Offenbarung 3,7-13 | 2. Advent | 10.12.2023
Einführung in die Offenbarung
In den letzten 30 Jahren hat die Forschung zur neutestamentlichen Johannesapokalypse erheblich an Dynamik gewonnen. Sowohl in Hinsicht auf die Fragen nach Verfasser, Adressaten, Abfassungszeit und literarischer Integrität dieser Schrift als auch im Blick auf den theologischen Skopus dieses letzten Buches des Neuen Testaments sind neue Vorschläge vorgelegt worden.
1. Verfasser
Angesichts des Sachverhalts, dass die Johannesapokalypse an die sieben christlichen Gemeinden in der römischen Provinz Asia, dem westlichen Teil der heutigen Türkei, gerichtet ist (Apk 1,4.11), darf davon ausgegangen werden, dass der – unter dem Namen „Johannes“ auftretende – Verfasser derselben eben in jenem Teil des Imperium Romanum
2. Adressaten
Die Apk ist adressiert an sieben im Westen der römischen Provinz Asia ansässige christliche Gemeinden. Zugunsten der Annahme, dass diese Gemeinden bzw. die in jenen organisierten Christen einer umfassenden, von staatlicher Seite autorisierten Christenverfolgung ausgesetzt wären, läßt sich in der Apk selbst keinerlei Textsignal namhaft machen. Vereinzelte Hinweise, die gegenwärtige Bedrängnisse von Seiten der nichtchristlichen Umwelt der in Apk angeschriebenen Christen zu indizieren scheinen, lassen sich, wenn überhaupt, auf einzelne, auf lokaler Ebene ergriffene behördliche Maßnahmen gegen die Christen deuten; Belege für staatlich organisierte und propagierte provinzweite oder gar reichsweite antichristliche Maßnahmen gegen jene bietet die Apk hingegen nicht. Viel eher scheint es so zu sein, dass sich die Adressaten der Apk zur Zeit der Abfassung der Apk mit ihrer nichtchristlichen Umwelt weitestgehend arrangiert hatten und sich – zumindest in ihrer Mehrheit – als ein durchaus integrativer Teil der jeweiligen pagan geprägten Stadtgesellschaft verstehen wollten. Würde die Abfassung der Apk, wie die gegenwärtige Mehrheit der Forschung dies vorschlägt, in die Zeit der Regentschaft des römischen Kaisers Domitianus (81–96 n.Chr.), konkret in die Zeit zwischen 90 und 95 n.Chr. datiert, so ließen sich für eine solche Annahme durchaus gute Gründe anführen: Nach einer Phase der politischen Instabilität nach dem Tode Kaisers Nero, des letzten Kaisers der julisch-claudischen Dynastie, im Jahr 68 n.Chr. – hinzuweisen ist hier in Sonderheit auf das sog. „Dreikaiserjahr“ 68/69 n.Chr., in dem mit den Imperatoren Galba, Otho und Vitellius gleich drei Imperatoren vergeblich versuchten, sich auf dem römischen Kaiserthron zu etablieren – übernahm im Jahr 69 n.Chr. mit Flavius Vespasianus der im ersten jüdischen Krieg 66–70 n.Chr. siegreiche römische Feldherr die Macht. Jenem gelang es, die Verhältnisse zu stabilisieren und die flavische Dynastie zu etablieren. Flavius Vespasianus (69–79 n.Chr.) und seine Söhne Titus (79–81 n.Chr.) und Domitianus (81–96 n.Chr.) beruhigten die innen- und außenpolitische Lage und trugen, vor allem auch durch eine umfassende Wirtschafts- und Strukturförderung, wesentlich zu einer nach Jahren der Stagnation wieder wachsenden Prosperität des gesamten Imperium Romanum und damit natürlich auch der Provinz Asia und ihrer Einwohner bei.
