Deutsche Bibelgesellschaft

1. Korinther 1,26-31 | 1. Sonntag nach Epiphanias | 07.01.2024

Einführung in den 1. Korintherbrief

1 Kor ist, verglichen mit den anderen paulinischen Briefen (ausgenommen Röm) und insbesondere auch im Vergleich mit antiken Privatbriefen, ungewöhnlich umfangreich. Die paulinische Verfasserschaft wird im Allgemeinen nicht in Frage gestellt, die neuere Exegese kommt ganz überwiegend zu dem Ergebnis, dass 1 Kor literarisch einheitlich ist.

1. Verfasser

Über Denken und Wirken des Paulus, die uns historisch am besten bekannte Gestalt des frühen Urchristentums, informieren die sieben allgemein als authentisch angesehenen neutestamentlichen Briefe. Eine wichtige Quelle für die paulinische Biographie ist darüber hinaus die Apostelgeschichte des Lukas, auch wenn deren historische Verlässlichkeit nicht immer gegeben ist. In ihrer Darstellung des ersten Aufenthalts des Paulus in Korinth wird der römische Statthalter Gallio erwähnt (Apg 18,12), dessen Amtszeit laut einer in Delphi gefundenen Inschrift auf das Jahr 50/51 oder 51/52 zu datieren ist. Demnach war Paulus also in den frühen 50er Jahren in Korinth. Er schrieb dann mehrere Briefe nach Korinth, einen in 1 Kor 5,9 erwähnten, nicht erhaltenen Brief sowie einige kürzere, später als „2 Kor“ vermutlich redaktionell zusammengestellte Briefe.

2. Adressaten

Aus der Provinz Asia kommend war Paulus in Philippi und Thessaloniki. Nach kurzem Aufenthalt in Athen (Apg 17,15-18,1) kam er nach Korinth, wo er Aquila und Priska traf, die aufgrund des Claudius-Edikts aus Rom nach Korinth gekommen waren. Sie waren offenbar (Juden-)Christen, aber eine Gemeinde von Christusgläubigen gab es in Korinth noch nicht. Die Gemeinde entstand nach Darstellung der Apg im Umfeld der Synagoge (18,4-11). Aus 1 Kor geht hervor, dass zu den korinthischen Christusgläubigen auch Juden gehörten (7,18), aber die Gemeinde lebte im Gegenüber nicht nur zu „Heiden“ (Griechen), sondern auch zu Juden (10,32). Die Briefkorrespondenz zeigt, dass die korinthische Gemeinde für Paulus besonders wichtig war; in den Briefen nach Korinth nimmt er, anders als etwa im Gal, zu den aktuellen innergemeindlichen Problemen in einer Weise Stellung, als gehöre er selbst zu ihr.

3. Entstehungsort

1 Kor wurde in Ephesus geschrieben. Die in 15,32 (vgl. 2 Kor 1,8) erwähnte lebensbedrohliche Situation, die möglicherweise mit den in Apg 19,23-40 geschilderten dramatischen Ereignissen in Verbindung stand, war offensichtlich überwunden, denn Paulus kündigt in 16,6-8 an, er wolle „bis Pfingsten“ in Ephesus bleiben und erst dann wieder nach Korinth reisen. In Apg 20,31 wird von einem dreijährigen Aufenthalt in Ephesus gesprochen, könnte 1 Kor könnte also etwa vier Jahre nach dem Gründungsbesuch in Korinth verfasst worden sein, etwa im Jahre 54/55.

4. Wichtige Themen und Argumentationsgang des 1 Kor

Paulus kritisiert im Eingangsteil des 1 Kor die Existenz innergemeindlicher „Parteien“; dabei richtet er den Brief immer an die ganze Gemeinde, wobei er schon in der Adresse (1,2) die Adressaten auf ihren „ökumenischen“ Kontext verweist (vgl. 4,17; 7,17; 11,16; 14,33). Die Konflikte in Korinth sind offenbar „hausgemacht“; dass „von außen“ gekommene fremde Missionare („Gegner“) aktiv geworden wären, ist im 1 Kor – anders als dann vor allem in 2 Kor 10-13 – nicht zu erkennen.

