Anthropologie (NT)
(erstellt: Januar 2010)
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1. Zur Einführung
1.1. Anthropologie und Neues Testament
Das Neue Testament ist kein anthropologisches Fachbuch; es enthält keine anthropologischen Definitionen oder philosophischen Erörterungen über das Wesen des Menschen. Gleichwohl wird die Frage nach dem Menschen und seinem Menschsein intensiv gestellt. Bekannt sind Aussagen wie „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein …“ (Mt 4,4
Unterschiedliche Erfahrungen des Menschseins werden in den Schriften des Neuen Testaments im Zuge ihrer Interpretationsarbeit der Jesus-Christus-Geschichte zur Sprache gebracht (vgl. dazu Reinmuth, Hermeneutik, 11ff. u.ö.). Diese v.a. narrative und argumentative Interpretationsarbeit führt zu eigenständigen und theologisch relevanten Perspektiven auf das Menschsein. Dabei sind die historischen Voraussetzungen der neutestamentlichen Autoren zu berücksichtigen. Sie thematisieren das Menschsein mit den Mitteln ihrer Kenntnisse vom Menschen. Ihre Annahmen über „den Menschen“ lassen sich von den anthropologischen Perspektiven, die sich aus ihrem Verständnis der Jesus-Christus-Geschichte ergeben, nicht künstlich abstrahieren.
Das Neue Testament favorisiert für die Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte anthropologisch relevante Erzählkomplexe der biblisch-jüdischen Tradition. In ihnen spiegeln sich anthropologische Voraussetzungen, unter denen die Jesus-Christus-Geschichte verstanden wird. Das grundlegende anthropologische Muster bildet die Adam-Geschichte von der ursprünglichen Bestimmung und dem folgenreichen Fall des Menschen (vgl. z.B. 1Tim 2,13f
Gegenwärtig ist die „Fraglichkeit“ des Menschen, wie sie grundlegend von Martin Heidegger thematisiert wurde, zunehmend zur Voraussetzung anthropologischer Überlegungen geworden. Diese Infragestellung des Menschen hat mehrere Ursachen und Gründe, unter denen die katastrophischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und die Dominanz aktueller naturwissenschaftlicher Entwicklungen eine wichtige Rolle spielen. Je deutlicher wird, dass „der Mensch“ über „den Menschen“ kaum „objektive“ Aussagen treffen kann, insoweit er selbst als Beobachtender zugleich Beobachteter, Beobachtetes und Beobachtung also interdependent sind, desto sinnfälliger wird das Problem anthropologischer Definitionen.
Neutestamentliche Anthropologie kann folglich im Dialog dieser Problemfelder lediglich aufweisen, wie in den Schriften des Neuen Testaments über Menschsein in der Perspektive der Jesus-Christus-Geschichte gesprochen wird. Diese Voraussetzung versteht anthropologische Arbeit als theologische, insofern im Neuen Testament um der Geschichte Jesu Christi willen vom biblischen Gott Israels und aller Welt gesprochen wird.
1.2. Anthropologische Fragestellungen im Neuen Testament
1. In der Perspektive historischer Anthropologie geht es v.a. um anthropologische Grundannahmen, die das frühe Christentum mit der antiken Mittelmeerkultur, näherhin dem frühen Judentum bzw. hellenistischen Voraussetzungen teilt. Forschungen in der Perspektive historischer Anthropologie bzw. Kulturanthropologie versuchen, kulturelle Hervorbringungen wie Texte oder Artefakte vor dem Horizont ihrer kontextuellen Kulturen, ihren uns fremden Voraussetzungen und Wirklichkeitsannahmen, Werten und Überzeugungen zu interpretieren. Das betrifft ausnahmslos alle anthropologischen Gegebenheiten, sei es die Körperlichkeit des Menschen, seine Geschlechtlichkeit, seine Sozialität, seine geographische oder räumliche, seine zeitliche oder historische Orientierung, seine Vorstellungen von Herkunft und Zukunft des Menschen, von Familie, Jugend und Alter, Tod und Jenseits, Wirtschaft und Beruf, um exemplarisch ein paar Stichworte zu nennen, die für die soziale und kulturelle Wirklichkeit historischer Gesellschaften konstitutiv sind. Historische Anthropologie zeichnet anthropologische Aussagen in den jeweiligen Kontext einer Kultur ein und versteht solche Aussagen als historische Hervorbringungen menschlicher Selbstverständigungen.
