Deutsche Bibelgesellschaft

Lukasevangelium / Evangelium nach Lukas

(erstellt: Januar 2014)

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Hinführung

Lukas, der dritte unter den so genannten → Synoptikern, zeichnet sich gegenüber → Markus und → Matthäus durch eine ganze Reihe von Besonderheiten aus. Am auffälligsten ist, dass er die Geschichte Jesu Christi um ein zweites Buch erweitert, das von der Entstehung der ersten Gemeinden nach Ostern und ihrer allmählichen Ausbreitung berichtet. Unter den Autoren des Neuen Testamentes tritt allein Lukas mit dem Anspruch auf, Geschichtsschreibung zu bieten.

1. Evangelium und Apostelgeschichte als „Doppelwerk“

Das Evangelium nach Lukas und die → Apostelgeschichte sind unabhängig voneinander überliefert worden. Dennoch bestand an ihrer Zusammengehörigkeit nie ein ernsthafter Zweifel. Vom 2. Jh. an wird ihnen der gleiche Verfasser zugeschrieben. Beide Schriften beginnen mit einem Vorwort, in dem als Adressat ein gewisser Theophilos erscheint; das zweite Vorwort verweist ausdrücklich auf das erste zurück; die doppelte → „Himmelfahrtserzählung“ fungiert als eine Art Scharnier zwischen beiden Teilen; zahlreiche personelle und strukturelle Korrespondenzen sowie übergreifende Motivlinien und Themen schaffen einen engen wechselseitigen Bezug und signalisieren ein gemeinsames theologisches Profil.

Es hat jedoch lange gedauert, diese Einsicht auch für die exegetische Arbeit fruchtbar zu machen. Erst seit Beginn des 20. Jh.s bürgert es sich ein, vom „lukanischen Doppelwerk“ bzw. von „Luke-Acts“ zu sprechen. Fortan wird die lukanische Theologie nur noch anhand beider Teile gemeinsam untersucht. Durchgängige Linien lassen sich etwa mit Blick auf das große Kontinuum der Verheißungsgeschichte Gottes, der Rolle des → Heiligen Geistes, des Motivs einer „theologia viatorum“ oder einer wachen sozialen Sensibilität erkennen.

In jüngster Zeit wird diese Zusammengehörigkeit wieder diskutiert. Fragen ergeben sich vor allem hinsichtlich der generischen, kanonischen oder narrativen Einheitlichkeit des Doppelwerkes (Parsons / Pervo). Nach wie vor erweist sich indessen die Voraussetzung einer gemeinsamen theologischen Konzeption für die Interpretation beider Teile als konstitutiv.

2. Verfasser und Adressaten

Ursprünglich ist das dritte Evangelium anonym verfasst worden. Die Autorenangabe „Evangelium nach Lukas“ in der Form einer subscriptio (nachweisbar zuerst im Papyrus P75 um 200) tritt im Laufe des 2. Jh.s hinzu. "Lukas" ist in dieser Zeit ein gebräuchlicher, wenngleich nicht alltäglicher Name. Wer damit gemeint ist, bleibt zunächst offen.

In der altkirchlichen Exegese hat man unter dem „Lukas“ der subscriptio den Paulusmitarbeiter Lukas (Phlm 24) verstanden und mit dem Autor der „Wir“-Passagen in der Apostelgeschichte kombiniert; weitere, vermutlich von Phlm 24 abhängige Erwähnungen eines „Lukas“ finden sich in 2Tim 4,11 und Kol 4,14. Gegen eine solche Identifikation spricht, dass zwischen dem lukanischen Paulusbild und dem Selbstzeugnis der paulinischen Briefe gravierende Unterschiede bestehen. Das betrifft sowohl die Darstellung der Ereignisse als auch zentrale theologische Positionen. Die „Wir“-Stücke deuten eher auf die Benutzung einer Quelle hin, auch wenn in der Diskussion gerade wieder verstärkt ihre Kontextbindung vertreten wird.

Über den Autor „Lukas“ gibt allein der Text selbst Auskunft. Obwohl der Autor seinen Namen verschweigt, bringt er doch in einem stilgerechten Vorwort gleich zu Beginn sein schriftstellerisches „Ich“ pointiert zur Sprache und signalisiert damit den Anspruch, literarisch an den Konventionen der Geschichtsschreibung gemessen zu werden. Dass er ein Arzt gewesen sei (nach Kol 4,14), lässt sich nicht nachweisen; seine Kenntnis medizinischer Fachterminologie geht über ein solides Allgemeinwissen nicht hinaus. Auffällig ist, dass er sich gut im römischen Prozessrecht auskennt. Offensichtlich verfügt er über einen weiten Bildungshorizont und ist mit jüdischer Theologie sowie mit → hellenistischer Bildung gleichermaßen vertraut.

Während man früher in Lukas gern den typischen Vertreter des jungen → Heidenchristentums sah, nimmt man heute wieder sehr viel stärker seine Beheimatung in jüdischer Glaubenstradition, seine Verwurzelung in den „Schriften“ und seine detaillierte Kenntnis kultischer Vollzüge wahr. Das deutet am ehesten auf judenchristliche Herkunft hin. Vermutlich wuchs er in der Diaspora auf, vielleicht in Griechenland – wie seine geographischen Kenntnisse nahelegen könnten (Pilhofer). Immer wieder lässt seine Erzählung die Perspektive eines Städters erkennen. Die intensive Auseinandersetzung mit den Fragen von Armut und Reichtum hat Anlass zu der Vermutung gegeben, dass Lukas ein freigelassener Sklave gewesen sei (Klein, Lukasstudien, 11-40); solche Überlegungen bleiben jedoch spekulativ.

Als Adressat des Doppelwerkes tritt zunächst jener Theophilos in den Blick, den Lukas in beiden Vorworten anspricht ( Lk 1,3 / Apg 1,1). Vermutlich ist er ein wohlhabender Mäzen, der jedoch zugleich eine bestimmte Adressatengruppe repräsentiert; sein redender Name („Gottesfreund“) eröffnet weitere Identifikationsmöglichkeiten. Die „lukanische Gemeinde“ selbst bleibt schemenhaft. Im Text zu beobachtende soziale Spannungen, Rangstreitigkeiten, Verfolgungserfahrungen sowie ein unverkennbar universaler Horizont lassen wenig Spezifisches erkennen. Lukas schreibt vor einem „ökumenischen“ Horizont und scheint bereits einen überregionalen Adressatenkreis im Blick zu haben.