1 Kor ist durchgängig bestimmt durch die Reaktionen auf die akute Lage in Korinth; kein anderer Paulusbrief informiert (uns) so detailliert über die bei den Adressaten bestehende Situation. Paulus hatte durch „die (Leute) der Chloe“ (1,11; leider erfahren wir nichts Näheres über sie) wie auch durch Stephanas und dessen Begleiter (16,17f.) sowie durch mündliche Nachrichten (5,1) und durch den in 7,1 erwähnten korinthischen Brief von den Problemen in Korinth erfahren und sah sich zu einer umfassenden Reaktion herausgefordert, wobei der Brief einen persönlichen Besuch vorläufig ersetzen soll (16,5–9; vgl. 11,34).

Aus 1,12 geht hervor, dass es Gruppen („Parteien“) gab, die sich an bestimmten Führern orientierten (1,12); Ursache könnte ein ausgeprägtes Interesse an „Weisheit“ gewesen sein, die Suche nach spekulativer religiöser Erkenntnis (1,17; 1,18ff.). Welche Vorstellungen die einzelnen Gruppen vertraten, ist für uns nicht erkennbar; Paulus geht nicht auf Einzelheiten ein, sondern lehnt die  Existenz von Parteien ab. Er wertet die soziale Zusammensetzung der Gemeinde als Indiz dafür, dass Gott den Maßstäben menschlicher Weisheit widerspricht (1,18-31) Möglicherweise gab es in Korinth einen religiösen Enthusiasmus (vgl. 4,8), der sich in Schlagworten wie „Alles ist erlaubt“ oder „Wir alle haben Erkenntnis“ niederschlug (vgl. 6,12; 8,1; 10,23). Paulus betont dagegen die Theologie des Kreuzes: Die Existenz der Christusgläubigen ist dadurch bestimmt, dass ihr Herr sich am Kreuz, d.h. in Niedrigkeit, und nicht in Glorie offenbart hat.

In 5,1–7,40 nimmt Paulus zu aktuellen moralischen Problemen Stellung. Ein Mann, der „die Frau seines Vaters hat“, muss aus der Gemeinde ausgeschlossen werden (5,1-13), angesichts von Konflikten um Vermögensfragen (6,1–6) schlägt Paulus die Bildung einer innergemeindlichen Zivilgerichtsbarkeit vor, betont aber, dass der Verzicht auf die Durchsetzung von Rechtsansprüchen das eigentlich Angemessene wäre (6,7-11). In diesem Zusammenhang wird betont, dass der Christ auch körperlich seinem Herrn gehört – offenbar gab es einen religiös motivierten „Libertinismus“ ebenso wie umgekehrt die Forderung nach strikter Askese (6,12-20; vgl. 7,1). Aus 1 Kor 7 geht hervor, dass die Frage der Ehe und insbesondere der „Mischehen“ in Korinth umstritten war.

In Kap. 8-11 erörtert Paulus die Tatsache, dass korinthische Christusgläubige an Mahlzeiten teilnehmen, die auch kultischen Charakter haben können. Paulus betont die Freiheit zum Essen des „Götzenopferfleisches“ (8,1ff.), doch gebe es diese nicht abstrakt, sondern nur konkret in der Gemeinschaft der Glaubenden. Der Verzehr von Opferfleisch ist nicht wegen einer womöglich kultischen Qualität des Fleisches verboten, aber der Verzicht ist geboten aus Rücksicht auf andere, die tatsächlich Anstoß nehmen. Eine unmittelbare Teilnahme am Opferkult („Tisch der Dämonen“) ist unvereinbar mit der Teilhabe am „Tisch des Herrn“ (10,14-22).

Da es offenbar Tendenzen gab, die üblichen Konventionen im Verhältnis von Männern und Frauen zu verwischen, fordert Paulus, Frauen sollten die übliche Haartracht tragen, wenn sie im Gottesdienst predigen und beten (11,2-16; das dazu im Widerspruch stehende rigorose „Sprechverbot“ in 14,34.35 ist sehr wahrscheinlich eine später eingefügte Interpolation). Zur Mahlfeier erfuhr Paulus von Verhaltensweisen, die es aus seiner Sicht „unmöglich“ machten, das „Herrenmahl“ zu feiern, da jeder „sein eigenes Mahl“ vorwegnimmt (11,17-34). Da aber in diesem Mahl der Tod des Herrn verkündigt wird „bis er kommt“, ist ein individualistischer Missbrauch der Mahlfeier verwerflich.

