Galater 4,4-7 | Christvesper | 24.12.2023
Einführung in den Galaterbrief
Im Corpus Paulinum
1. Verfasser und Entstehungsort
Der Brief
(a) In 1Kor 16,1 weist er die Korinther an, bei der Kollekte so zu verfahren, wie er es in Galatien „angeordnet“ hat. Aufgrund der dort ebenfalls noch ungeregelten Modalitäten kann dies erst vor kurzem geschehen sein, vielleicht während des zweiten Aufenthalts in den Gemeinden (Apg 18,23). Zur Abfassungszeit des 1Kor war ihre Beziehung noch ungetrübt. Wenn Paulus in Gal 2,10 betont, er sei den auf dem Jerusalemer Apostelkonvent eingegangenen Verpflichtung für die „Armen“ voll und ganz nachgekommen, setzt er die in 2Kor 8f
(b) Auffällig ist die Nähe zum Röm. Enge Berührungen zeigen sich im Aufbau, an dem in Röm 3,19–4,25
2. Adressaten
Als Empfänger kommen Gemeinden in der Landschaft Galatien
3. Wichtige Themen
Vieles spricht dafür, dass es sich bei den in Galatien aktiven Fremdmissionaren um toraobservante Judenchristen handelt. Mit ihrer Kritik an Paulus haben sie die Gemeinden überzeugt und für sich gewonnen. In der Briefsituation stehen diese im Begriff, auf die an sie herangetragenen Forderungen einzugehen: Vollzug der Beschneidung
In Gal 2,16 stellt Paulus erstmals den inneren Zusammenhang von Glaube
4. Besonderheiten
Gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, dass die im Brief eine dominierende Rolle spielende Abraham-Thematik von den Fremdmissionaren eingebracht worden ist. Sie war geeignet, ihre Position zu stärken. Um Kinder Abrahams zu sein und dem auserwählten Gottesvolk anzugehören, müssten sich die Galater wie er und seine männlichen Nachkommen (Gen 17,9–14.23–26; 21,3f) der Beschneidung unterziehen. Paulus entwindet seinen Gegnern dieses Argument, indem er ihnen andere Teile der biblischen Abraham-Erzählung
Literatur:
- Klaiber, W., Der Galaterbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013.
- Eckstein, H.-J., Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes, Göttingen 2017.
- Keener, C.S., Galatians. A Commentary, Grand Rapids 2019.
- Meiser, M., Der Brief des Paulus an die Galater, ThHK 9, Leipzig 2022.
A) Exegese kompakt: Galater 4,4-7
Übersetzung
4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, dem Gesetz unterworfen,
5 damit er die dem Gesetz Unterworfenen freikaufe, damit wir die Sohnschaft erlangen.
6 Weil ihr Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der ruft: Abba, Vater.
7 So bist du kein Sklave mehr, sondern Sohn. Bist du aber Sohn, dann auch Erbe durch Gott.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V.4a Die Zeitangabe ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου bildet die Antithese zu ὅτε ἦμεν νήπιοι (V.3b). In V.4a ist nicht in einem tieferen theologischen Sinn von der „Fülle der Zeit“ schlechthin die Rede (vgl. etwa Mk 1,15), sondern vom Ende der befristeten Zeit der Unmündigkeit.
V.5 Die zwei einander koordinierten Finalsätze beziehen sich chiastisch auf die Sendungsaussage von V.4b zurück. Der erste referiert speziell auf die zweite attributive Bestimmung γενόμενον ὑπὸ νόμου, der zweite auf das Sendungsmotiv insgesamt: „Gott sandte seinen Sohn ..., damit wir die Sohnschaft empfingen“. Beide ἵνα-Sätze beschreiben Ziel und Folge der Sendung des Sohnes.
V.6 Zu „weil“ für ὅτι vgl. Röm 6,15; 9,7.32; 1Kor 2,14; 3,13; 10,17; 2Kor 11,7.11.