Vor diesem Hintergrund will nicht verwunderlich scheinen, dass auch die christlichen Einwohner derselben keiner Anlaß sahen, sich, soweit es ihr christlicher Glaube aus ihrer Sicht zuließ, in die Gesellschaft ihrer jeweiligen Stadt zu integrieren und sich der kultisch-religiösen Verehrung des – nach Röm 13,1–7 ja immerhin von Gott eingesetzten – amtierenden römischen Regenten zumindest nicht von vornherein und in Fülle und Gänze zu verschließen. In noch weitaus stärkerem Maße gilt dies, wird die Abfassung der Apk in die Zeit der Regentschaft des Kaisers Hadrianus (117–138 n.Chr.) datiert. Dieser als „Reisekaiser“ bekannte römische Herrscher bereiste die Provinz Asia mehrere Male und zeigte allein durch seine Anwesenheit vor Ort und die aus diesem Anlaß den örtlichen Kommunen jeweils zur Verfügung gestellten Geldmittel, dass ihm daran lag, die Wohlfahrt dieser Provinz und ihrer Einwohner in sehr konkreter Weise zu fördern. Im Zuge eines umfassenden verwaltungstechnischen Restrukturierungsprogramms des gesamten östlichen Teils des Imperium Romanum wurde Hadrianus mit der Gottheit Zeus Olympios kultisch-religiös verbunden und als irdische Erscheinung desselben sowohl im öffentlichen als auch im unmittelbar privaten, sogar im familiären (!) Raum als Hadrianos Olympios, Retter und Schöpfer verehrt. Dass sich auch die christlichen Profiteure dieser kaiserlichen Wohlfahrtspolitik veranlaßt gesehen haben, sich an der kultisch-religiösen Verehrung gerade auch dieses Herrschers aktiv zu beteiligen, kann letzten Endes nicht wunder nehmen.
3. Entstehungsort
Die Apk gibt an, an einem Sonntag auf der Insel Patmos, einer der Provinz Asia vorgelagerten Insel, empfangen worden zu sein (Apk 1,9f.). Die Begründung, die der Apokalyptiker für seinen Aufenthalt auf Patmos liefert, läßt mehrere Deutungen zu:
- 1.Der Apokalyptiker befand sich auf dieser Insel in einer – womöglich zeitlich begrenzten – Verbannung. Dieser lange Zeit den Forschungsconsensus repräsentierenden These widerspricht jedoch, dass Verbannte in der Regel an Verbannungsorte verbracht worden sind, die sich in erheblicher räumlicher Entfernung von ihrem Wohnort befanden. Wenn der Apokalyptiker in der Provinz Asia lebte und wirkte, will Patmos als Verbannungsort eher unwahrscheinlich erscheinen.
- 2.Der Apokalyptiker befand sich auf Patmos, um dort das Evangelium zu verkündigen.
- 3.Der Apokalyptiker besuchte diese nur sehr dünn besiedelte Insel, um sich geistlich inspirieren zu lassen.
Unter den sieben in der Apk aufgelisteten Städten, in denen die angeschriebenen christlichen Gemeinden ansässig sind, sind in Sonderheit Ephesus
4. Wichtige Themen
In der Apk ruft der Apokalyptiker zentral dazu auf, standhaft und treu im Glauben zu bleiben, sich der paganen Mehrheitsgesellschaft und ihren „bürgerlichen“ Verlockungen, in Sonderheit der Teilhabe an der kultisch-religiösen Kaiserverehrung vollständig zu verweigern und dafür auch gesellschaftliche Nachteile und Repressionen in Kauf zu nehmen. Nur derjenige – so seine These – der diesen Weg der vollständigen Separation gehe, werde des in Bälde zu erwartenden, in der Errichtung eines neuen Himmels und einer neuen Erde gipfelnden endgültigen Heils teilhaftig und erhalte die Möglichkeit, in heilvoller Gemeinschaft mit Gott und seinem Christus in Ewigkeit zu leben. Diejenigen, die sich in die pagane Mehrheitsgesellschaft integrieren, haben hingegen die ewige Vernichtung zu gewärtigen.
Literatur:
- D.E. Aune, Revelation, 3 Bände, Dallas/Nashville 1997/1998 (WBC 52.52A.52B)
- T. Witulski, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse, FRLANT 221, Göttingen 2007.
A) Exegese kompakt: Offenbarung 3,7-13
Interessant wird es nun sein, zu analysieren, wie der Apokalyptiker sein theologisches Programm im Blick auf eine einzelne Gemeinde konkretisiert. Dies führt zur Analyse des „Sendschreibens“ an die „johanneische“ Gemeinde zu Philadelphia. Angeschrieben wird der „Engel der Gemeinde“, offensichtlich eine diese Gemeinde aktuell entscheidend prägende und beeinflussende theologische Gestalt:
Übersetzung
7 An den Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der öffnet, und niemand wird verschließen, der verschließt, und niemand öffnet:
8 Ich kenne deine Werke, und ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand mehr schließen kann, weil Du nur eine kleine Kraft hast, und dennoch an meinem Wort festhieltest und meinen Namen nicht verleugnetest.