Das Pneumatikertum ist in Korinth stark entwickelt (1 Kor 12-14). Paulus betont deshalb das Zusammenwirken aller „Glieder“ innerhalb des „Leibes“, in dem es keinerlei Hierarchie gibt; dann bezeichnet er abschließend die Gemeinde ganz betont als „Leib Christi“ (12,27). In 13,1-13 beschreibt er die Liebe als kritischen Maßstab für alles Handeln; dieser Text ist kein „Lied“, sondern bezieht sich durchgängig auf die Gemeindesituation. Paulus schreibt nicht, dass es der korinthischen Gemeinde an Liebe mangelt, aber er betont, dass die Liebe höherwertig ist als alle „Geistesgaben“ und alle „Erkenntnis“. In Kap. 14 zum „Zungenreden“ fordert er, die geistgewirkte Ekstase müsse danach beurteilt werden, was sie zum Aufbau der Gemeinde beiträgt; dann verliere die Ekstase ihren besonderen Wert, und zugleich erweise sich jede Leistung für die Gemeinde als eine Wirkung des Geistes. Auch in Kap. 15 wird die Gemeindesituation sichtbar: Einige sagen „Es gibt keine Auferstehung der Toten“ (V. 12), andere hingegen lassen sich sogar „für die Toten“ taufen, um ihnen Anteil an der Auferstehung zu geben (V. 29). Dagegen argumentiert Paulus vom Bekenntnis her (V. 1-11): Aus dem Glauben an Jesu Auferstehung folgt die Hoffnung auf die noch in der Zukunft liegende Auferstehung der Toten (V. 20). Die Frage, auf welche Weise die Toten auferstehen werden, ist töricht (V. 35), denn die Erfahrung lehrt doch, dass der gesäte Same zuerst „stirbt“ und dass Gott ihm dann einen neuen Leib gibt (V. 35-41); in der Auferstehung der Toten wird Gott ebenso handeln (V. 42-49). Am Ende offenbart Paulus ein „Geheimnis“: Es werden alle – die Toten und die bei der Parusie Lebenden – verwandelt werden, und erst dann wird der Tod besiegt sein (V. 50-55). Gegenwärtig aber wird die Macht des Todes erfahren in Form der durch das Gesetz wirksamen Sünde (V. 56). Am Ende (16,1-24) stehen organisatorische Anweisungen zur Sammlung der Kollekte für Jerusalem, sodann eine Besuchsankündigung sowie Grüße.

5. Besonderheiten

Der Argumentationsgang des Paulus im 1 Kor lässt eine innere Kohärenz erkennen: Es gibt eine christologische, kreuzestheologische Grundlage für die Aussagen zu den unterschiedlichen Themen. Schwer zu beantworten ist die Frage nach dem religiösen bzw. philosophischen Hintergrund der korinthischen Parteienbildung; die Annahme, hier zeige sich eine frühe Form christlicher „Gnosis“, wird im Allgemeinen verneint, aber „weisheitliche“ Tendenzen sind deutlich erkennbar (1,18-31; 2,1-16). Kontrovers diskutiert wird die Frage, welche Vorstellung hinter der in Korinth ausgesprochenen Ablehnung der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten (1 Kor 15,12) steht: Möglich ist, dass die Erwartung der Auferstehung als „unvernünftig“ angesehen wird; die in 15,12 zitierte Aussage könnte aber im Gegenteil auch „enthusiastisch“ gemeint gewesen sein in dem Sinne, die Glaubenden seien „bereits auferstanden“ (vgl. 2 Tim 2,18).

Literatur:

  • Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 21981.
  • Eva Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römíscher Vereine (WUNT II/178), Tübingen 2004.
  • Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000.
  • Margaret M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG4 Band 4, Tübingen 2001, Sp. 1688–1694.
  • Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 2009.