Die anthropologischen Voraussetzungen des frühen Christentums sind mithin die des antiken Judentums und mit ihm die der hellenistisch geprägten antiken Mittelmeerkultur. Vor diesem Hintergrund sind in kulturanthropologischer Hinsicht die Strukturen zu berücksichtigen, die als in der Perspektive des frühen Judentums und Christentums gegebene Bedingungen des Menschseins kommuniziert wurden und selbstverständliche Geltung beanspruchten.
So gehört z.B. die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden („Heiden“) zu den anthropologischen Voraussetzungen frühchristlicher Interpretationsarbeit (vgl. z.B. Mt 10,5
An der Stelle, wo sie als „in Christus“ überwunden wahrgenommen werden sollen, werden die drei offenbar wichtigsten Begriffspaare genannt: Jude – Grieche (Nichtjude), Sklave – Freier, männlich – weiblich (Gal 3,28
Neutestamentliche Schriften können in dieser Perspektive als Literatur der antiken Mittelmeerwelt studiert werden. Sie tragen dazu bei, historische Aufschlüsse über die Denkvoraussetzungen des frühen Christentums als einer marginalen religiösen Gruppe des antiken Judentums zu gewinnen.
2. Neutestamentliche Begriffsstudien fragen nach der speziellen kontextgeprägten Semantik von Worten und Wendungen, die in der Perspektive einer begrifflichen Systematik analysiert werden (vgl. z.B. Begriffe wie Leben / Seele (ψσυχή), Herz (καρδία), Leib (σώμα), Fleisch (σάρξ), Geist (πνεύμα), Gewissen (συνείδησις), Vernunft (νοῦς). Anthropologisch relevante Begriffe markieren im Neuen Testament unterschiedliche Perspektiven auf das Menschsein.
Rudolf Bultmann hat in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ bahnbrechende und eindringliche Analysen grundlegender anthropologischer Begriffe vorgelegt. Dabei versuchte er, ihre historische Bedeutung mit gegenwärtigen Fragestellungen, wie sie sich v.a. im Dialog mit der zeitgenössischen Philosophie Martin Heideggers ergaben, zu verbinden. Auf diese Weise kann jedoch die Gefahr eines „anthropologischen Kurzschlusses“, bei dem die historische Semantik von Begriffen theologisch aufgeladen wird und existentiale Bedeutung erhält, methodisch nicht ausgeschlossen werden. In der kulturanthropologischer Perspektive Analyse geht es um die Aufgabe, anhand begriffsgeschichtlicher Analysen die Herkunft und Bedeutung anthropologisch relevanter Begriffe im Neuen Testament zu untersuchen, um das Wirklichkeitsverständnis dieser Texte weiter aufzuhellen.
3. Auf dem Weg zu einer sachgemäßen anthropologischen Fragestellung ist außerdem die Performativität der neutestamentlichen Schriften in Rechnung zu stellen (vgl. dazu Reinmuth, Exegese). Damit ist gemeint, dass diese Texte nicht lediglich die o.g. Überzeugungen ihrer kulturellen Kontexte wiederholten, sondern sie variierten, umsprachen, neu in den Blick nahmen, also in ganz unterschiedlicher Weise veränderten. Ihre intendierte Rezeption lief darauf hinaus, sich neu in der Welt zu orientieren, praktische und theoretische Konsequenzen aus der Jesus-Christus-Geschichte zu reflektieren und sich der Hoffnung zu vergewissern, die mit dieser Geschichte verbunden wurde.
Diese Feststellung gilt nicht nur für radikale Entgegensetzungen, mit denen bisher Gültiges antithetisch aufgehoben wurde (vgl. z.B. Gal 3,26-29
4. Die in diesem Artikel vorgeschlagene anthropologische Fragestellung versucht, unser aktuelles Interesse an den Schriften des Neuen Testaments mit deren intendierter Rezeption in einen Dialog zu bringen. Ginge es um anthropologische Schriften, so wären ihre allgemeinen Aussagen über „den“ Menschen zu untersuchen und historisch einzuordnen. Sie sind jedoch Schriften, die sich dem grundlegenden Impuls verdanken, die Geschichte Jesu Christi zu kommunizieren.
Aus diesem Grund geht es neutestamentlicher Wissenschaft unter Berücksichtigung der genannten und weiterer Fragestellungen um Elemente einer theologischen Anthropologie, die im Zuge der Analyse der im Neuen Testament manifesten Interpretationsarbeit der Jesus-Christus-Geschichte sichtbar wird. Das erfordert die integrierte Verwendung historischer Anthropologie, begrifflicher Systematik, performativer Kritik und die Reflexion des aktuellen anthropologischen Interesses.