2. Einordnung in den Kontext
Gal 4,4–7 ist Teil des ersten Beweisgangs (3,1–5,12
3. Leitfaden der Interpretation
Textpragmatisch hat 4,(1–3).4–7 die Funktion, den Galatern ihren jetzigen Heilsstand mit Hilfe eines Beispiels aus dem Erb- und Vormundschaftsrecht zu verdeutlichen. Bis zu dem von seinem Vater
In V.3 wird das Bild auf die Sachebene übertragen, verbunden mit einem Tempuswechsel („so waren auch wir“), der den inzwischen erfolgten Statuswechsel indiziert und zu erkennen gibt, worauf Paulus mit dem Vergleich hinaus will: Gott hat vormals unter Fremdherrschaft Stehende durch die Sendung seines Sohnes aus diesem Dauerzustand befreit, damit sie in die Sohnschaft eingesetzt und seinem Sohn Jesus Christus
In V.6 werden Sohnschaft und Geistbesitz als untrennbare Einheit miteinander verkoppelt. Resultiert aus der Sendung des Gottessohnes die Sohnschaft der Christen, so aus ihrer Zugehörigkeit zu ihm auch die Begabung mit seinem Geist, der in ihnen wohnt (vgl. Röm 8,9.11) und sie befähigt, wie Jesus (Mk 14,36) Gott als „Abba, Vater“ anzurufen. Das Eine ist mit dem Anderen gegeben, nicht etwas die Folge davon oder seine Voraussetzung. Weil sie Söhne sind, wohnt Christi Geist, d.h. Christus selbst (Gal 2,20), in den Herzen der an ihn Glaubenden.
V.7 nimmt die entscheidenden Begriffe „Söhne (Kinder) Gottes“ (3,26) und „Erben“ (3,29) wieder auf, jetzt allerdings wegen der ad personam gerichteten Anrede („Du“) im Singular. Gegenüber 3,26–29 enthält der Vers nichts eigentlich Neues. Er zieht die Folgerung aus der Anwendung des Beispiels auf die Adressaten (4,6). Zugleich formuliert er die Quintessenz des bisherigen Argumentationsgangs (3,6–29) und stellt fest, was zu beweisen war. Negativ gesprochen: Christuszugehörigkeit und also Gottessohnschaft heißt, nicht länger einem Dritten in Sklavenmanier zu dienen. Positiv gesagt: Der Glaube an Christus, den Nachkommen Abrahams, rechtfertigt und macht die Glaubenden aus den Völkern (3,8fin.14) zu legitimen Nachkommen und Erben Abrahams.
4. Hermeneutischer Nachtrag
Die erste Näherbestimmung der Sendungsaussage γενόμενον ἐκ γυναικός („geboren von einer Frau) entspricht dem hebräischen Ausdruck jelûd ’iššah („der Weibgeborene“), der den Menschen in seiner Sterblichkeit und Vergänglichkeit im Blick hat (Hi 14,1; Sir 10,18; 1QS 11,21; 1QH 13,14f; 18,12f). Gal 4,4c ist deshalb weder ein Zeugnis für noch ein Zeugnis gegen die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria. Ob das in den 2. Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnis aufgenommene „natus ex Maria virgine“ zu den unaufgebbaren, weil theologisch denknotwendigen Dogmen der Kirche gehört, kann nur aufgrund dogmatischer Überlegungen entschieden werden.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die Exegese ist heilsam ernüchternd, indem sie deutlich aufzeigt, dass die Perikope zunächst nicht weihnachtlich konnotiert ist. Die „erfüllte“ Zeit, der gesandte Sohn, das „Geboren von einer Frau“ sind zunächst nicht auf das Kind in der Krippe bezogen, sondern entstammt einem anderen (Argumentations-)Kontext. Die Zuordnung der Perikope zur Christvesper verdankt sich weniger exegetischen Einsichten als wohl eher einer Stichwortassoziation. D.h. die Verbindung des Textes zu Weihnachten ist nicht intrinsisch gegeben, sondern ist eine Aufgabe und muss predigend hergestellt werden.
2. Thematische Fokussierung
Der thematische Fokus liegt für mich auf dem Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit, wie er anschließend seinen Ausdruck in Gal 5,1 findet: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Auf diese Statusfeststellung und den daraus folgenden Apell läuft auch der Knecht vs. Kind-Vergleich aus Gal 4, 4ff zu. Das „weihnachtliche“ Motiv wurde dabei traditionell darin gefunden, dass es die Sendung des Sohnes („geboren von einer Frau“) ist, die die Gläubigen zu freien Kindern („Söhnen“) macht.
Das Interesse in der Perikope liegt aber weniger auf den heilsgeschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit als vielmehr auf der Freiheit in der Gegenwart (Präsenz in V. 6+7 und direkte Anrede V.7). Befreit sind die Gläubigen nicht nur vom „Gesetz“ und dessen Vorschriften, sondern auch von der Knechtschaft der „Mächte der Welt“ (4,3 und 4,9). Ausdruck und Bestätigung der Freiheit ist der jetzt in den Gläubigen wirksame Geist. Dieser lässt sie Gott als Vater anrufen.
3. Theologische Aktualisierung
Die aktuelle Gegenwart (Sommer 2023) zeichnet sich durch eine tiefe Ambivalenz aus: einerseits das Gefühl des Dauerkrisenmodus (allgemein: Klimakrise, Corona, Krieg in der Ukraine, Inflation; bei Kirche: sinkende Mitgliederzahlen, Ressourcen und gesellschaftlicher Bedeutungsverlust); andererseits ein gewisser Abstumpfungseffekt (Corona vorbei, Kältewinter nicht so schlimm wie befürchtet, Krieg nichts Neues….).