A) Exegese kompakt: 1. Korinther 1,26-31

26Βλέπετε γὰρ τὴν κλῆσιν ὑμῶν, ἀδελφοί, ὅτι οὐ πολλοὶ σοφοὶ κατὰ σάρκα, οὐ πολλοὶ δυνατοί, οὐ πολλοὶ εὐγενεῖς· 27ἀλλὰ τὰ μωρὰ τοῦ κόσμου ἐξελέξατο ὁ θεός, ἵνα καταισχύνῃ τοὺς σοφούς, καὶ τὰ ἀσθενῆ τοῦ κόσμου ἐξελέξατο ὁ θεός, ἵνα καταισχύνῃ τὰ ἰσχυρά, 28καὶ τὰ ἀγενῆ τοῦ κόσμου καὶ τὰ ἐξουθενημένα ἐξελέξατο ὁ θεός, τὰ μὴ ὄντα, ἵνα τὰ ὄντα καταργήσῃ, 29ὅπως μὴ καυχήσηται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον τοῦ θεοῦ. 30ἐξ αὐτοῦ δὲ ὑμεῖς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, ὃς ἐγενήθη σοφία ἡμῖν ἀπὸ θεοῦ, δικαιοσύνη τε καὶ ἁγιασμὸς καὶ ἀπολύτρωσις, 31ἵνα καθὼς γέγραπται· ὁ καυχώμενος ἐν κυρίῳ καυχάσθω.

1. Korinther 1:26-31NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

26 Seht doch, Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme [sind berufen].

27 Sondern das Törichte der Welt hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden mache;

28 und das Geringe der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt – das Nicht-Seiende, damit er das Seiende zunichtemache,

29 auf dass sich kein Fleisch rühme vor Gott.

30 Von ihm her aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns geworden ist Weisheit von Gott her und Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung,

31 damit, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn!“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 26a: Das pluralische ἀδελφοί, zumal in der brieflichen Anrede, ist generisches Maskulinum und bezieht sich auf Frauen und Männer in der Gemeinde (in 1 Kor 7,15; 9,5 differenziert Paulus aus sachlichen Gründen).

In V. 26b fehlt ein Verb – es werden einfach drei Gruppen aufgezählt.

V. 27.28: Die Genitivverbindungen (τὰ μωρὰ τοῦ κόσμου usw.) bezeichnen die Relation – „was nach dem Maßstab der Welt als töricht gilt“.

In V. 28 (Nicht-Seiendes/Seiendes) werden die vorangegangenen Gegen-sätze in hyperbolischer Weise scharf unterstrichen

2. Kontext

In 1,18-25 sprach Paulus von dem von ihm gepredigten „Wort vom Kreuz“, das als „Weisheit Gottes“ (σοφία τοῦ θεοῦ) im Widerspruch steht zu der durch menschliche Vorstellungen geschaffenen „Weisheit der Welt“ (σοφία τοῦ κόσμου), die eine von Gott ferne Erklärung der Wirklichkeit der Welt anstrebt. Diese kreuzestheologisch begründete Kritik der Weisheit wird nun in 1,26-31 fortgesetzt und näher erläutert (βλέπετε γάρ): Die korinthischen Adressaten sollen sich ihre eigene gemeindliche Situation bewusst machen und das Wesen ihrer Berufung (κλῆσις) erkennen. Anschließend (2,1-5) erinnert Paulus an seine gemeindegründende Predigt in Korinth, die diesen Maßstäben entsprach, damit der durch diese Verkündigung entstehende Glaube nicht auf menschlicher Weisheit gründet, sondern auf der Kraft Gottes (2,5).

