2001 / 2009, Das Evangelium nach Lukas I-IV, EKK III / 1.2.3.4, Zürich / Neukirchen
- Johnson, L.T., 1991, The Gospel of Luke, Sacra Pagina Series 3, Collegeville
- Bock, D.L., 1994 / 1996, Luke I / II, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids
- Dillmann, R. / Paz, C.M., 2000, Das Lukasevangelium. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart
- Löning, K., I 1997, II 2006, Das Geschichtswerk des Lukas. I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, II: Der Weg Jesu, [III: Apostelgeschichte, in Vorbereitung], Stuttgart / Berlin / Köln
- Radl, W., 2003, Das Evangelium nach Lukas. I: 1,1-9,50, Freiburg / Basel / Wien
- Klein, H., 2006, Das Lukasevangelium, KEK I / 3, Göttingen
- Wolter, M., 2008, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen
- Böttrich, C., Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig … (in Vorbereitung).
2. Monographien und Aufsätze zu zentralen Themen
- Alexander, L., 1993 / 2005, The Preface to Luke’ Gospel. Literary convention and social context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1, SNTS.MS 78, Cambridge
- Bendemann, R.v., 2001, Zwischen ΔΟΧΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichtes im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin / New York
- Böhlemann, P., 1997, Jesus und der Täufer. Schlüssel zur Theologie und Ethik des Lukas, SNTS.MS 99, Cambridge u.a.
- Böhm, M., 1999, Samarien und die Samaritai bei Lukas. Eine Studie zum religionshistorischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund der lukanischen Samarientexte und deren topographischer Verhaftung, WUNT 111, Tübingen
- Bormann, L., 2001, Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium, StUNT 24, Göttingen
- Bovon, F., 1985, Lukas in neuer Sicht. Gesammelte Aufsätze, BThSt 8, Neukirchen-Vluyn
- Brodie, T.L., 2006, Proto-Luke. The Oldest Gospel Account. A Christ-centered Synthesis of Old Testament History Modelled Especially on the Elijah-Elisha Narrative. Introduction, Text, and Old Testament Model, Limerick
- Busse, U., 1977, Die Wunder des Propheten Jesus. Die Rezeption, Komposition und Interpretation der Wundertradition im Evangelium des Lukas, FzB 24, Stuttgart
- Cadbury, H.J., 21961, The Making of Luke-Acts, London
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- Harmansa, H.-K., 1995, Die Zeit der Entscheidung. Lk 13,1-9 als Beispiel für das lukanische Verständnis der Gerichtspredigt Jesu an Israel, ETS 69, Leipzig
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- Wolter, M., 1997, „Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas“, in: M. Evang / H. Merklein / M. Wolter (Hgg.), Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer, BZNW 89) Berlin / New York, 405-426
Abbildungsverzeichnis
- Tabellenvorschau Gliederung des Lukasevangeliums. Gliederung: Christfried Böttrich
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