Deutsche Bibelgesellschaft

2. Mose 13,1-2.14-16 | Tag der Darstellung Jesu im Tempel (Lichtmess) | 02.02.2024

Einführung in das 2. Buch Mose

Die Pentateuchforschung ist nicht erst seit einigen Jahren, sondern schon seit fast vier Jahrzehnten im Umbruch. Die europäische Forschung hat das Modell der Urkundenhypothese weitgehend aufgegeben, während es in Nordamerika und in Israel Versuche gibt, diese weiterzuentwickeln. An die Stelle des alten Konsenses ist allerdings kein neuer getreten, sodass leider von einer neuen Unübersichtlichkeit gesprochen werden muss. Die jüngeren Arbeiten zum Pentateuch als Ganzen wie auch die zum Exodusbuch lassen sich unter literargeschichtlichen Gesichtspunkten in vier Paradigmen einteilen.

  • Da sind zum einen jene, die den Umbrüchen zum Trotz an einer Version der Urkundenhypothese festhalten (Joel Baden, Graham Davies, Thomas Dozeman, William Propp, Werner H. Schmidt, Baruch Schwartz).
  • Eine andere Gruppe von Auslegern meint, eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Fortschreibungen entdecken zu können, die kommentarartig aufeinander aufbauen (Christoph Berner, Stephen Germany, Shimon Gesundheit, Christoph Levin).
  • Wieder eine andere Gruppe ist der Auffassung, dass am Anfang thematisch begrenzte, kürzere Erzählungen standen (Erzelternerzählung, Josefsgeschichte, Exoduserzählung, Landnahmeerzählung usw.), die sukzessive in wenigen Schritten miteinander verknüpft und erweitert wurden (Rainer Albertz, Erhard Blum, Jan Christian Gertz, Wolfgang Oswald, Thomas Römer, Erich Zenger).
  • Eine vierte Gruppe schließlich erkennt zwar an, dass der Pentateuch über einen längeren Zeitraum entstanden ist, hält aber den Versuch der Rekonstruktion dieser Prozesse für aussichtslos oder nutzlos und wendet sich daher dem Endtext zu (Georg Fischer, Cornelis Houtman, Dominik Markl, Christoph Dohmen, Helmut Utzschneider).

Mit diesen Umbrüchen einher geht eine Neujustierung der Abfassungszeit(en) der Pentateuchtexte. Während die klassische Urkundenhypothese die frühe Königszeit favorisierte, werden aktuell überwiegend nachmonarchiezeitliche Datierungen vertreten. Heute wird die Geschichte Israels vorwiegend auf Basis der archäologischen Befunde rekonstruiert und diese besagen, dass eine umfangreiche Literaturproduktion erst ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. vorstellbar ist. Aus vielerlei Gründen wird jedoch angenommen, dass die meisten Textgruppen des Pentateuchs sogar noch jünger sind und erst in babylonischer und persischer Zeit geschrieben wurden.

1. Verfasser

Über die Verfasser als Individuen wissen wir nach wie vor so gut wie nichts. Ertragreicher ist daher die Frage nach Verfasserkreisen, denn die verschiedenen Textgruppen des Pentateuchs weisen unterschiedliche Prägungen auf. Am profiliertesten sind die Texte, die man als „Priesterschrift“ oder „Priesterliche Komposition“ bezeichnet. Die Identifizierung dieser Texte und ihre Zuschreibung zu priesterlichen, näherhin aaronitischen Kreisen sind das Einzige, was die Umbrüche der Pentateuchkritik nahezu unverändert überstanden hat. Allerdings denkt man heute, was die Datierung betrifft, weniger an das babylonische Exil als vielmehr an die fortgeschrittene Perserzeit. Relativ deutlich ist auch die Zuschreibung des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Texte zu einer gesellschaftlichen Gruppierung, in diesem Fall der Ältesten als einer laikalen Elite, die in diesen Texten eine wichtige Rolle innehaben. Die Datierung der Erstausgabe des Dtn ist nach wie vor umstritten, aber was die dtr. Erweiterungen und die Texte des deuteronomistischen Geschichtswerkes (DtrG) betrifft, so besteht ein recht großer Konsens, dass diese frühestens aus der spätbabylonischen, eher aus der frühpersischen Zeit stammen. Alle weiteren Textgruppen stammen wohl auch von laikalen Eliten der Babylonier- und Perserzeit.