3. Exegese

Paulus hatte gleich nach der Brief-Einleitung (1,1-9) die in der korinthischen Gemeinde vorhandenen Spaltungen kritisiert (1,10-18); möglicherweise spielte die Taufpraxis eine Rolle (1,13-17), aber die Hintergründe (1,12) bleiben für uns unklar. Paulus sieht in der Parteienbildung offenbar einen Beleg für ein unzulässiges Streben nach menschlicher Weisheit (1,22-25). Deshalb führt er den Adressaten in Korinth die Tatsache vor Augen, dass es unter ihnen nur wenige („nicht viele“, οὐ πολλοί) üblicherweise als einflussreich geltende Menschen gibt (1,26), wobei „nicht viele“ wohl wörtlich zu verstehen ist, nicht im Sinne von: „niemand“. An wen Paulus denkt, können wir nicht sagen; zu denken wäre etwa an den in 1,12 und dann noch mehrfach erwähnten Apollos (zuletzt 16,12; vgl. Apg 18,24-19,1), oder auch an den in Röm 16,23 erwähnten Erastus). Der Begriff „Weise nach dem Fleisch“ (σοφοὶ κατὰ σάρκα) bezeichnet vermutlich intellektuell besonders fähige Menschen, wobei ein kritischer Unterton nicht zu überhören ist. δυνατοί sind wirtschaftlich und politisch mächtige Personen, εὐγενεῖς sind gesellschaftlich besonders anerkannte Menschen, ohne dass zwischen diesen genannten Gruppen genau zu differenzieren wäre. Die Aufzählung entspricht weitgehend der prophetischen Mahnrede in Jer 9,22f. LXX, nur die Erwähnung des Reichtums fehlt (in V. 31b wird Paulus den Abschluss der Prophetenrede in verkürzter Form zitieren). In V. 27.28 formuliert Paulus die Gegenaussage (ἀλλὰ …), wobei er sprachlich auf die Ebene der Abstraktion wechselt: Gott hat „das Törichte der Welt … erwählt“ – offenbar soll eine Personalisierung der Erwählten vermieden werden. Gemäß diesem erwählenden Handeln Gottes steht die ganze Gemeinde, auch die in V. 26 genannte Minderheit, auf der Seite dessen, was nach üblichen menschlichen Maßstäben als gering und als verachtet gilt. Dazu Conzelmann (1 Kor, S. 72): „Paulus lehrt nicht, daß ‚die‘ Niedrigen erhöht werden, sondern daß der Glaube das Heil ohne Rücksicht auf den weltlichen Stand empfängt.“ Gott hat diese Wahl getroffen (Paulus schreibt dreimal ἐξελέξατο ὁ θεός), damit kein Mensch ihm gegenüber einen Anspruch erheben kann (ὅπως μὴ καυχήσηται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον τοῦ θεοῦ, V. 29). Das Verb καυχᾶσθαι begegnet in diesem Zusammenhang etwas überraschend, es ist aber offensichtlich gewählt mit Blick auf das abschließende Schriftzitat in V. 31) gewählt, wo die Aussage von V. 29 „gedeutet“ wird. In V. 30 wird ein Christusbezug hergestellt mit einem auffallenden Wechsel von der Anrede in V. 30a („Von ihm [Gott] her seid ihr in Christus Jesus“ ἐξ αὐτοῦ δὲ ὑμεῖς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) zu der geradezu als Bekenntnis formulierten Aussage in V. 30b: Er, Christus, „ ist für uns geworden …“ (ὃς ἐγενήθη … ἡμῖν ἀπὸ θεοῦ) zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung. Jetzt kann von Weisheit gesprochen werden, denn „in Christus Jesus“ kann sie nicht als menschliche Weisheit missdeutet werden. Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) ist hier offenbar im Sinne der im 1 Kor sonst nur noch in 4,4 und vor allem in 6,11 anklingenden Rechtfertigungstheologie gemeint, denn das „für uns“ (ἡμῖν) gilt nicht nur für die Weisheit. Von Heiligung (ἁγιασμός) spricht Paulus sonst nur in 1 Thess 4 und in Röm 6,19.22, selten von Erlösung (ἀπολύτρωσις, Röm 3,24; 8,23). Sehr bewusst verwendet Paulus hier allgemein verständliche religiöse Begriffe, die er nun gezielt in Beziehung setzt zu Gottes Handeln in Christus. In V. 31 nennt er Gottes damit verbundene Absicht (ἵνα), wie sie schon in der biblischen Überlieferung ausgesprochen ist (καθὼς γέγραπται): Das in V. 29 scharf zurückgewiesene „Rühmen“ ist nun doch zulässig – aber „im Herrn“ (ἐν κυρίῳ)! Die Gottesrede Jer 9,22–23 wird sehr verkürzt zitiert, vielleicht hatte Paulus eine entsprechende Textfassung. Die Wendung „im Herrn“ (ἐν κυρίῳ) steht so nicht im biblischen Text, sie stellt aber für Paulus das eigentliche Ziel der Aussage dar. κύριος bezieht sich hier auf Christus, in Jer 9,23 LXX begegnet sie als Gottesprädikat. Paulus kam es offenbar darauf an, die Wirklichkeit der in der Welt – konkret: in der Stadt Korinth – existierenden Gemeinde so zu beschreiben, dass das fundamentale Gegenüber von Gott und Welt erkennbar wurde, ohne dass damit der Gedanke verbunden worden wäre, die Gemeinde müsse diese Welt, also Korinth, verlassen.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Drei exegetisch gewonnene Gesichtspunkte lohnen sich, weiter geführt zu werden.