9 Siehe, ich gebe solche aus der Synagoge des Satans, die sich als Juden ausgeben, es aber nicht sind, sondern sie lügen – siehe, ich werde bewirken, dass sie kommen und sich Dir zu Füßen werfen und erkennen, dass ich Dir meine Liebe geschenkt habe.
10 Weil Du mein Wort von der Standhaftigkeit bewahrt hast, werde ich Dich ebenso bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über die ganze Erde kommen soll, um die Bewohner der Erde zu versuchen.
11 Ich komme bald. Halte fest, was du hast, damit kein anderer deinen Siegeskranz (anstelle Deiner) empfange.
12 Wer siegt, den werde ich zu einer Säule im Tempel meines Gottes machen, und er wird nicht mehr hinausgehen. Und ich werde auf ihn den Namen meines Gottes schreiben und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herabkommt von meinem Gott, und ich werde auf ihn auch meinen neuen Namen schreiben.
13 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 9: Das Verb προσκυνέω beschreibt einen in Sonderheit in der antiken Herrscherverehrung, aber auch der antiken Gottesverehrung gebräuchlichen Fußfall. Der Untertan warf sich dem Herrscher zu Füßen, d.h.: er fiel mindestens auf die Knie und neigte den Kopf zu Boden, legte sich mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden. Er legte die Hand beziehungsweise Finger zum Kuß auf den Mund und streckte diese dann in Richtung auf die zu verehrende Gestalt aus.
V. 11: Mit dem Begriff στέφανος greift der Apokalyptiker ein den Rezipienten seiner Schrift geläufiges Bild aus der antiken Agonistik auf: Dem Sieger in einem agonistischen Wettbewerb, etwa dem Lauf oder dem Wurf, wird ein στέφανος überreicht, der seinerseits weitere Ehrungen nach sich zieht. Ein solcher „Siegeskranz“ wird in ebensolcher Weise auch demjenigen zuteil, der standhaft und glaubenstreu bleibt, also den Verlockungen der paganen Mehrheitsgesellschaft – und den aus der Perspektive des Apokalyptikers im Hintergrund jener stehenden widergöttlichen Mächten wie etwa dem als Gott zu verehrenden amtierenden römischen Regenten – widersteht, jene somit „besiegt“.
2. Kontexte und historische Einordnung
In diesem Text spricht der Apokalyptiker die Frage der Standhaftigkeit, d.h. die Frage der Verweigerung einer – aus Sicht des Apokalyptikers letztlich in jedem Falle – erheblich zu weit gehenden Integration der Glieder der christlichen Gemeinschaft in die pagane Mehrheitsgesellschaft der Stadt Philadelphia in Lydien (=Alaşehir
Die Christen Philadelphias werden im Anschluß an eine „Selbstvorstellungsformel“ (Apk 3,7b) des dieses „Sendschreiben“ Diktierenden dafür gelobt, dass sie den Verlockungen der sie umgebenden Gesellschaft, gerade auch der Anziehungskraft der kultisch-religiösen Verehrung des amtierenden römischen Kaisers, offensichtlich nicht erlegen sind, sondern einen Weg gefunden haben, sich jener zu verweigern (Apk 3,8). Für ihre standhafte Haltung werden die Christen Philadelphias belohnt; diese Belohnung entwickelt der Apokalyptiker in zweifacher Hinsicht: Zunächst werden sie bewahrt werden in der den gesamten Erdkreis, die gesamte Oikumene betreffenden „Stunde der Versuchung“ (Apk 3,10). Was mit diesem Begriff gemeint ist, bleibt im Zusammenhang des „Sendschreibens“ an die Christen Philadelphias offen. Vorstellbar ist, dass der Apokalyptiker hier an für die Zukunft potentiell noch bevorstehende staatliche Repressionsmaßnahmen gegen die Glieder der christlichen Gemeinde denkt, in deren Kontext die „Versuchung“ dann darin bestände, dem zunehmenden gesellschaftlichen oder auch offiziell-staatlichen Druck nachzugeben und ihrem Christsein vollständig zu entsagen. Ebenso will nicht ausgeschlossen scheinen, dass der Apokalyptiker angesichts der bereits in der Gegenwart die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Christen gefährdenden gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse und Entwicklungen für die unmittelbare Zukunft eine noch weitergehende Intensivierung derselben befürchtete. Diese wäre dann geeignet, zahlreiche, möglicherweise auch eine große Zahl der sich aktuell noch bewußt ab- und ausgrenzenden Christen zu einer aus der Sicht des Apokalyptikers bei weitem zu weit gehende Integration in die – nun noch attraktivere – pagane Mehrheitsgesellschaft zu veranlassen.