3. Zeit und Ort

Die Datierung des Lukasevangeliums in die Zeit um 90 n. Chr. beruht auf einem breiten Konsens. Von der Zeit der Augenzeugen trennt den Autor schon ein längerer Traditionsprozess (Lk 1,1); die Apostelgeschichte blickt auf die Jerusalemer Anfänge als ideale Urzeit zurück und betrachtet → Paulus als eine unangefochtene Größe der Vergangenheit.

Entscheidend ist der Bezug des Lukas auf das Markusevangelium, das mit großer Wahrscheinlichkeit um 70 n. Chr. verfasst wurde. Die relativ vage Voraussage der Zerstörung Jerusalems aus Mk 13,2 hat Lukas übernommen (Lk 21,6) und durch weitere Hinweise verstärkt (Lk 19,43 und Lk 21,24). Sein Selbstverständnis als Geschichtsschreiber zeigt an, dass er das Evangelium nun in einer veränderten Zeit zu Gehör bringen will. Die → Parusieerwartung hat ihre bedrängende Nähe verloren (Lk 21,36). Lukas macht Ernst mit jenem Vorbehalt aus Mk 13,10, dass zuvor erst noch allen Völkern das Evangelium verkündigt werden müsse. Diese Aufgabe entwirft er in seiner Apostelgeschichte. Der Ablösungsprozess von der → Synagogengemeinde wird sehr viel weniger emotional als bei Matthäus geschildert, was ebenfalls auf eine größere zeitliche und lokale Distanz zur Anfangszeit hindeutet.

Alternativen bleiben marginal. Frühdatierungen lösen für gewöhnlich den Bezug zu Markus auf oder nehmen an, die Apostelgeschichte sei noch vor dem Ende des Paulus (unter Nero) geschrieben. Spätdatierungen wiederum machen sich an der These fest, dass Lukas ein profilierter Vertreter „frühkatholischer“ Theologie sei und rücken ihn deshalb weiter in das 2. Jh. hinein.

Über den Abfassungsort lässt sich nur spekulieren. Vom Ende her denkt man gern an → Rom; auch eine Lokalisierung im → syrischen Raum wäre mit Blick auf die Rolle → Antiochias in der Apostelgeschichte plausibel; die guten Ortskenntnisse bringen → Griechenland ins Spiel. Am besten sieht man in Lukas wohl eine Art jüdischen Weltbürger aus der Diaspora.

4. Aufbau und Gliederung

Die Struktur des Lukasevangeliums erweist sich als ausgesprochen komplex. Ihre Nachzeichnung setzt eine Vielzahl exegetischer Einzelentscheidungen voraus. In der Literatur finden sich deshalb auch ganz unterschiedliche Vorschläge zur Gliederung des Textes.

Als große, in sich geschlossene Blöcke lassen sich die Geburtsgeschichte, Passionsgeschichte und Ostergeschichte erkennen. Das öffentliche Auftreten Jesu scheint grundlegend an der geographischen Gegenüberstellung von Galiläa und Jerusalem orientiert zu sein. Besonders auffällig ist die überdimensionale Ausdehnung des Weges nach Jerusalem, der nun deutlich als eine Art Herzstück des Evangeliums erscheint. Während der → Galiläateil vor allem von Grundlegungen bestimmt und der Jerusalemteil Polarisierungen vorbehalten ist, geht es in der Phase des Weges um Entscheidungen, die das Leben der christlichen Gemeinde betreffen. Damit zeichnet sich etwa die untenstehende Grobgliederung ab.

lukasevangelium1

Die größten Diskussionen gibt es hinsichtlich des „Reiseberichtes“ bzw. der „central section“ bzw. der „Wegphase“. Der Anfang lässt sich mit Lk 9,51 relativ klar bestimmen. Für den Abschluss gibt es jedoch wenigstens sechs verschiedene Vorschläge. Am ehesten überzeugt ein Abschluss des Weges nach Lk 19,40 mit dem so genannten „Einzug in Jerusalem“, der Jesus bis vor die Tore der Stadt führt. Gegenwärtig steht jedoch die Existenz eines solchen Mittelteiles überhaupt zur Disposition. Wenn es hier – worin die meisten Auslegungen übereinstimmen – nicht um die reale Darstellung eines Reiseweges, sondern um eine theologisch orientierte Darstellung des Weges der christlichen Gemeinde geht, dann ist auch eine geographische Fixierung nicht zwingend. Deshalb wird die geographische Struktur preisgegeben, um den Text allein nach größeren thematischen Einheiten bzw. nach „erzählerischen Sammelbecken“ (Wolter, Lukasevangelium) zu strukturieren. Im Gegenzug gibt es wiederum Versuche, in der „central section“ eine Ringkomposition zu ermitteln – ohne dass dabei bislang jedoch ein Konsens erzielt worden wäre. Manche Kommentare lösen generell jede Gliederung auf und behandeln lediglich die eindeutig abgrenzbaren Einzelperikopen in fortlaufender Folge.

Lukas ist kein Redaktor, der lediglich Quellen oder Versatzstücke aneinanderreiht. Seine Ordnung des Stoffes folgt einem Konzept, das ein eigenständiges theologisches Profil erkennen lässt.

5. Quellen und Traditionen

5.1. Der Quellenbefund nach der 2-Quellen-Theorie

Lukas selbst weist in seinem Vorwort darauf hin, dass er Vorgänger hat und Quellen benutzt (Lk 1,1-4). Einige lassen sich davon auch noch genauer bestimmen – wofür die → Zwei-Quellen-Theorie in methodischer Hinsicht den Rahmen abgibt.

5.1.1. Markus

Grundlegende Bedeutung hat der Bezug auf das Markusevangelium, dessen Stoff Lukas weitgehend übernimmt und – von einigen markanten Umstellungen abgesehen – auch in seiner Abfolge beibehält. An zwei Stellen lässt er Stoff aus:

Entweder hat Lukas diese Texte bewusst übergangen, oder er hat sie in seiner Markus-Vorlage gar nicht vorgefunden. Im letzteren Falle stellt sich die Frage: Waren sie darin noch nicht oder nicht mehr enthalten? Hier setzt die Diskussion um einen Protomarkus und Deuteromarkus an.

