Apokalyptik (NT)
(erstellt: April 2014)
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1. Problematik
Das Judentum zur Zeit der Jesusbewegung und der frühen Christenheit ist in nahezu allen seinen Gruppierungen und theologischen Strömungen von den Denkstrukturen der „Apokalyptik“ (Tilly, 2012) geprägt. „Längst schon sind auch die Perspektiven und Motive apokalyptischer Theologie aus dem Bereich elitärer Schriftgelehrsamkeit aus- und in das breit gefächerte Spektrum der Volksfrömmigkeit eingewandert. Die Liaison von prophetischer Geschichtsdeutung und Endzeiterwartung mit weisheitlichem Denken, wie sie vor allem die spätere Apokalyptik kennzeichnet (Osten-Sacken, 1969), erfährt im 1. / 2. Jh. n. Chr. eine Popularisierung, der sich niemand entziehen kann. Sie ist in der Zeit, in der das NT entsteht, „moderne Theologie“.
Ernst Käsemann hat angesichts dieser Situation sein vielzitiertes Diktum von der Apokalyptik als der „Mutter aller christlichen Theologie“ formuliert (Käsemann, 1960). Man könnte auch von einer Matrix, Substruktur oder Bezugsgröße sprechen. Wenn die Autoren des NT das Christusereignis in das Licht der alttestamentlichen Verheißungs- und Hoffnungsgeschichte stellen, dann knüpfen sie nicht einfach bei den – inzwischen schon mehr als 400 Jahre alten – Propheten an. Vielmehr lesen sie die Propheten im Lichte ihrer zeitgenössischen Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte. Die aber steht massiv unter dem Einfluss apokalyptischen Denkens (Koch, 1970).
Die Verkündigung der nahen Gottesherrschaft durch → Jesus von Nazareth
2. Motive
Verschiedene Motive, die für die frühjüdische Apokalyptik charakteristisch sind, finden sich auch in den Schriften des NT. Sie begegnen dort im Kontext ganz unterschiedlicher Textsorten wie → Brief
2.1. Gottesherrschaft
Das Kommen der „Königsherrschaft Gottes“ (βασιλεία τοῦ θεοῦ basileia tou theou) ist das zentrale Thema der Botschaft Jesu. Darin klingt zunächst ein Topos der späten Prophetie an: → Deuterojesaja
Jesus selbst verbindet die Proklamation der Gottesherrschaft mit dem Aufruf zur Umkehr und zum Glauben „an das Evangelium“ (Mk 1,15
2.2. Universalismus
Die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer der ganzen Welt und dem Herrn aller Völker hat ihren Ursprung in der Theologie der → Exilszeit
Die Völkerwelt liegt vor allem im Blickfeld der frühchristlichen Mission. Nach dem Selbstverständnis des → Paulus
2.3. Zeit- und Äonenvorstellung
Die apokalyptische Äonenvorstellung stellt den Rahmen zur Verfügung, indem die frühchristliche Verkündigung das Christusereignis „heilsgeschichtlich“ platziert. Mit Jesus Christus kommt die Zeit zu ihrer „Erfüllung“ (Gal 4,4
Dabei wird die Beziehung der beiden Äonen jedoch neu definiert. Anders als in den meisten frühjüdischen Apokalypsen liegen „dieser Äon“ und „der kommende Äon“ nicht horizontal auf einer Zeitachse, sondern sind einander vertikal im Sinne von „dieser“ und „jener Welt“ zugeordnet. Mit Christus beginnt bereits eine neue Weltzeit, während die alte noch ihrem zeitlichen Ende entgegengeht. Dieses Modell ist auch in der frühjüdischen Apokalyptik schon vorbereitet (Walter, 1985), wird nun aber konsequent aufgenommen und weitergeführt. Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, Sterblichkeit und Unsterblichkeit (1Kor 15,35-49
Das Schema von den beiden Äonen / Weltzeiten stellt sich im Licht des Christusereignisses zunehmend als ein Schema zweier Wirklichkeitsbereiche dar. Damit wird der apokalyptische Rahmen zwar nicht verlassen, jedoch auf eine charakteristische Weise modifiziert.