Ergänzend zu dieser letzten Endes innergeschichtlichen Belohnung ist den philadelphischen Christen bereits in der Gegenwart ein – ihre Standhaftigkeit und ihre Glaubenstreue signalisierender – Siegeskranz verliehen. Dieser berechtigt dazu, Teil der am – augenscheinlich zeitlich unmittelbar bevorstehenden – Ende der Zeit sich realisierenden neuen Schöpfung und der im Kontext derselben dann endgültig Gestalt gewinnenden unveräußer- und unverlierbaren heilvollen Lebensgemeinschaft mit Gott im „neuen Jerusalem“ (Apk 21f.
3. Schwerpunkte der Interpretation
Das „Sendschreiben“ an den „Engel der Gemeinde in Philadelphia“ ist durchdrungen von der die Apk als ganze bestimmende Botschaft, dass unverfälschte Glaubenstreue und die Verweigerung einer weit- oder auch nur weitergehenden Integration in die pagane Mehrheitsgesellschaft, die die Christen aus ihrem offensichtlichen Außenseiterdasein hätte herausführen können, mögen sie auch in der Gegenwart Bedrängnisse und Verunglimpfungen von seiten der paganen Umwelt evozieren, sich letzten Endes lohnen werden. Denn nur einer solchen Haltung der Standhaftigkeit eignet die Verheißung der unverlierbaren Teilhabe am – in naher Zukunft sich realisierenden – ewigen Heil eines Lebens in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott.
Dieses hier gezogene Fazit wird in Apk 3,12f. in ähnlicher Weise formuliert: Hier verwendet der Apokalyptiker zwei stereotyp in jedem der sieben „Sendschreiben“ verwendeten Gattungen, nämlich den „Überwinderspruch“ (Apk 3,12) und den „Weckruf“ (Apk 3,13), mit deren Hilfe er dazu zunächst nur im Blick auf die christliche Gemeinde Philadelphias und deren zukünftiges Geschick Formulierte in allgemeingültige Sentenzen gießt.
4. Theologische Perspektivierung
Bereits die im Neuen Testament sichtbar werdende Geschichte des Urchristentums hat gezeigt, dass diese auf eine strenge Separation der christlichen Gemeinde von der paganen Stadtgesellschaft hinzielende theologische Argumentation des Apokalyptikers, die in ihrer theologischen Essenz dem etwa im Johannesevangelium sichtbar werdenden Dualismus von christlicher Gemeinde und „Welt“ vollständig entspricht, eine Minderheitsmeinung gewesen und auch geblieben ist. Nichtsdestotrotz bleibt die Stimme des Apokalyptikers eine wichtige und hörenswerte Stimme innerhalb des Orchesters der neutestamentlichen Schriften, hält er doch die Frage wach, wie weit sich Christen bzw. die christliche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit auf solche Verhältnisse, Entwicklungen, Tendenzen und auch Institutionen einlassen kann, die einen un- oder gar nichtchristlichen Charakter tragen, ohne dabei ihre eigene christliche Identität aufzugeben.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die gerade vorgeführte Exegese hat eine schöne und eine bestürzende Seite. Die schöne Seite: Der Predigttext ist unmittelbar anschlussfähig an die Gegenwart. Die Situationsbeschreibung für die angeschriebene Gemeinde klingt wie eine Beschreibung unserer Gegenwart aus dem Jahr 115 n. Chr. heraus. Dazu unten mehr. Die bestürzende Seite: Alle bisherige Gewissheit, dass die Sendschreiben der Apokalypse und das Buch insgesamt in eine Verfolgungssituation hinein geschrieben waren und zur Stärkung der Gemeinden beigetragen haben, stehen als Fiktion da. Auch der Autor ist wahrscheinlich nicht mehr Exulant auf Patmos, sondern – ja was? Ein Prophet, der wunderbar die zukünftigen Verfolgungen vorweggesehen hat? Aus diesen Spannungen wird die Auslegung gespeist.