5.1.2. Logienquelle

Zusätzlich greift Lukas auf die sogenannte → Logienquelle (Q) zurück, deren Stoff er blockweise in den Markustext einfügt. An zwei Stellen finden sich Q-Stoffe in besonderer Dichte:

  • „kleine Einschaltung“: Lk 6,20-8,3 – dazu gehört im Wesentlichen die „Feldrede“
  • „große Einschaltung“: Lk 9,51-18,14 – sie macht den größten Teil der Wegphase aus

Eine genauere Abgrenzung der Q-Stoffe fällt schwer. Der Optimismus präziser Rekonstruktionen ist heute eher einer verbreiteten Skepsis gewichen. Zwar lässt sich der Kernbestand einer gemeinsamen Quelle wahrscheinlich machen. Dennoch bleiben Grauzonen und Unschärfen bestehen.

5.1.3. Sondergut

Das sogenannte „Sondergut“ wird ganz besonders kontrovers diskutiert. Es nimmt nahezu die Hälfte des Stoffes ein (548 von 1149 Versen). Anfang und Ende des Evangeliums sind komplett daraus gespeist (Lk 1-2 und Lk 24); ansonsten findet es sich in den beiden Einschaltungen gern mit Q-Stoffen verbunden. Lange Zeit hat man darin eine Quelle eigenen Ranges mit eigenem theologischem Profil gesehen und zum Leitstern für die gesamte Konzeption des Lukas gemacht. Inzwischen schwingt das Pendel nach der anderen Seite. Das Sondergut stellt nichts anderes als eine „Restkategorie“ dar (Wolter, Lukasevangelium), die lediglich das enthält, was übrig bleibt.

5.2. Proto-Lukas-Hypothese und Elia-Elisa-Erzählkranz

Eine eigenständige Lösung der Quellenfrage stellt die Proto-Lukas-Hypothese (Streeter; Taylor) dar. Sie nimmt an, dass Lukas aus Logienquelle und Sondergut eine mit Markus zeitgleich entstandene Schrift geschaffen habe. Erst später sei dann der Markusstoff eingefügt und die Geburtsgeschichte vorgeschaltet worden – gleichsam als Lukas in zweiter, erweiterter Auflage. Eine andere Variante geht von einer Urfassung des Evangelienstoffes im Umfang von Lk 1 bis Apg 15 aus, die an dem Erzählkranz um → Elia und → Elisa orientiert gewesen sei (Brodie). Diese Lösungsversuche haben sich nicht durchsetzen können.

5.3. Ähnlichkeiten zwischen Lukas und Johannes

Auffällig sind auch die zahlreichen Berührungen zwischen Lukas und Johannes. Sie begegnen weniger in den großen Strukturen als in den sogenannten „Parallelperikopen“ (Schniewind) sowie in einer Fülle überraschender Details.

Parallelperikopen: Lk 5,1-11 / Joh 21,1-13 (Fischfangwunder); Lk 7,1-10 / Joh 4,46-54 (Hauptmann von Kafarnaum / Sohn des königlichen Beamten); Lk 7,36-50, Lk 10,38-42 / Joh 12,1-8 (Salbungsgeschichte mit Maria und Marta); Lk 24,36-49 / Joh 20,19-29 (Erscheinung im Schülerkreis).

Details: Lk 3,20 / Joh 3,24 (nur Gefangennahme des Täufers); Lk 6,16 / Joh 14,22 (zwei Männer namens Judas im Zwölferkreis); Lk 9,52-56 u.ö. / Joh 4 (Interesse an den Samaritanern); Lk 19,39 / Joh 12,13 (Königs-Proklamation beim Einzug); Lk 22,3 / Joh 13,2.27 (Satan fährt in Judas); Lk 22,27 / Joh 13,3-5 (Jesus als der bei Tisch Dienende); Lk 22,21-38 / Joh 14-17 (Mahlgespräche); Lk 23,4.14.22 / Joh 18,38; Joh 19,4.6 (dreifache Unschuldserklärung des Pilatus); Lk 23,53 / Joh 19,41 (ein noch unbenutztes Grab); Lk 24,9-11 / Joh 20,18 (Frauen übermitteln die Auferstehungsbotschaft); Lk 24,12 / Joh 20,3-10 (→ Petrus überprüft die Botschaft vom leeren Grab); Lk 24,39 / Joh 20,27 (Berührung des Auferstandenen); Lk 24,41-43 / Joh 21,5.12-13 (der Auferstandene isst); Lk 24,49 / Joh 20,22 (Geistverheißung / Geistverleihung)

Die wahrscheinlichste Erklärung bietet nach wie vor die Annahme, dass Johannes und Lukas unabhängig von einander auf gemeinsame Traditionen zurückgreifen.

6. Sprache und Stil

Unter den → Evangelisten gilt Lukas als der versierteste Stilist. Das gilt nicht nur für sein Vorwort, sondern auch für die zahlreichen Verbesserungen, mit denen er am Text des Markus arbeitet.

Lukas verfügt über einen deutlich größeren Wortschatz als die anderen Evangelisten; er bedient sich gern der gehobenen Literatursprache und vermeidet Vulgarismen, ersetzt lateinische Lehnworte weitgehend durch ihre griechischen Äquivalente und tilgt Semitismen. Dieser Wortschatz ist vielfach untersucht worden (Jeremias; Denaux). Demnach gehört der Evangelist einer Bildungsschicht an, für die er den überlieferten Stoff auch sprachlich neu zu erschließen versucht.

In stilistischer Hinsicht meidet Lukas das erzählende Präsens, liebt Partizipialkonstruktionen oder operiert mit indirekter Rede; in der Apostelgeschichte brilliert er mit Zitaten und Anspielungen aus der klassischen Literatur (z.B. Apg 17; Apg 26,14; Apg 20,35). Dennoch favorisiert er eine Diktion, die an der Septuaginta orientiert ist und den Klang „biblischer“, traditioneller Erzählweise pflegt.

7. Textüberlieferung

Der größte Teil des Textes ist fragmentarisch bereits durch Papyri bezeugt. Als ältester und bedeutendster Zeuge gilt der P 75 (um 200 n. Chr.). Vollständig liegt der Text vom 4. Jh. an in den großen → Pergamentcodices vor. Besonders wichtig sind der Vaticanus (B03), der Sinaiticus (א01) und der Alexandrinus (A02); Codex Bezae (D05) ist für die Apostelgeschichte deutlich interessanter als für das Evangelium.

Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Textfassung des → Markion (Mitte 2. Jh.), die nur noch aus Kirchenväterzitaten rekonstruiert werden kann, eine Kürzung oder die Urform des später bezeugten kanonischen Textes darstellt. Wichtig für die Textgeschichte sind auch verschiedene Zitate und Anspielungen bei → Justin (†165).

An einigen wenigen Stellen gibt es theologisch belangvolle Varianten, die in jedem Falle zu berücksichtigen sind:

Lk 22,15-20: Besonders weitreichende theologische Konsequenzen hat die Überlieferung des Abendmahlsberichts, in dem sich ein „Langtext“ (die vorliegende Form) und ein „Kurztext“ (Lk 22,17-19a, d.h. nur bis „das ist mein Leib“) gegenüberstehen. Zum einen kehrt sich im Kurztext die Reihenfolge von Brot und Becher um; zum anderen geht damit der Hinweis auf das soteriologisch bedeutsame „für euch“ verloren.

Lk 22,43-44: Die Erscheinung eines Engels in Getsemani und der Blutschweiß Jesus fehlen in einem großen Teil alter und gewichtiger Textzeugen.

Lk 23,34a: Das Gebetswort Jesu am Kreuz („Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“) wird nur von einem Teil der Handschriften geboten.

Lk 24,12: Den Gang des Petrus zum Grab lassen der Codex D und einige altlateinische Zeugen aus.

Lk 24,50-53: In der Himmelfahrtserzählung gibt es textliche Unsicherheiten gegenüber den Wendungen „und wurde in den Himmel aufgehoben“ sowie „nachdem sie vor ihm niedergefallen waren“.

8. Theologische Schwerpunkte

Das besondere theologische Profil des Lukas kommt in einer Reihe von Motivlinien zum Ausdruck, die das gesamte Doppelwerk durchziehen und die sich in den folgenden Themenbereichen zusammenfassen lassen.

8.1. Zeit und Geschichte

Lukas zeigt ein besonders sensibles Gespür für die Bedeutung der Zeit. Sie ist das Strukturelement der Geschichte; zugleich steht sie der Wirklichkeit Gottes gegenüber, die außerhalb von Raum und Zeit existiert.

Seiner Erzählung hat Lukas ein geschichtliches Periodenschema zugrunde gelegt. Dessen Dreiteilung nach den Abschnitten Zeit Israels, Zeit Jesu und Zeit der Kirche (Conzelmann) wird heute jedoch nicht mehr vertreten. Die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche gehören ebenso eng zusammen wie das Auftreten Jesu und die Geschichte Israels. Vielmehr entwirft Lukas die Geschichte einer einzigen großen Epoche als „Vorgeschichte seiner Gegenwart“ (Wolter, Epochengeschichte).

Die Geschichte folgt für Lukas einem göttlichen Plan, der vor allem durch das Wörtchen δεῖ dei („es muss sein / geschehen“) angezeigt wird. Alles, was geschieht, steht unter der Regie Gottes. Ob man dafür allerdings den Begriff der „Heilsgeschichte“ verwenden sollte, ist zunehmend umstritten (Reinmuth).

Die „Königsherrschaft Gottes“, die im Zentrum der Botschaft Jesu steht, ist eine spannungsvolle Größe: sie ist gegenwärtig, oder im Anbruch begriffen, oder erst in der Zukunft zu erwarten. Ihre zeitliche Bestimmung lässt sich am besten durch die Formel „schon erfüllt, aber noch nicht vollendet“ (Cullmann) beschreiben.

8.2. Gott und Mensch

In der Vaterprädikation findet das lukanische Gottesbild seinen dichtesten Ausdruck. Die Vater-Anrede gibt Jesus in seiner Gebetsunterweisung weiter ( Lk 11,1-13), weil sich darin die Zuwendung und Fürsorge Gottes auf kürzeste Weise zum Ausdruck bringen lässt. Gerade in seiner Barmherzigkeit wird Gott auch als Vorbild zur Nachahmung empfohlen (Lk 6,36).

Das lukanische Werk ist von einer sorgfältig konzipierten → Wort-Gottes-Theologie geprägt (März): Gottes Wort wird von den Propheten ausgerichtet, ist zugänglich in den „Schriften“, wird von dem Propheten aus Nazareth aufgenommen und von seinen Schülern (den „Aposteln“ und „Zeugen“) weitergetragen bis an die Enden der Erde. So wird es zur Bezugs- und Orientierungsgröße christlichen Lebens. Die Begegnung mit Jesus, der in göttlicher Vollmacht spricht und handelt, ist letztlich eine Begegnung mit Gott selbst: „Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden! und: Gott hat sein Volk besucht (Lk 7,16)!“

Vor Gott steht der Mensch als ein Sünder da. → „ Sünde“ wird jedoch – anders als bei Paulus – nicht als transpersonale Macht verstanden. Sünde ist für Lukas die Summe der Verfehlungen, die von Gott entfernt. Auf die Überwindung dieser Entfernung zielen die zahlreichen Sündergeschichten, unter denen noch einmal die → Zöllnergeschichten eine besondere Gruppe darstellen. Lukas geht jedoch davon aus, dass es auch Gerechte gibt, „die der Umkehr nicht bedürfen“ (Lk 15,7; vgl. dazu Lk 5,31-32). Hier setzt die Diskussion an, ob der Mensch auch bei Lukas als ein salvandus oder doch eher als ein corrigendus zu betrachten sei (Taeger).

Das Stichwort „Umkehr“ (μετάνοια metanoia) spielt für Lukas eine wichtige Rolle. Von der Predigt des Täufers über die Botschaft Jesu bis hin zu den Reden eines Petrus oder Paulus begleitet die Aufforderung zur Umkehr die Verkündigung der frohen Botschaft (programmatisch in Lk 5,32). Einen ihrer Höhepunkte erreicht sie in Lk 15. Dabei laufen stets zwei Bewegungen aufeinander zu: Gott kommt dem Sünder entgegen, der Sünder öffnet sich dieser Begegnung im Glauben. Insofern favorisiert und vervielfacht Lukas auch die Formel „dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 7,50; Lk 8,48; Lk 17,19; Lk 18,42). Die Zuwendung Gottes im Auftreten → Jesu von Nazareth gilt in erster Linie den Sündern und integriert sie von neuem in das Volk Gottes.