2.4. Kommen Gottes / Parusie
Die Erwartung des Kommens Gottes am Ende von Zeit und Geschichte bzw. am Ende dieses zeitlichen, vergänglichen Äons fällt seit Ostern mit der Erwartung der Parusie des auferstandenen und erhöhten → Kyrios
Die Christzugehörigkeit der Glaubenden, die in der → Taufe
2.5. Menschensohn-Vorstellung
Unter den christologischen Hoheitstiteln erscheint die Bezeichnung → „Menschensohn
Zum ersten Mal begegnet jene Figur, die im Hofstaat Gottes auftritt und dabei „wie eines Menschen Sohn“ erscheint, in Dan 7. Weitere Belege finden sich in den sogen. „Bilderreden“ in äthHen 37-71 sowie in 4Esr 13. Wie genau sich die Konturen dieses „Menschensohnes“ bestimmen lassen, wird kontrovers diskutiert. Als endzeitliche, richterliche Figur aus Gottes Welt steht er zu Jesus von Nazareth in einer besonderen Beziehung (Lk 12,8-10
„Messianische“ Erwartungen, die in der frühjüdischen apokalyptischen Literatur ein facettenreiches Bild abgeben, schlagen sich im NT vor allem in einem Diskurs um den „Christus / Messias“-Titel nieder (Mk 8,27-33
2.6. Angelologie
Die visionären Erfahrungen der Apokalyptiker erschließen ein neues Bild der Thronwelt Gottes, in dem vor allem die Welt der Engel und himmlischen Wesen immer differenzierter in den Blick tritt. Über die Vorgaben von Jes 6 und Ez 1 hinaus zeigt die Apokalyptik nun ein gesteigertes Interesse an dem liturgischen Dienst vor Gott, an der Klassifizierung der Dienstengel oder an ihrer Beziehung zur Lebenswelt der Menschen.
Im Raum dieser angelologischen Vorstellungswelt bewegen sich auch die Autoren des NT. Engel als Boten spielen eine eher marginale Rolle. Ihre gewachsene, enorme Bedeutung spiegelt sich eher in der Versuchung zur „Engelverehrung“ (Kol 2,18
2.7. Gerichtsszenarien
Die in der frühjüdischen Apokalyptik ausgeprägte Erwartung eines endzeitlichen Gerichts, mit dem Gott die ganze Welt und alle Völker in seinem „Zorn“ beurteilt, wird auch in allen Schriften und Schichten des NT vorausgesetzt.
Der → Täufer Johannes
In den Schriften des NT finden sich Vorstellungen, die das Gericht unter den Aspekten der Vernichtung oder Bewahrung, der Läuterung oder Bestrafung, der Auslöschung oder Neuschöpfung darstellen. Sie leben von jenen Szenarien, die in der frühjüdischen Apokalyptik bereits vorgegeben sind.
2.8. Auferstehungshoffnung
Die Auferstehungshoffnung, die sich in der Theologie Israels erst allmählich Bahn bricht und in Dan 12,1-3
Dass man hier im Judentum des 1. Jh.s n. Chr. auch noch unterschiedlich votieren konnte und dass die apokalyptische Option nicht die einzige war, zeigt die Kontroverse zwischen → Sadduzäern
Die Leiblichkeit der Auferstehung bleibt auch in der späteren christlichen Apokalyptik bestimmend und fungiert geradezu als notwendige Voraussetzung für die ausufernden Schilderungen der Höllenqualen. Dass die dogmatische Diskussion indessen zunehmend unter den Einfluss eines Leib-Seele-Dualismus gerät, steht auf einem anderen Blatt.
3. Textbereiche
Von den größeren Textbereichen, die apokalyptische Motive aufnehmen, sind vor allem drei von Bedeutung. Sie gehören ganz unterschiedlichen Autoren und Textsorten an und machen gerade dadurch die Popularität apokalyptischen Denkens deutlich.
3.1. Parusienaherwartung
In der frühchristlichen Theologie hat sich das machtvolle Kommen Gottes zum endzeitlichen Gericht über die Völker und die gesamte Schöpfung verschoben und mit dem Kommen des auferstandenen und erhöhten Christus am Ende der Zeiten verbunden (siehe auch → Parusie
Dieses „Kommen“ erwartet die erste Generation noch zu ihren Lebzeiten (1Kor 7,29-31
Die folgenden Textzusammenhänge enthalten Schlüsselaussagen zur Parusienaherwartung, in denen zugleich verschiedene apokalyptische Motive begegnen.