Ein guter Spiegel ist natürlich auch die präzise Übersetzung aus der Exegese für die meist übliche Luther-Übersetzung: Vers 11 zielt das „(Weg-)Nehmen“ der Luther-Übersetzung auf bereits Empfangenes, das „Empfangen (statt deiner)“ auf erst noch Geschehendes. Insgesamt scheint die vertraute Übersetzung gut verwendbar zu sein – abgesehen von allen Fragen aus der Bilderwelt der Apokalyptik.
2. Thematische Fokussierung
Anpassung an Verhältnisse aus Bequemlichkeit? Fehlende Gründe, sich von der Mehrheitsgesellschaft abzusetzen (bei allem Pathos des ‚Besonderen‘)? Mangelnde ‚Heiligkeit‘, die sich doch in Schwierigkeiten mit den bestehenden Verhältnissen ausdrücken müsste? Eine Beteiligung an allen möglichen, ‚wahre‘ Heiligkeit verstellenden Kulten, bis hin zu einem existentiellen Mitgehen mit der Mehrheitsgesellschaft? Solche Beschreibungen aus der Exegese sind unmittelbar auf die Gegenwart anwendbar. Sie führen für Predigtsituationen in Deutschland zu einer unmittelbaren Kirchen- und Christentumskritik, die gerade angesichts der aktuellen Zahlen zum „Kippen“ der Kirchen in eine Minderheitensituation hochaktuell ist. Allerdings entsteht eine doppelte Gefahr: Publikumsbeschimpfung und Verfehlen ‚eigentlicher‘ Gründe für Herausforderungen am Predigtort. Dennoch: Das von der Exegese nahegelegte Nachdenken über Anpassung und Abgrenzung von Kirchen, Gemeinden und Glaubenden in der Gesellschaft ist sehr, sehr lohnend.
Hilfreich ist auch, dass die Exegese die in der Gegenwart vielleicht ‚sperrigen‘ Begriffe des Textes unverändert aufnimmt: „Engel der Gemeinde“ (vielleicht auch eine Chiffre für die Gesamtheit der Gemeinde wie die Völker-Engel im AT), heilig, wahrhaftig, Kraft, Wort bewahren, Namen (nicht) verleugnen, Satan, Niederfallen, Versuchung, Krone, überwinden, Pfeiler im Tempel, neues Jerusalem, Geist – die Predigerin oder der Prediger wird sich mit der Bilderwelt der Apokalypse auseinandersetzen müssen und kann auf die Exegese zurückgreifen. Vielleicht verknüpfen sich auch ein gegenwärtiges und das historische ‚apokalyptische Lebensgefühl‘ miteinander, auch wenn ganz unterschiedliche Motive (Klima, Krieg etc. gegen Verfolgung und Heilsverlust) vorliegen. Für Christinnen und Christen heißt Apokalypse auch, dass etwas Neues, schon Vorhandenes, Gottes Wille offengelegt wird und nicht die in einem anderen Verständnis der Apokalypse (z. B. in Filmen) dominanten, in der Johannes-Offenbarung auch vorkommenden Züge von Zerstörung durch Krieg (der Krieg 66-73 n. Chr. im Hintergrund) und Naturkatastrophen, endzeitlichem Kampf, Verfolgung gemeint sein müssen. Die Exegese öffnet Wege zu beidem: Verständnis für das „Bewahren des Wortes / Wortes von der Geduld“ und Standhaftigkeit in der Verfolgungs- und Versuchungssituation.
Spannend wäre es zu überlegen, wer das Gegenüber der angeschriebenen Gemeinde ist. Hier müssten jedoch konkurrierende sehr detaillierte Forschungsauffassungen ausgewertet werden. In diesem Zusammenhang ist die Darstellung der Soteriologie in den Begriffen „Schlüssel Davids“, auf- und zuschließen, „Tür“ etc. etwas, das in einer Predigt vermutlich sehr knapp gefasst werden muss. Ebenfalls zu komplex ist die Aufnahme des Begriffs „Juden“ Vers 9, hier positiv konnotiert, ein antisemitischer Unterton muss unbedingt ausgeschlossen bleiben.