Erstens ist deutlich geworden, dass Paulus mutig programmatisch und rhetorisch kraftvoll gleich zu Beginn ein Doppelproblem adressiert: interne Differenzen, die zu noch tieferen Krisen führen könnten (Spaltungen). Und davor steht die bedrängende Frage: Wie kann die Gemeinde in der Stadtgesellschaft, überhaupt in der Welt mit ihren gänzlich anderen Maßstäben bestehen? Man könnte von internen Rangdebatten unter einem gewissen Außendruck sprechen, wobei der gesellschaftliche Außendruck eher eine externe Ablehnung darstellt.

Dass hier nicht allein Glaubenshaltungen eine Rolle spielen, sondern reale soziale, existenziell folgenreiche Verhältnisse, wurde, zweitens, exegetisch mit Hinweis auf die σοφοὶ, δυνατοί und εὐγενεῖς knapp skizziert und weckt natürlich sofort tiefergehendes Interesse: Wer verbirgt sich genau dahinter? Was bedeutet es, wenn sich in einer Gemeinde die Mehrheit jenseits aller gesellschaftlichen und ökonomischen Privilegien bewegt? Wer wenig gebildet war und auf schwere, gering entlohnte Handarbeit festgelegt, galt so gut wie nichts (vgl. Schottroff). Die Mehrheit der Gemeinde schien aber genau auf diese mindere Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt angewiesen zu sein, war deswegen höchstwahrscheinlich nicht im Lesen und Schreiben geschult und hatte nicht zuletzt deswegen weder Ansehen noch einen Einfluss in der Stadt Korinth. Kaum Bildung, kaum Macht, kaum Einfluss. Das ist im Kontext des städtischen Zusammenlebens eine tiefe Kränkung! Paulus adressiert diese Kränkung auch, indem er gewissermaßen im Gegenzug den Topos καταισχύνῃ (V. 27) gleich doppelt nennt. Hier ist er übersetzt mit „zuschanden machen“. Das findet allerdings kaum noch so im Sprachgebrauch. Deshalb lohnt es sich sicherlich, noch einmal vor Augen zu führen, dass mit καταισχύνῃ ein ethischer Begriff des Beschämens, Kränkens, Demütigens aufgenommen ist. Im antiken Denken wird damit ja nicht nur auf ein bloßes Gefühl, hier also das der Scham, angespielt, das erzeugt wird, sondern auf ein gesamtes damit verbundenes Werte- und Anerkennungssystem. An der Frage, ob beschämt oder nicht, entscheidet sich der Status eines Einzelnen oder einer Gruppe im Gesamten einer Gesellschaft. Wo aber danach gestrebt wird, Scham zu vermeiden, hat das von Paulus benannte Beschämen durch Gott selbst enorme Wucht. Darum nimmt er einen Richtungswechsel vor: Die römische Elite wird beschämt. Und Gott selbst ist es jetzt, der die beschämt, die sich für gebildet, einflussreich und machtvoll halten. Aber zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Paulus davor zurückschreckt, konkrete Personen zu nennen. Das Bleiben im Ungefähren und Abstrakten kann als eine bemerkenswerte Zurückhaltung gelesen werden!