8.3. Jesus Christus Gottessohn

Eine der christologischen Grundlinien nimmt zunächst die Erwartung des Volkes auf, in Jesus einen Propheten zu sehen ( Lk 9,7-8.18-19). Lukas hat diese Linie weiter ausgestaltet und mit Bezügen auf die Erzählungen um Elia und Elisa unterlegt. Ihre Hauptfunktion besteht darin, Jesus in der Hoffnungsgeschichte Israels zu verwurzeln. Das → Messiasbekenntnis des → Petrus (Lk 9,18-22) geht einen Schritt weiter: Als der „Messias Gottes“ übertrifft der Prophet aus → Nazareth die großen Hoffnungen noch einmal, die sich an einen Propheten wie → Mose (Apg 3,22; Apg 7,37) oder Elia knüpfen. Die Messiaserwartung ist längst eingeführt (Lk 2,11.26; Lk 3,15); in einem Streitgespräch wird sie unter dem Stichwort des „Davidsohns“ verhandelt (Lk 20,41-44); in der Passionsgeschichte wird sie erneut thematisiert (Lk 22,67; Lk 23,2.35.39). Der Auferstandene selbst nimmt darauf ausdrücklich Bezug (Lk 24,26.46). Die Titel des „Menschensohnes“ und des „Gottessohnes“ sind mit dem Messiastitel koordiniert.

In der lukanischen Passionsgeschichte trägt nicht der äußerste Tiefpunkt menschlicher Existenz, sondern die Hoheit des Gottessohnes den Ton. Am Kreuz stirbt Jesus nicht mit dem Schrei der Gottverlassenheit ( Mk 15,34 = Ps 22,2), sondern mit einem vertrauensvollen Gebetswort (Lk 23,46 = Ps 31,6). Die Geißelung wird nur angedeutet, von einer → Dornenkrone ist keine Rede. Stattdessen stärkt Lukas die hoheitsvollen Züge Jesu, den er als einen vorbildlichen → Märtyrer darstellt.

Großen Wert legt Lukas auf das Gebetsleben Jesu. Immer wieder zeigt er ihn am Beginn von Schlüsselszenen in Gebetssituationen ( Lk 3,21; Lk 4,42; Lk 5,16; Lk 6,12; Lk 9,18.28-29; Lk 11,1; Lk 22,32.39-46; Lk 23,34.46); dem korrespondieren weitere wichtige Gebetsunterweisungen (z.B. Lk 11,1-13; Lk 18,1-8.9-14; Lk 19,46). Ebenso schildert er ihn als einen, der fremde Not wahrnimmt, mitfühlt und pastorale Verantwortung übernimmt (z.B. Lk 7,13.44-48; Lk 22,32; Lk 23,43). Der „Heilige Gottes“ (Lk 4,34) erscheint nicht als der Erhabene und Ferne, sondern als der Niedrige und Nahe. Unter seinen Schülern verhält er sich als ein „Dienender“ (Lk 22,27).

8.4. Reichtum und Armut

Der Umgang mit materiellen Gütern steht im Zentrum der lukanischen Ethik. Lukas vertritt nicht – wie lange behauptet – ein Armutsideal. Vielmehr lautet seine Position: Armut soll es nach Gottes Willen nicht geben. Er ergreift Partei für die Notleidenden und mahnt die Reichen. Der Anspruch aus Dtn 15,4: „Denn es soll unter dir keinen Bedürftigen (ἐνδεής endeēs) geben.“ wird nach Apg 4,34 in der christlichen Gemeinde eingelöst: „Denn es gab unter ihnen keinen Bedürftigen (ἐνδεής endeēs)“.

Als Begriff für „arm“ favorisiert Lukas πτωχός ptōchos („bettelarm“) in scharfem Kontrast zu dem Begriff πλούσιος plousios („reich“). Durchgängig geht es ihm darum, zu einem sozialgerechten Verhalten und zu einer Ethik des Teilens je nach Bedarf (Apg 2,45; Apg 4,35) aufzufordern. Materielle Güter werden nicht wie bei den Kynikern pauschal abgewertet; der „Mammon“ (Lk 16,9.11.13) trennt nur dann von Gott, wenn er gehortet anstatt für die Notleidenden eingesetzt wird. Lukas vertritt keine Option für die Armut, sondern für die Armen. Das hat gerade die lateinamerikanische Befreiungstheologie ganz neu entdeckt.

8.5. Gottesvolk und Kirche

Die Geschichte Jesu aus Nazareth ist Teil der Geschichte Israels. Der Tempel bleibt von Anfang bis zum Schluss der Erzählung ein Ort der Heilsoffenbarung Gottes (Ganser-Kerperin). Das Kind Jesus wächst in einem frommen Elternhaus auf; der Erwachsene geht in die Synagoge „nach seiner Gewohnheit“ ( Lk 4,16). In der Synagoge finden Heilungen statt (Lk 4,31-37; Lk 6,6-11; Lk 13,10-17); hier setzt auch die urchristliche Missionspredigt an (Lk 4,44; Apg 13,14; Apg 14,1; Apg 17,1.10.17; Apg 18,4.19.26; Apg 19,8); mit einer Rede an die jüdischen Autoritäten in Rom endet die Apostelgeschichte (Apg 28,23-28).

Die Sendung Jesu besteht in der Sammlung Israels. Mit der Etablierung des Zwölferkreises vollzieht Jesus eine prophetische Zeichenhandlung ( Lk 6,12-19), die auf das → Zwölfstämmevolk Israel (Apg 26,7) als die maßgebliche Zielgruppe und Bezugsgröße verweist. Diese Sammlung setzt bei den „Verlorenen“ an, die aus kultischen, religiösen oder sozialen Gründen von der Gemeinschaft getrennt sind und betreibt ihre Reintegration. Lukas setzt hier noch einmal eigene Akzente: Nur die „Zwölf“ sind für ihn „Apostel“; ihre zeichenhafte Ausrichtung auf Israel bleibt auch nach Ostern bestehen, weshalb eine Nachwahl für Judas notwendig wird (Apg 1,15-26).

Aus dieser Sammlung Israels wächst die Kirche hervor (Lohfink), deren Ausbreitung immer weitere Kreise zieht – von der Synagoge über verschiedene Randgruppen bis hin zu den → Samaritanern, die für Lukas (im Unterschied zu Matthäus) noch immer ein Teil des Gottesvolkes Israel sind. Der wichtigste Schritt ist derjenige über die Grenzen Israels hinaus, den Lukas mit Petrus verbindet und in der Korneliusepisode (Apg 10-11) gestaltet. Der universale Horizont des Lukas tritt indessen schon früh in den Blick (Lk 2,32), bevor er sich zum Schluss zu voller Breite öffnet (Apg 28).