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1Thess 4,13-18
(Kardinalstelle): Paulus beschreibt die Parusie als ein Ereignis, bei dem es eine klar geregelte Abfolge von Akten gibt. Das Auftreten des Parusiechristus wird eingeleitet durch Befehlswort / Schrei des Erzengels / Trompetensignal; dann steigt er vom Himmel herab und leitet die Auferstehung der „Toten in Christus“ ein; danach werden die „Übrigbleibenden“ gemeinsam mit den Auferweckten „hinweggerissen werden in die Wolken zur Einholung des Herrn in der Luft“; Ziel ist es, auf diese Weise nun „immer in der Gemeinschaft des Herrn sein“. Dass auch die „Übrigbleibenden“ dazu einer Verwandlung bedürfen, sagt Paulus nicht hier, sondern erst in 1Kor 15. -
1Kor 15,51-53
(Kontext Auferstehungsdiskurs): Da hier der Akzent auf der Auferstehung liegt, kehrt sich die Perspektive um. Nicht alle werden entschlafen. Die Verwandlung der „noch Lebenden“ aber erfolgt bei der Parusie „im Nu“ (ἐν ἀτὸμῳ en atomō), „in einem Augenblick“ (ἐν ῥιπῇ ὀφθαλμοὺ en ripēi ophthalmou); wiederum ist von einem Trompetensignal die Rede, das nun offensichtlich die Auferweckung der Toten und auch ihre „Verwandlung“ einleitet; bei der Parusie werden die noch Lebenden wie auch die Auferweckten mit der neuen Existenzweise der „Unvergänglichkeit“ und „Unsterblichkeit“ bekleidet. -
2Thess 1,5-10
(Rückbezug auf 1Thess 4): 2Thess 1 nimmt das bekannte Schema noch einmal auf. Die Offenbarung des Herrn erfolgt „vom Himmel her mit den Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer“; er kommt, um „Bestrafung zu vollziehen“ und um „verherrlicht zu werden unter seinen Heiligen“. -
2Thess 2,1-12
(Verzögerungsproblematik – apokalyptischer „Fahrplan“): Dem Ausbleiben der Parusie trägt dieses deuteropaulinische Schreiben dadurch Rechnung, dass dem Kommen des Parusiechristus weitere Akte vorangestellt werden. Zentral betrifft das vor allem den „Aufhaltenden“ (κατέχων katechōn), der eine Art „Antichristfigur“ (genauer jedoch eigentlich einen Anti-Gott) darstellt. Zunächst kommt der „Abfall“ (ἀποστασία apostasia); danach tritt der „Mensch der Bosheit / Sohn des Verderbens / Widersacher“ auf, der den Tempel entweiht und sich selbst als Gott darstellt; allein durch ihn wird das „Geheimnis der Bosheit“ noch aufgehalten; wenn er jedoch stürzt, tritt „der Böse / → Satan “ offen zutage – um sofort von dem Parusiechristus vernichtet zu werden; alle aber, die sich von ihm verführen ließen, trifft das Gericht.
In diesem Vorstellungszusammenhang ist die Erwartung des Kommens Gottes zum Gericht, die Vernichtung aller gegengöttlichen Mächte sowie der endzeitlichen Totenauferweckung mit dem erhöhten Christus verbunden worden, der hier als der Repräsentant Gottes agiert.
3.2. Endzeitrede Jesu
Die Endzeitrede Jesu im Angesicht des → Jerusalemer Tempels
Zu Beginn steht die Ansage von Krieg / Verfolgung / Flucht: falsche Messiasse werden auftreten; es wird zu Kriegen und Verfolgungen der Gemeinde kommen. Dann erfolgt die Parusie: kosmische Katastrophen signalisieren das Ende dieser Schöpfung; der Menschensohn aber kommt „in den Wolken mit Kraft und Herrlichkeit“. Daran schließen sich verschiedene Paränesen und Parusiegleichnisse an. Den Abschluss bildet eine Mahnung zur Wachsamkeit. Die Verzögerungserfahrung formuliert Mk 13,10
Dass hier Zeiterfahrungen anklingen, ist evident. Der Lärm des → Jüdischen Krieges (66-70 n. Chr.)