Der dritte bereits erwähnte und noch einmal anders hervorzuhebende Gesichtspunkt liegt darin, wie sich Paulus an die Mahnrede des Jeremia (9,22ff.) rückbindet: Vor Gott ist keine der innerweltlichen, gesellschaftlichen Statusdefinitionen von heilsentscheidender Relevanz. Gott wählt nicht aus gemäß Rang und Status. Jeremia hatte klar gemacht, dass sich Menschen allenfalls rühmen können, dass sie den Herrn und dessen Programm kennengelernt haben (Barmherzigkeit, Recht, Gerechtigkeit, 9,23) – und dementsprechend leben sollen (vgl. Wilk). In der Kenntnis der Jeremia-Passage verstärkt Paulus diesen Anspruch nochmals, aber betont darüber hinaus, dass der individuelle und gemeinschaftliche Selbstwert gänzlich außerhalb des eigenen Leistens, Könnens und Vermögens liegt, sondern ausschließlich ἐν κυρίῳ. Deshalb muss, so lässt sich schlussfolgern, die Hauptaufgabe sein, auf diesen κύριος zu verweisen, ob es nun der Einzelne tut oder die gesamte Gemeinde.

Die paulinische Argumentation ist Entlastung und Bestärkung zugleich

Die Argumentationsweise hat etwas Entlastendes und Bestärkendes zugleich: Entlastend, denn das Sein der Gemeinde ἐν κυρίῳ entbindet von dem Anspruch, vor den Augen der Welt doch immer noch angesehener, einflussreicher, gebildeter werden zu wollen. Bestärkend, denn gerufen ἐν κυρίῳ zu sein, bedeutet, sich darauf verlassen zu können, dass ein Leben, gerecht, geheiligt, erlöst (V. 30) gegeben wird. Wo Menschen endlich eine andere Gerechtigkeit erfahren, da wird ihr Leben und Handeln, gemäß der Weisung Gottes geleitet auch von der Gerechtigkeit Gottes. Wo sie erfahren, dass sie geheiligt werden, fällt alle Ausgrenzungs- und Demütigungspraxis der Stadt an ihnen ab. Wo sie erinnert werden, etwa an den Freikauf Israels und daran, wie sie selbst gewissermaßen Freigekaufte sind (so Schottroff mit Verweis auf ἀπολύτρωσις), da kann dies als der eigentliche Schatz der Gemeinschaft und jedes Einzelnen gelten. Dort leuchtet das Leben in Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung auf. Von daher muss sich niemand in Rangstreitigkeiten, auch nicht in gekränktem Selbstwertgefühl oder in Ohnmachtsverstimmung vergraben. Was für eine spirituelle Gelassenheit und was für eine Großzügigkeit, ja Weitherzigkeit, müssten in der Folge daraus entstehen können? Das ist eine Fokusverschiebung, die gerade nicht Rückzug aus der Welt heißt. Sie unterstützt nachdrücklich darin, vor der Stadt, vor den Nachbarn, der Welt die Schätze Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung durch das eigene und gemeinsame Lebenszeugnis ins Licht zu heben.

2. Thematische Fokussierung

Paulinische Perspektivverschiebung

Hier liegt eine sehr dichte Argumentation zu Herkunft, Ruf und Auftrag der Gemeinde vor. Das ist riskant, weil sich dann Verkürzungen einschleifen. Eine solche wäre etwa: Je niedriger der eigene soziale Stand und je irrelevanter in den Augen der Welt, desto höher geschätzt und berufen durch Gott in Jesus Christus. Paulus akzentuiert da anders:  Aus keinem der weltlichen Maßstäbe ist ein göttlicher Maßstab ableitbar, weder direkt noch umgekehrt. Hierfür steht der Verweis auf Conzelmann im exegetischen Teil. Gott sieht nicht auf den weltlichen Stand und fragt weder nach weltlicher Elite oder Erniedrigung. Berufung und Erwählung hängen an Jesus Christus selbst. Der Schritt weg von den eigenen Rang- und Statusüberlegungen hin zu Jesus Christus ist m.E. die entscheidende Herausforderung in der Predigt.