In dieser Situation redet der Text von Befreiung und Mündigkeit!
Diese Freiheit ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, und sie ist auf das Tiefste verbunden mit der Menschwerdung Christi. Gerade indem er sich nicht nur in menschliche Sterblichkeit und Vergänglichkeit („geboren von einer Frau“), sondern auch unter das „Gesetz“ und die „Mächte dieser Welt“ begibt, sprengt er diese auf und befreit die, die an ihn glauben. Aus dem Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes erwächst Freiheit und Mündigkeit!
Dabei erweist sich die Freiheit aus dem Glauben wiederum im freien Dienst am Nächsten (vgl. Gal 5,14; 6,2 – oder gut reformatorisch in Luthers Doppelthese: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“). Die Menschwerdung Christi führt damit selbst zur mündigen „Mitmenschlichkeit“ der Christ:innen.
Eine Predigt über Gal 4 könnte also durchbuchstabieren, wie angesichts der (scheinbar übermächtigen) Gesetze und Mächte dieser Welt Freiheit aus dem Glauben aussieht, die sich gegen ohnmächtige Wut und Verzweiflung, aber auch Abstumpfung und Resignation gerade in der Mit-menschlichkeit bewährt. Eine wichtige Konkretion hierzu ließe sich m.E. aus Gal 4,6 ableiten, wo (mindestens indirekt) auf das Gebet als Betätigung und Bestätigung der Freiheit der Kinder Gottes verwiesen wird
4. Bezug zum Kirchenjahr
Trotz der Ergebnisse der Exegese, die zunächst eine Distanz zwischen der Perikope und den traditionellen Elementen des Weihnachtsfestes herstellen, wird sich eine Predigt – zumal in der Christvesper – nur schwer dem Eigengewicht des Heiligen Abends (und den damit verbundenen Erwartungen der Gottesdienstbesucher:innen) entziehen können.
„Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“ lässt in diesem Kontext bei den Zuhörer:innen kaum andere Assoziationen als an Maria und den Stall zu….
Daran darf man m.E. auch durchaus positiv anknüpfen. Eine Weihnachtspredigt von Gal 4 her könnte dann aber weiterführend Weihnachten und die Menschwerdung Christi als Beginn eines Befreiungsgeschehens akzentuieren.
Zugleich vermag der Hinweis des Gal auf die Mündigkeit der Kinder Gottes (gegenüber der Unmündigkeit der Sklaven) einer Infantilisierung der Weihnachtsbotschaft (das Kindlein in der Krippe, das uns alle zu Kindern Gottes macht….) vorzubeugen.
5. Anregungen
Die Christvesper wird in vielen Gemeinden als Familiengottesdienst und oft mit Krippenspiel gefeiert. In diesem Fall sollte besonders darauf geachtet werden, Inhalt bzw. Akzentuierung des Krippenspiels und der Predigt miteinander abzustimmen.
Gleiches gilt für eine ebenso weit verbreitete Inszenierung der Verlesung der Weihnachtsgeschichte im Zusammenspiel mit Weihnachtsliedern.
Ausgehend von den ausgeführten Überlegungen ließen sich Gottesdienst und Predigt unter das Motto stellen: Weihnachten – das Fest der Freiheit! Dieses Motto kann dann neue und eher ungewohnte Perspektiven auf das Weihnachtsgeschehen eröffnen.
Gemäß Gal 4,6 kann der Gottesdienst (und insbesondere die Gebete) bereits selbst als ein Akt der Freiheit verstanden werden. Indem wir Gottesdienst im Geiste Jesu feiern, die Weihnachtsgeschichte verlesen oder aufführen, singen und beten (Abba, lieber Vater…), durchbrechen wir bereits die Ketten der „Knechtschaft der Mächte der Welt“ und machen etwas von der Freiheit der Kinder Gottes sichtbar und erlebbar.
So verstanden wäre die Christvesper selbst als ein Fest der Freiheit zu inszenieren.
Autoren
- Prof. em. Dr. Dieter Sänger (Einführung und Exegese)
- Dr. Claus Müller (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500005
EfP unterstützen
Exegese für die Predigt ist ein kostenloses Angebot der Deutschen Bibelgesellschaft. Um dieses und weitere digitale Angebote für Sie entwickeln zu können, freuen wir uns, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen, indem Sie für die Bibelverbreitung im Internet spenden.
Entdecken Sie weitere Angebote zur Vertiefung
WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon Bibelkunde