3.3. Offenbarung des Johannes
Immer wieder hat man gefragt, ob die Offenbarung des Johannes überhaupt – trotz ihres Titels – als eine „klassische“ Apokalypse zu betrachten sei. Vieles unterscheidet sich hier in auffälliger Weise von den apokalyptischen Schriften des frühen Judentums. Das betrifft in erster Linie die Form, die dieses Buch in seinen Rahmenteilen aufweist: Grundsätzlich präsentiert sich der Text als ein Brief des erhöhten Christus an die Kirche (Apk 1,9-20
Immerhin bedient sich die Offenbarung des Johannes bei einer ganzen Reihe von Einzelzügen aus dem Motivarsenal apokalyptischer Überlieferung. Das betrifft vor allem die zahlreichen Gerichtsszenarien (gegenüber der Völkerwelt, der Schöpfung selbst und verschiedenen Gegenspielern Gottes) sowie die abschließende Heilsperspektive. Der wichtigste Kronzeuge für die Theologie der Offenbarung des Johannes ist jedoch nicht bei den frühjüdischen Apokalyptikern zu finden. Er heißt vielmehr Ezechiel. Unter allen intertextuellen Bezügen erweist sich dieser große Prophet der Exilszeit als der wichtigste Impulsgeber. Auch in dieser Hinsicht verfährt der Seher Johannes auf eine eigenständige, innovative Weise.
Die Offenbarung des Johannes ist mit der einleitenden Thronsaalvision (Apk 4,1-5,14
4. Christliche Apokalyptik
Die christliche Literatur, wie sie vom 2. Jh. an entsteht, entwickelt auch eine starke apokalyptische Tradition. Für sie wird vor allem die Offenbarung des Johannes formbildend. An ihrem Modell orientieren sich immer neue Schriften, die selbst mit dem Anspruch, „religiöse Primärliteratur“ zu sein, auftreten.
Einen markanten Anfang setzt im 2. Jh. ein Text wie die → „Apokalypse des Petrus
Bis in das hohe Mittelalter hinein entsteht eine Reihe von weit über 100 mehr oder weniger umfangreichen christlichen Apokalypsen. Zum Teil erleben sie nur eine regional begrenzte Verbreitung; zum Teil erlangen sie jedoch auch große Popularität und werden in verschiedenen Sprachen überliefert. Dieser Literaturbereich korrespondiert insgesamt mit der Rezeption der kanonisch gewordenen Offenbarung des Johannes, die in dieser Zeit zu einem der meistgelesenen und meistillustrierten biblischen Bücher avanciert.
Aus dieser großen Schriftengruppe (vgl. Weinel, 1923; Berger, 1976, XI-XXIII; Yarbro-Collins, 1979) können hier nur einige wenige, besonders einflussreiche Apokalypsen aufgelistet werden:
- Apokalypse des Petrus (2. Jh.)
- Himmelfahrt des Jesaja (2. Jh.)
- Hirte des Hermas (3. Jh.)
- 5Esra und 6Esra (3. Jh.)
- Apokalypse Esdras (?)
- Apokalypse des Paulus (4./5. Jh.)
- Thomasapokalypse (5. Jh.)
- Apokalypse Johannes des Theologen (5. Jh.)
- Offenbarungen des Ps-Methodios (7. Jh.)
- Sibyllinische Orakel VII und VIII (?)
- Wanderungen der Gottesmutter durch die Qualen (9. Jh.)
- griechische Danieldiegese (9. Jh.)
Mit der Aufklärung erlischt die Faszination, die bis dahin vor allem von der kanonischen Offenbarung des Johannes ausging. Die gesamte christliche Apokalyptik verschwindet in der Versenkung und gerät weithin in Vergessenheit. Erst um die Mitte des 19. Jh.s, als durch die Wiederentdeckung des → Ersten Henochbuches
Das Interesse an apokalyptischer Bildsprache, namentlich aber an der Offenbarung des Johannes, erlebt in den 1960er Jahren einen erneuten Höhepunkt. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, des Wettrüstens und der alarmierenden Prognosen des „Club of Rome“. In einer Situation, in der globale Katastrophen durch atomare Waffen, Klimaveränderung oder Umweltzerstörung immer wahrscheinlich werden, erscheint auch die christliche Apokalyptik in einem neuen Licht (Körtner, 1988). Sie wird dabei jedoch weitgehend auf ihre Schreckensszenarien reduziert, ohne dass die Trostfunktion, die ihre wichtigste Triebkraft ist, ausreichen gewürdigt würde.
Christliche Apokalyptik bewährt sich vor allem darin, dass sie den Bedrängten, von einer feindlichen Umgebung in ihrer Existenz Bedrohten, Mut zuspricht. Ihr geht es nicht um die Drohung nach außen, sondern um die Stärkung nach innen. Sie nimmt die Heilszusagen der Propheten auf und stellt sie in das Licht ihrer endgültigen Bewahrheitung. Gewalt behält nicht das letzte Wort. Die Verfolgten werden wieder ins Recht gesetzt. Nicht Futurologie, sondern Seelsorge bleibt auch das Anliegen der christlichen Apokalyptik.
Literaturverzeichnis
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