8.6. Geist und Glaube

Gottes Geist ist die Triebkraft aller Ereignisse. Er hat durch die Propheten geredet und kommt auch weiterhin in dem Wort der „Schriften“ zur Sprache. Auch Jesu Ursprung liegt in diesem Geist ( Lk 2,35). Vom Geist erfüllt reden und handeln alle maßgeblichen Protagonisten. Er visualisiert die Proklamation der Gottessohnschaft Jesu in der Taufe (Lk 3,22) und führt Jesus zur Bewährung in die Wüste und wieder zurück (Lk 4,1.14). Am Ende der Gebetsunterweisung wird er allen verheißen, die darum bitten (Lk 11,13) und tritt als Anwalt in Verfolgungssituationen auf (Lk 12,12). Der Auferstandene stellt ihn noch einmal seinen Schülerinnen und Schülern in Aussicht (Lk 24,49 – „Kraft aus der Höhe“), bevor in der Pfingsterzählung der Geist in Erfüllung von Jo 3,1-5 auf alle Glaubenden „ausgegossen“ wird (Apg 2).

Glaube erscheint grundsätzlich als ein Beziehungsgeschehen und wird in Heilungsgeschichten, Streitgesprächen, → Gleichnissen, Logien, Missionsreden und Missionsepisoden oder in der Charakterisierung von Personen thematisiert. Glaube wird stets herausgefordert oder hervorgelockt. Er setzt in Beziehung zu Gott oder zu Jesus Christus im Sinne personalen Vertrauens. Großen Nachdruck legt Lukas auf die Formel, dass Glaube auch Rettung bewirkt. Er weiß um die Gefährdungen, denen der Glaube ausgesetzt ist. Vor allem aber geht es ihm darum, dass der Glaube zum Handeln motiviert und in sozialgerechtem Verhalten sichtbaren Ausdruck gewinnt.

8.7. Theologia Viatorum

Lukas entwickelt eine wohlkalkulierte Wegmetaphorik. Ihren strukturellen Anhalt findet sie an der geographischen Ausrichtung der Erzählung – also an dem Weg von Galiläa nach Jerusalem und dann darüber hinaus „bis an die Enden der Erde“ ( Apg 1,8).

Zunächst spiegelt sie auf der Erzählebene schlicht die erstaunliche Mobilität der frühen Christenheit wider. Alle Figuren sind ständig unterwegs. Die Welt wird klein angesichts der Bedeutung ihrer Botschaft, die auf Verbreitung aus ist. Nicht zufällig ist ein Itinerar mit der Auflistung von Reisestationen eine der wichtigsten Quellen der Apostelgeschichte.

Das christologischer Schema der Sendung Jesu bedient sich ebenfalls der Wegmetaphorik: Jesu Ursprung liegt im Geist Gottes, sein Ziel in der Entrückung zu Gott selbst. Der Weg nach Jerusalem und der Ausgang (ἔξοδος exodos) (Lk 9,31), der ihn dort erwartet, weist unter dem Stichwort der Hinaufnahme (ἀνάλημψις analēmpsis) (Lk 9,51) schon über Passion und Ostern hinaus. Der Auferstandene erscheint seinen Anhängern auf dem Weg und verhilft ihnen in Weggesprächen zur Bewältigung ihrer Ostererfahrung (Lk 24,13-35).

Auch die lukanische Ethik insgesamt entfaltet sich maßgeblich in Weggesprächen. Der lange Weg nach Jerusalem ( Lk 9,51-19,40) braucht deshalb so viel Raum, weil er der Unterweisung der christlichen Gemeinde vorbehalten ist. Christliches Leben versetzt in Bewegung und motiviert zum Aufbruch. Wer die Hand an den Pflug legt und zurückblickt, ist dafür ungeeignet (Lk 9,62).

Das Wegmotiv hat schließlich auch ekklesiologische Relevanz. Die Ausbreitung des Evangeliums, in deren Zuge die Kirche entsteht, erscheint als ein Prozess fortwährender Grenzüberschreitungen – deren wichtigste im Hause des Kornelius (Apg 10-11) erfolgt. Dieser Weg der Verkündigung gewinnt eine zunehmende Dynamik und erreicht in der Verhaftungs- und Schiffbruchsgeschichte des Paulus (Apg 27-28) seinen dramatischen Höhepunkt: Nichts und niemand vermag diesen Weg aufzuhalten. Das entspricht auch dem Selbstverständnis der christl. Gemeinde, die sich als „der Weg“ oder als „diejenigen, die auf dem Wege sind“ zu bezeichnen vermag ( Apg 9,2; Apg 19,9.23; Apg 2,4; Apg 24,14.22).

8.8. Erzählfiguren

Das Werk des Lukas zeichnet sich auch durch die Stilisierung einer ganzen Reihe von Erzählfiguren aus, die sein theologisches Programm repräsentieren. Das betrifft z.B. „Gerechte“ des Gottesvolkes Israel wie → Zacharias (Lk 1,5-6), Simeon (Lk 2,25), → Hanna (Lk 2,38), → Josef von Arimathäa (Lk 23,51) oder die Schilderung des Paulus im zweiten Teil der Apostelgeschichte. Im Folgenden sollen nur drei Figuren exemplarisch benannt werden.

Johannes der Täufer (siehe auch: → Johannes der Täufer) wird so wie Jesus selbst schon mit einer Geburtsgeschichte eingeführt. Seine Rolle als Vorläufer haftet nicht mehr nur an der Elia-Typologie, sondern schon an der Beziehung der Kinder Johannes und Jesus und wird durch das Benedictus (Lk 1,67-79) theologisch gedeutet. Das asketische Erscheinungsbild des Täufers sowie sein gewaltsames Ende übergeht Lukas. Dafür erweitert er das Bild des Gerichtspredigers um den Zug des Weisheitslehrers: In der sogenannten „Standespredigt“ (Lk 3,10-14) mahnt der Täufer sozialgerechtes Handeln an – und verkündet damit schon „Evangelium“ (Lk 3,18), noch bevor Jesus selbst (Lk 4,18) oder seine Schüler (Lk 9,2.6 / Lk 10,9.11) mit dem Evangelium auftreten. So wird er vom Vorläufer zu einem vorauseilenden Nachfolger.