3. Theologische Aktualisierung
Sicher wird vieles am Text fremd bleiben. Die Johannes-Offenbarung ist aufgeladen von Jahrhunderten des Verständnisses; gerade die Sendschreiben, aber auch die Überwindungs- und „Zukunftsberichte“ haben von den auf die Abfassung folgenden Verfolgungen über verschiedenste Phasen der Kirchengeschichte bis in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die Gegenwart glaubenden Menschen Hoffnung gegeben. Der Predigttext stellt Glauben Bewahren und, implizit, Standhaftigkeit mit dem für die nahe Zukunft erwarteten Heil in einen Zusammenhang. Damit ist zugleich ein durchaus deutlicher Anspruch verbunden, deutlicher als vielleicht oft, besonders im Zusammenhang mit dem sich am 2. Advent schon abzeichnenden „Weihnachtschristentum“, gesagt.
Zugleich bietet das Sendscheiben an die Gemeinde in Philadelphia die Möglichkeit, der Gemeinde, in der gepredigt wird, einen Spiegel vorzuhalten: Haben „wir“ ein Bewusstsein für das uns anvertraute Wort? Bewahren wir es, mitsamt seinen Folgen für das Verhalten untereinander und nach außen? Gilt für uns das Wort von der kleinen Kraft; was sind solche Kräfte bei uns? Was erwarten, erhoffen wir durch Glaube und Christsein? Auch der Blick über den Tellerrand auf die anderen Sendschreiben lohnt: Was lösen die Vorwürfe von Lästerung, Lauheit, Verführung bei uns aus? Dabei geht es nicht um Engführungen oder Heilsaktivismus – aber eine ungeschminkte Wahrnehmung der Gemeinde, ihrer Situation und Potentiale in evangelischer Demut und dem Bewusstsein von „diesseitiger“ Imperfektion und Imperfektibiltät.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Lebenserfahrungen von Bedrängnis und der Notwendigkeit zum Standhalten – beides gerade auch in der eigenen Glaubensorientierung -sind im Text deutlich angesprochen, in der Gegenwart aber oft nicht sehr bewusst. In der Adventszeit sollte die Predigt nicht als „Spaßbremse“ gegenüber den Weihnachtsvorbereitungen daherkommen – kann und sollte aber gerade einen Akzent der Ernsthaftigkeit, des offenen Blicks auf die eigene (Gemeinde-) Situation und im Sinne der Exegese das eigene Konsum- und Gesellschaftsverhalten einbringen. Vielleicht sind am Predigtort auch Reste der Advents- als Besinnungs- (früher Fasten-) Zeit vorhanden.
Besonders am Text ist sein Kontrast zu den dominanten Zugängen zum Glauben in der Gegenwart: Herausforderungen im Glauben sind benannt, der Wert des Gottes-Wortes, die Notwendigkeit zur Standhaftigkeit (Bewahren etc.) im Glauben, zum Bekenntnis zu Gott – und nicht eine sofortige Ethisierung oder der Aufruf zu politisch korrektem notwendigem Verhalten. Auch die Gemeinde als solche ist im Blick, schon durch die Anrede. Diese ‚Härte‘ aus den Besonderheiten der johanneischen Schule könnte sich in der Verkündigung als fruchtbar erweisen.
Der Wochenspruch passt zum Blick auf eine freie, nicht unterwürfige Haltung zur ‚Welt‘ / umgebenden Mehrheitsgesellschaft (Lk 21, 28b). Das klassische Wochenlied EG 7 betont den Kontrast zur Jetzt-Situation; auch aus dem zweiten Wochenlied EGE 8 kann der Kontrast gehört werden. Die ausgewählten Verse des Wochenpsalms 80 stützen die Bedrängnissituation. Von den Lesungen bieten AT (Jes 63,15 – 64,3
5. Anregungen
Wieweit kann die oder der Predigende sich im Gegenüber zur Gemeinde inszenieren? Kann sie / er die Gemeinde bei ihren Hoffnungen und den Härten des Glaubens abholen? Eigene Erfahrungen hätten hier gut Platz. Im Advent und durch die Sprachwelt der Apk bietet sich am ehesten eine meditative Predigt, durchaus mit paränetischen Anteilen an. Die Situation Ihrer Orts-, Institutions-, Personal- oder Mediengemeinde im Gegenüber zur umgebenden Gesellschaft könnte ein guter „roter Faden“ für die Predigt sein.
Autoren
- Prof. Dr. Thomas Witulski (Einführung und Exegese)
- Dr. Andreas Ohlemacher (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500002
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