3. Bezug zum Kirchenjahr

Paulinisches Empowerment noch im Offenbarungslicht der Epiphaniaszeit. Das paulinische Empowerment an die korinthische Gemeinde zum Bestehen in der Welt fällt auf den 1. Sonntag nach Epiphanias 2024. Mitten in irritierend komplexen und verunsichernden Zeiten, die scheinbar immer stärker im gesellschaftlichen, mitunter auch innergemeindlichen Gegeneinander erlebt werden. Vermehrt erleben sich Menschen zurückgesetzt, übergangen und überhört. Die Zeilen des Paulus sind keine Anleitung zum trotzigen Auftreten mit dem Fuß. Feinsinnig ermöglichen sie etwas anderes. Das Hören dieses Berufungstextes, noch im Offenbarungslicht der Epiphaniaszeit, mahnt: Versichere dich auch in verwirrend dunklen Zeiten, dass nicht du selbst es bist, der Weisheit, Stärke und Einfluss vermehren muss, dass du sie auch nicht gegen Eindringlinge verteidigen oder sie gegen andere Einflüsse um jeden Preis durchsetzen müsstest. Du kannst an einer anderen Weisheit, Stärke und Einflusskraft teilhaben. Dieses Teilhaben ist ein Privileg und führt im besten Fall zu einem neuen Hingabe- und Selbstbewusstsein. Aber es ist alles andere als ein Instrument gegen verunsichernde Fragestellungen, die gegenwärtig Gemeinden treffen. Aber mit diesem Privileg verbindet sich eine Verantwortung als Gemeinde: Konzentriert leben unter den Erkennungszeichen der Gemeinde Christi, d.h. erkennbar machen, dass wir leben als Berufene, Brauchbare für Gottes Arbeit in dieser Welt, und zwar nicht selbstgerecht giftig, nicht überlegen abgrenzend und ohne so zu tun, als ob wir schon jetzt alle Fesseln in dieser Welt gelöst hätten. Wir können aber jetzt schon gerecht, geheiligt, gelöst leben

5. Anregungen

In der Predigt könnte man die Gemeinde auf die Frage antworten lassen, wo ihr dies glaubwürdig gelingt, als Berufene, gerecht, geheiligt und gelöst zu leben, und wo und wann sie daran gescheitert ist. Das kann zu einer Selbstbesinnung ermutigen, die sich der Doppelfrage stellt: Warum tun wir, was wir tun? Inwiefern ist an unserem Tun als Berufene unser Sein ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, erkennbar? Wir diskutieren viel über die Themen Migration und die Sorge vor Wohlstandsverlust. Also auch Ansehensverlust, wie es im Paulusbrief anklingt. Besondere Behutsamkeit braucht es im Nennen der bereits angesprochenen Kränkungspotenziale, hier etwa in einer Gemeinde. Gemeinden haben besonders im Osten Deutschlands trotz aller Aufbrüche und inmitten von wachsenden Möglichkeiten und Infrastruktur dennoch Ungerechtigkeiten, Kränkungen und Demütigungen erfahren. Das wirkt nach und wirkt sogar hinein in die aktuellen kirchlichen wie gesellschaftlichen Transformationsdebatten. Die gesellschaftliche Stimmung macht vor den Gottesdienstgemeinden nicht Halt, in denen schwindende Kräfte und schwindender Einfluss immer wieder thematisiert werden. Die Predigt hat die Chance, die letztendliche Irrelevanz der weltlichen Statusfragen aus Gottes Perspektive anzusprechen. Sie hat die Chance, die Gemeinde mit dem paulinischen Perspektivwechsel zu überraschen und zu erfrischen.

Literatur

  • Florian Wilk, Der erste Brief an die Korinther, NT D, Teilband 7/1, V&R, 2023.
  • Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, Kohlhammer, ThKNT 7, 2021.
  • Walter Klaiber, Der erste Korintherbrief, Neukirchener Theologie, 2011.

Autoren

  • Prof. i.R. Dr. Andreas Lindemann (Einführung und Exegese)
  • Dr. Christina-Maria Bammel (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500014

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