2. Die neutestamentlichen Schriften
2.1. Synoptiker
Die synoptischen Evangelien erzählen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive von Ostern. Sie sehen sein Kommen, seine Praxis und seine Passion als folgenreich für alle Menschen. An seiner Praxis wird deutlich, wie Menschen die Zuwendung Gottes erfahren, wie ihnen Schuld erlassen, liebevolles Handeln eröffnet und ein Leben in der Nachfolge ermöglicht wird. An seinem Reden und Handeln zeigt sich zugleich kritisch, wie Menschen schuldig werden und ihr Menschsein verfehlen (vgl. z.B. Mt 19,3-9
2.2. Johannesevangelium
Das Johannesevangelium versteht die Jesus-Christus-Geschichte als Befreiung und Krise des Menschseins. Nach dem Johannesevangelium gilt als Grundbestimmung des Menschseins das (ewige) Leben, das in Gott gründet (vgl. z.B. Joh 1,4
Menschsein gibt es nach Johannes nicht in neutraler Selbstgenügsamkeit, sondern nur in Beziehungen. In ihnen entscheiden Menschen handelnd über ihre Wirklichkeit. In dieser Hinsicht sind für Johannes duale Strukturen maßgeblich (Wahrheit – Lüge, Licht – Finsternis, irdisch – himmlisch). In der Liebe, die Gott mit seinem Gesandten verbindet, erfahren Menschen als Glaubende das Leben, das ihnen unverlierbar gilt (vgl. z.B. Joh 13,34
2.3. Paulusbriefe
Paulus reflektiert die Jesus-Christus-Geschichte in unterschiedlichen Modellen, die in anthropologischer Hinsicht aufschlussreich sind (vgl. z.B. die Praxis des Sklavenloskaufs {1Kor 6,19f
Paulus verwendet die Adam-Geschichte nicht nur zur Kennzeichnung der eschatologischen, sondern auch der sündigen Existenz. Solche Bezugnahmen finden sich in expliziter Weise an den bekannten Stellen Röm 5,12ff
Mit der Adam-Geschichte wird die Gewissheit einer ursprünglichen Identität erzählt und gesichert; gegenwärtiges Menschsein ist durch den Verlust dieser Identität geprägt und folglich defizitär. „Sünde“ (ἁμαρτία) ist der zentrale Begriff, mit dem Paulus den Identitätsverlust des Menschen (vgl. z.B. Röm 3,9
„Ohne Gesetz keine Sünde“ (Röm 7,7
Paulus interpretiert die menschliche Wirklichkeit folglich in den Dimensionen der Rettungslosigkeit wie des Gerettetseins (vgl. in diesem Zusammenhang das Metaphernpaar alter Mensch – neuer Mensch; Röm 6,6
Menschen realisieren ihre Rettung im Glauben an Jesus als den Christus Gottes, an den Gekreuzigten, der als Lebender Herr ist (Röm 10,9
2.4. Weitere Schriften
Die übrige, v.a. pseudonyme Literatur des Neuen Testaments thematisiert unterschiedliche Aspekte des Menschseins. In der deutero-paulinischen Literatur wird die Erwartung des Auferstehungslebens als Lebenswirklichkeit der Glaubenden kommuniziert (Kol 2,12f
Dem Menschen gilt Gottes Liebe und Erwählung (Eph 1,4ff
Der Hebräerbrief akzentuiert scharf die „menschliche“ Seite des Leidens Jesu (vgl. Hebr 2,18
Der Jakobusbrief thematisiert anthropologisch relevant die Untrennbarkeit von „glauben“ und „handeln“ (Jak 2,14-26
Der 1Petr konzentriert seine christologische Argumentation auf die Analogisierung des Geschicks Jesu Christi mit dem unverschuldeten Leiden in seiner Nachfolge und verdeutlicht das am Verhalten der Sklaven, also auf der „untersten“ gesellschaftlichen Stufe (1Petr 2,21-24
In der Anthropologie der Johannesoffenbarung haben sich die Erfahrungen von Verfolgung und Feindschaft niedergeschlagen, die der Autor mit den Adressaten teilt. Er sieht seine Aufgabe in der Ermutigung der Glaubenden, die auf den endgültigen Sieg Gottes bzw. Christi als des geschlachteten Lammes vertrauen dürfen (vgl. Apk 5,6
In den Schilderungen des endgültigen Heilszustandes ab Apk 21,1-22,5
In der Sicht der Johannesoffenbarung anthropologisch entscheidend ist die behauptete, erwartete und bezeugte unsichtbare Macht Gottes als des Schöpfers und Herrn der Geschichte, die in der Ohnmacht des Gekreuzigten sichtbar geworden ist.