2. Adressaten

An einigen Stellen wird erwähnt, dass die Gesetze vor der Volksversammlung verlesen wurden (Ex 24,3.7; Jos 8,34) bzw. verlesen werden sollen (Dtn 31,10–13). Auch Neh 8; Neh13,1 belegen diese Praxis. Weiter wird mehrfach gesagt, dass die Gesetze gelehrt und gelernt werden sollen (Dtn 6,1–2.6–9). Diese Praxis bezieht sich jedoch nur auf die Gesetze. Die umfangreichen narrativen Passagen sind Zeugnisse einer Diskussion unter den gesellschaftlichen Eliten über die Frage: „Was ist Israel?“ Aber auch die Erzählungen waren in Kurzform Gegenstand von Lehre, wie die sog. Sohnesfragen zeigen (z.B. Ex 12,26–27; Ex 13,14–15; Dtn 6,20–25; Jos 4,6–7; Jos 4,21–24).

3. Entstehungsort

Die Jakobserzählung hat ihre literarischen Anfänge im ehemaligen Nordreich Israel nach dessen Ende im Jahr 722. Die Exoduserzählung stammt wohl aus dem spätkönigszeitlichen Jerusalem und thematisiert die Probleme der kurzen ägyptischen Oberherrschaft am Ende des 7. Jahrhunderts. Die weiteren Erzählungen und Gesetze sind wahrscheinlich in babylonischer sowie in früh- und mittelpersischer Zeit im nicht zerstörten Teil des Landes entstanden: im ehemaligen Nordreich und im Gebiet von Benjamin. Die spätpriesterlichen und nachpriesterlichen Teile des Pentateuch wurden im 4. Jahrhundert sicher wieder in Jerusalem abgefasst.

4. Wichtige Themen

Im Pentateuch geht es wie im ganzen AT in erster Linie um Israel:

  • Was ist Israel?
  • Wer gehört zu Israel?
  • Welche Ordnungen gelten in Israel?

In diesem Horizont wird dann auch die Frage nach Gott gestellt:

  • Wie ist das Verhältnis von Gott und Israel?
  • Wie wirkt Gott auf das Tun und auf das Ergehen Israels ein?
  • Was hat Gott mit Israel vor?

Literatur:

  • Albertz, R., 2012, Exodus 1–18 (ZBK.AT 2.1), Zürich.
  • Ders., 2015, Exodus 19–40 (ZBK.AT 2.2), Zürich.
  • Fischer, G. / Markl, D., 2009, Das Buch Exodus (NSK-AT 2), Stuttgart.
  • Utzschneider, H. / Oswald, W., 2013, Exodus 1–15 (IEKAT), Stuttgart.
  • Dies., 2023, Exodus 16–40 (IEKAT), Stuttgart.

A) Exegese kompakt: 2. Mose 13,1-2.14-16

Wie kann Israel der machtvollen Heilstaten seines Gottes gedenken?

1וַיְדַבֵּ֥ר יְהוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֥ה לֵּאמֹֽר׃ 2קַדֶּשׁ־לִ֨י כָל־בְּכ֜וֹר פֶּ֤טֶר כָּל־רֶ֨חֶם֙ בִּבְנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֔ל בָּאָדָ֖ם וּבַבְּהֵמָ֑ה לִ֖י הֽוּא׃