Maria, die Mutter Jesu, (siehe auch: → Maria, Mutter Jesu) steht in einer durchgängig positiven Beziehung zu ihrem Sohn. Den Familienkonflikt aus Mk 3,20-21.31-35 („Er ist verrückt!“), nimmt Lukas zurück (Lk 8,31-33). In der Geburtsgeschichte spielt die Mutter die entscheidende Rolle (anders als bei Matthäus der Vater). Maria ist Adressatin der Geburtsankündigung (Lk 1,26-38); sie wird von Elisabeth (Lk 1,40-45) und später von einer anonymen Frau aus dem Volk (Lk 11,27-28) seliggepriesen; sie stimmt einen theologisch gehaltvollen Hymnus an (Lk 1,46-55) und „bewegt alle diese Worte in ihrem Herzen“ (Lk 2,19.51). Simeon richtet Voraussagen an die Mutter, die ihren künftigen Schmerz andeuten (Lk 2,34-35). Während der Passions- und Osterereignisse bleibt sie unsichtbar, begegnet jedoch schon bald ganz selbstverständlich im Jerusalemer Kreis der Apostel (Apg 1,14). Ihre spätere kirchliche Hochschätzung als „Gottesmutter“ findet bei Lukas (neben Johannes) die dankbarsten biblischen Haftpunkte.

Petrus (siehe auch: → Petrus) spielt bei Lukas eine ganz besondere Rolle. Als der „Erstapostel“ geht er stets voraus, ergreift als erster das Wort und die Initiative und ist an allen Schlüsselszenen der Erzählung zur Stelle: Er ist der zuerst Berufene (Lk 5,1-11), der erste Bekenner (Lk 9,18-22), der erste männliche Zeuge des leeren Grabes (Lk 24,12), der erste Zeuge des Auferstandenen (Lk 24,34), der erste Verkündiger der Auferstehungsbotschaft (Apg 2,14-36), der erste Völkermissionar (Apg 10-11). Während der Tischgespräche beim Mahl erhält er den pastoralen Auftrag, „die Brüder zu stärken“ (Lk 22,32). In der Jerusalemer Gemeinde übernimmt er nach Ostern Leitungsverantwortung und engagiert sich in der Verkündigung (Apg 1-11), bis er nach seiner wunderbaren Befreiung aus der Haft ganz aus dem Blickfeld verschwindet (Apg 12,17). In jenen Szenen, die Petrus als ambivalenten Charakter zeigen, entschärft Lukas die Kontraste und mildert vor allem sein Versagen in der Passionsgeschichte ab. In der Apostelgeschichte zeigt er ihn als den, der Konflikte zu lösen versteht. Die spätere kirchliche Hochschätzung des Petrus findet in dem lukanischen Petrusbild einen starken Rückhalt.

9. Linien der Rezeption

Erstmals nachweisen lässt sich die Benutzung des Lukasevangeliums in der Mitte des 2. Jh.s bei Markion und Justin. Von da an findet es rasche Verbreitung. Kommentare in Form von Homiliensammlungen schreiben → Origenes (4. Jh.), → Ambrosius von Mailand (4. Jh.), Kyrill von Alexandria (5. Jh.) und Beda Venerabilis (6. / 7. Jh.). Dennoch steht Lukas in der Frühzeit noch deutlich hinter Matthäus oder Johannes zurück.

Eusebius von Cäsarea (ca. 260-340) schließt sich in seiner Kirchengeschichte eng an Lukas an und etabliert dessen Ruf als des ersten Historikers. Auf diese Weise wird Lukas für lange Zeit zu einem Gewährsmann christlicher Geschichtsschreibung überhaupt.

Die Liturgiegeschichte sowie die Entstehung des Kirchenjahres erhält von dem lukanischen Werk wichtige Impulse. Zum einen entwickeln die hymnischen Passagen aus Lk 1-2 eine ganz eigene Dynamik für die spätere Hymnologie; zum anderen helfen Feste wie Himmelfahrt und → Pfingsten mit den dazugehörigen Fristen, den Festkalender zu komplettieren und zu strukturieren.

Bis an die Neuzeit heran (und weit darüber hinaus) gilt Lukas vor allem als Theologe einer „Heilsgeschichte“. Für die reformatorische Theologie wird er zum Zeugen der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Größere theologische Kontroversen gibt es nicht. Erst um die Mitte des 20. Jh.s gerät Lukas relativ unerwartet in das Visier einer massiven theologischen Sachkritik.

10. Wege der Forschung

Im Kontext einer grundlegenden Neuorientierung der christlichen Theologie kommt es in den 50er und 60er Jahren auch zu einer Diskussion um den Evangelisten Lukas, die wenigstens 30 Jahre lang kontrovers und vehement geführt wird (Kümmel). Dabei spielt methodisch vor allem die noch junge Redaktionskritik eine wichtige Rolle.

Gegenüber dem Theologen Lukas macht man in dieser Diskussion eine ganze Reihe von Kritikpunkten geltend. Lukas habe:

  • an die Stelle urchristlicher Apokalyptik eine Geschichtstheologie gesetzt,
  • eine frühkatholische Traditions- und Legitimationstheologie propagiert,
  • die theologia crucis durch eine theologia gloriae verdrängt,
  • das urchristliche Kerygma weitgehend preisgegeben.

Im Einzelnen geht es dabei um:

  • den Verzicht auf die Naherwartung der Parusie Christi,
  • den Verlust einer Heilsbedeutung des Todes Jesu zugunsten einer Märtyrerideologie,
  • die Bedeutung von Werken für die Ethik
  • das Interesse an apostolischer Tradition.

Die „Historisierung“ des Stoffes, die Lukas von der Apostelgeschichte auch auf die Jesus-Christus-Geschichte der Evangelien übertrage, laufe Gefahr, die „Wahrheit des Evangeliums“ ( Gal 2,5.14) auf das Zutrauen in bloße Fakten zu reduzieren.