3. Die Metapher der Gottebenbildlichkeit im Neuen Testament
Die Vorstellung, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen wurde, hat ihre Wurzel im biblischen Schöpfungsbericht (vgl. Gen 1,26f
Als allgemeine anthropologische Kernaussage wird diese Vorstellung nur am Rand weitergeführt (vgl. Vollenweider, 54f.}). Die zwei Stellen (1Kor 11,7
Paulus bezeichnet Jesus Christus in 2Kor 4,4
Wenige Verse vor der besprochenen Stelle geht es Paulus darum, die Lebenszukunft der Glaubenden in Relation zum auferstandenen Christus zu reflektieren (2Kor 3,18
„Zu seinem Bild werden“ bedeutet, durch die Partizipation an seiner Geschichte verwandelt und geprägt zu werden, seine Geschichte zum Geschick des eigenen Lebens werden zu lassen. Das bedeutet in der Interpretation des Paulus bekanntlich nicht, den Tod Jesu nachzuahmen, sondern seine Kreuzigung als Metapher der Befreiung und ihrer Konsequenzen zu verstehen (Gal 5,24
Die Wendung „Bild Gottes“ (εἰκών τοῦ θεοῦ) dient dazu, die Auferstehung Jesu Christi und die Auferstehungshoffnung der Christen in der Metaphorik des Schöpferhandelns Gottes auszusagen. Weder Christus als Bild Gottes noch die Verwandlung in sein Bild sind ohne das Bild des Gekreuzigten in paulinischer Perspektive zutreffend erfasst.
Kol 1,15
Kol 1,13
Seine Geschichte ist zugleich der exklusive Grund, der die Glaubenden zum Bild Gottes werden lässt (Kol 3,9f
Der Anfang des Hebräerbriefes spricht von Christus als „Abglanz der Herrlichkeit (Gottes) und Abdruck seines Wesens“ (Hebr 1,3a
Die anthropologische Bedeutung der paulinischen und nachpaulinischen Wendung der imago Dei ist grundlegend und bleibend kreuzestheologisch geprägt. Sie verliert ihren christuslogischen Zusammenhang und mit ihm ihre anthropologische Bedeutung, wenn sie lediglich als Ausdruck einer abstrakten „Herrlichkeitschristologie“ verstanden wird. Die Erneuerung der biblischen imago-Dei-Aussagen im Blick auf Christus und die Glaubenden im Neuen Testament beruht exklusiv darauf, dass Christus zum Bild Gottes geworden ist, indem der Gekreuzigte durch die lebenschaffende Kraft Gottes zum Lebenden wurde.
4. Die anthropologische Dimension des Lebens aus dem Geist
Wenn es darum geht, anthropologische Perspektiven im Neuen Testament in seinen vielfältigen Interpretationsprozessen der Jesus-Christus-Geschichte aufzuzeigen, muss auch die grundlegend neue Dimension der Erfahrung des Geistes Gottes berücksichtigt werden. Sie gehörte zu den biblischen Verheißungen, die nun als erfüllt geglaubt wurden (vgl. Jes 32,15-18
Auch Johannes versteht den Geist Gottes als seine Lebenskraft (Joh 6,63
Glauben heißt für Johannes zugleich erkennen; dazu gehört auch die tatsächliche Lage der Menschen(welt). Erfasst das Johannesevangelium den Kosmos als die Gestalt des menschlichen Widerspruchs gegen Gott, so versteht es Sünde (im Johannesevangelium überwiegend im Singular gebraucht) neu vor diesem Horizont als verweigerten Glauben gegenüber Jesus als dem Christus. Aus dieser Perspektive ergeben sich anthropologische Einsichten, insofern Sünde nun in der Relation zur Jesus-Christus-Geschichte neue Aspekte aufweist: Sie realisiert sich als Widerstand und Tötungsabsicht gegenüber Christus und den Glaubenden (Joh 3,20
Grundsätzlich gilt für die Anthropologie im Neuen Testament, dass der „Fraglichkeit“ des Menschen (s.o.) seine Angewiesenheit auf die Zuwendung Gottes entspricht, die sich in der Geschichte Jesu Christi verwirklichte.
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