Für diese Sicht sind zwei Grundüberzeugungen leitend: Zum einen fungiert Paulus als Maßstab, an dem nun auch Lukas gemessen wird. Zum anderen betrachtet man Lukas als einen Vertreter des „Frühkatholizismus“ und ordnet ihn damit einer eher negativ bewerteten Phase der frühen Kirchengeschichte zu. Besonders kontrovers und weit über den exegetischen Bereich hinaus wird der Begriff einer „Heilsgeschichte“ diskutiert. Auch die Apostelgeschichte ist in diesen Diskurs mit eingeschlossen

Erst allmählich schwingt das Pendel wieder zurück. Man erkennt, dass der lukanische Entwurf sein eigenes Recht hat und unabhängig von Paulus zu bewerten ist. Vor allem aber ändert sich die Beurteilung jener Übergangszeit in der 2. / 3. Generation, deren theologische Leistung man wieder zunehmend positiver zu würdigen bereit ist. Das große Verdienst des Lukas besteht darin, christliche Identität unter veränderten Umständen bewahrt und zukunftsfähig gemacht zu haben. Die Kontroverse ebbt ab, als auch die redaktionsgeschichtliche Methode in die Kritik gerät und neuen methodischen, namentlich narratologischen Zugängen Platz machen muss. Lukas bedarf keiner Verteidigung. Seine Stimme nimmt im Konzert neutestamentlicher Theologie einen unverzichtbaren Platz ein.

Mit diesem Perspektivenwechsel geht ein erneuter Aufschwung der Lukasforschung einher, der sich in einer längst unüberschaubar gewordenen Literatur niederschlägt. Darüber geben vor allem die jüngeren Kommentare von F. Bovon (1989 / 1996 / 2001 / 2009), H. Klein (2006) und M. Wolter (2008) Auskunft. Auch hier gibt es eine Parallele in der Exegese der Apostelgeschichte.

Heute besteht über die folgenden Punkte weitgehend Konsens: Lukas ist ein in den Schriften verwurzelter Judenchrist, der mit seinem „Evangelium“ den Schritt in die Völkerwelt vollzieht. Neu stellt sich dabei die Frage nach seiner Beziehung gegenüber Israels, die ambivalente Züge trägt. Der alte Vorwurf, Lukas habe die Heilsbedeutung des Todes Jesu unterbewertet, wird inzwischen deutlich relativiert (Mittmann-Richert): Er spricht über den Tod Jesu anders als Paulus, aber er misst ihm deshalb nicht weniger Bedeutung im Sinne eines effektiven Sterbens zu. Die lukanische Christologie ist allein im Kontext frühjüdischer Theologie zu verstehen. Auch die Sicht des römischen Staates ist eine differenziertere geworden: Hier versteht Lukas durchaus auch kritische Töne anzuschlagen.

Literaturverzeichnis

Die Literatur ist gerade in letzter Zeit ins Uferlose gewachsen – umfassende Bibliographien bieten die jüngsten Kommentare von Bovon, Klein und Wolter. vgl. ferner:

1. Kommentare (die wichtigsten aus jüngerer Zeit – chronologisch)

  • Schürmann, H., 1969, Das Lukasevangelium [Bd. 1: Lk 1,1-9,50], HThK III / 1.2, Freiburg 1994 [Bd. 1: Lk 1,1-9,50; Bd. 2: Lk 9,51-11,54].
  • Schürmann, H., 1994, Das Lukasevangelium [Bd. 2: Lk 9,51-11,54], HThK III / 2.2, Freiburg
  • Ernst, J., 1977, Das Evangelium nach Lukas, RNT 3, Regensburg
  • Schneider, G., 1977, Das Evangelium nach Lukas, ÖTK 3 / 1.2, Gütersloh
  • Schmithals, W., 1980, Das Evangelium nach Lukas, ZBK 3.1, Zürich
  • Fitzmyer, J.A., 1981 / 85 The Gospel According to Luke I / II, AncB 28, New York
  • Schweizer, E., 1982, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen
  • Bovon, F., 1989 / 1996 / 2001 / 2009, Das Evangelium nach Lukas I-IV, EKK III / 1.2.3.4, Zürich / Neukirchen
  • Johnson, L.T., 1991, The Gospel of Luke, Sacra Pagina Series 3, Collegeville
  • Bock, D.L., 1994 / 1996, Luke I / II, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids
  • Dillmann, R. / Paz, C.M., 2000, Das Lukasevangelium. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart
  • Löning, K., I 1997, II 2006, Das Geschichtswerk des Lukas. I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, II: Der Weg Jesu, [III: Apostelgeschichte, in Vorbereitung], Stuttgart / Berlin / Köln
  • Radl, W., 2003, Das Evangelium nach Lukas. I: 1,1-9,50, Freiburg / Basel / Wien
  • Klein, H., 2006, Das Lukasevangelium, KEK I / 3, Göttingen
  • Wolter, M., 2008, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen
  • Böttrich, C., Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig … (in Vorbereitung).

2. Monographien und Aufsätze zu zentralen Themen

  • Alexander, L., 1993 / 2005, The Preface to Luke’ Gospel. Literary convention and social context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1, SNTS.MS 78, Cambridge
  • Bendemann, R.v., 2001, Zwischen ΔΟΧΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichtes im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin / New York
  • Böhlemann, P., 1997, Jesus und der Täufer. Schlüssel zur Theologie und Ethik des Lukas, SNTS.MS 99, Cambridge u.a.
  • Böhm, M., 1999, Samarien und die Samaritai bei Lukas. Eine Studie zum religionshistorischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund der lukanischen Samarientexte und deren topographischer Verhaftung, WUNT 111, Tübingen
  • Bormann, L., 2001, Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium, StUNT 24, Göttingen
  • Bovon, F., 1985, Lukas in neuer Sicht. Gesammelte Aufsätze, BThSt 8, Neukirchen-Vluyn
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  • Busse, U., 1977, Die Wunder des Propheten Jesus. Die Rezeption, Komposition und Interpretation der Wundertradition im Evangelium des Lukas, FzB 24, Stuttgart
  • Cadbury, H.J., 21961, The Making of Luke-Acts, London
  • Conzelmann, H., 51964, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen
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  • Ernst, J., 1985, Lukas. Ein theologisches Portrait, Düsseldorf
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  • Gradl, H.-G., 2005, Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leserorientierter und textpragmatischer Perspektive, FzB 107, Würzburg
  • Harmansa, H.-K., 1995, Die Zeit der Entscheidung. Lk 13,1-9 als Beispiel für das lukanische Verständnis der Gerichtspredigt Jesu an Israel, ETS 69, Leipzig
  • Heininger, B., 1991, Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergutgleichnissen bei Lukas, NTA 24, Münster
  • Held, H.J., 1997, Den Reichen wird das Evangelium gepredigt. Die sozialen Zumutungen des Glaubens im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, Neukirchen-Vluyn
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Abbildungsverzeichnis

  • Tabellenvorschau Gliederung des Lukasevangeliums. Gliederung: Christfried Böttrich

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