Exodus 13:1-2BHSBibelstelle anzeigen

14וְהָיָ֞ה כִּֽי־יִשְׁאָלְךָ֥ בִנְךָ֛ מָחָ֖ר לֵאמֹ֣ר מַה־זֹּ֑את וְאָמַרְתָּ֣ אֵלָ֔יו בְּחֹ֣זֶק יָ֗ד הוֹצִיאָ֧נוּ יְהוָ֛ה מִמִּצְרַ֖יִם מִבֵּ֥ית עֲבָדִֽים׃ 15וַיְהִ֗י כִּֽי־הִקְשָׁ֣ה פַרְעֹה֮ לְשַׁלְּחֵנוּ֒ וַיַּהֲרֹ֨ג יְהוָֹ֤ה כָּל־בְּכוֹר֙ בְּאֶ֣רֶץ מִצְרַ֔יִם מִבְּכֹ֥ר אָדָ֖ם וְעַד־בְּכ֣וֹר בְּהֵמָ֑ה עַל־כֵּן֩ אֲנִ֨י זֹבֵ֜חַ לַֽיהוָ֗ה כָּל־פֶּ֤טֶר רֶ֨חֶם֙ הַזְּכָרִ֔ים וְכָל־בְּכ֥וֹר בָּנַ֖י אֶפְדֶּֽה׃ 16וְהָיָ֤ה לְאוֹת֙ עַל־יָ֣דְכָ֔ה וּלְטוֹטָפֹ֖ת בֵּ֣ין עֵינֶ֑יךָ כִּ֚י בְּחֹ֣זֶק יָ֔ד הוֹצִיאָ֥נוּ יְהוָ֖ה מִמִּצְרָֽיִם׃ ס

Exodus 13:14-16BHSBibelstelle anzeigen

Übersetzung

1 Da redete Jhwh zu Mose:

2 „Heilige mir jede Erstgeburt! Was je den Mutterschoß durchbricht, bei den Israeliten, bei Mensch und bei Vieh, es ist mein.“ …

14 "Wenn dich aber dein Sohn morgen fragt: ‚Was hat es damit auf sich?‘, dann sprich zu ihm: ‚Machtvoll hat uns Jhwh aus Ägypten herausgeführt, aus dem Haus der Dienstbarkeit.

15 Als der Pharao sich hartnäckig weigerte, uns ziehen zu lassen, da tötete Jhwh jede Erstgeburt im Land Ägypten, vom menschlichen Erstgeborenen bis zur Erstgeburt des Viehs. Deshalb opfere ich Jhwh jeden männlichen Durchbruch des Mutterschoßes. Jeden Erstgeborenen meiner Söhne aber löse ich aus.

16 Es werde (dir) zum Zeichen auf deiner Hand und zu Merkzeichen zwischen deinen Augen, denn Jhwh hat uns machtvoll aus Ägypten herausgeführt.‘“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 15: Das Verbalnomen פֶּטֶר , hier „Durchbruch", (Ex 13,2.12f.15; 34,19f.; Num 3,12; 18,15; Ez 20,26) wird etymologisch mit semitischen Nomina verbunden, die „Bresche“ (ugarit. pṭr) oder „Riss“ (arab. faṭr) bedeuten. Das zugehörige Verbum hat die Grundbedeutungen „spalten, trennen, lösen“.

V. 16: Der Plural des Wortes טוֹטָפֹת ist masoretische Interpretation. Nach den zahlreichen Qumranbelegen müsste man eigentlich den Singular טוֹטֶפֶת erwarten. Auf Basis einer arabischen Wurzel ṭwp „umgeben“ könnte man etymologisch „Stirnband“ übersetzen. Die gängige Übersetzung „Merkzeichen“ ist eine funktionale und beruht auf der Parallelstelle Ex 13,9aα, wo ‎זִכָּרוֹן „Gedenken“ steht.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Die Exoduserzählung nimmt den ersten Teil des Exodusbuches ein (Ex 1,1–15,21), die Darstellung des eigentlichen Auszugs beginnt in Ex 12. Der Text bietet an dieser Stelle aber keine Erzählung, sondern zunächst umfangreiche Instruktionen zum Passa und zum Mazzenessen. Erst danach wird die Tötung der Erstgeburt erzählt, gefolgt vom Aufbruch und der ersten Etappe der Israeliten (12,29–42). Anschließend ergehen erneut Instruktionen, zunächst zum Passa der Nichtvollbürger (12,43–49), dann zum Mazzenfest und zur Erstgeburtsabgabe (13,1–16). Das ist die Besonderheit von Ex 12–13: die Verflechtung von Satzungen und Erzählung. Der Grund dafür ist klar: Die Feste und Verpflichtungen erinnern an die erzählten Ereignisse, ihre Stiftung erfolgt an Ort und Stelle.

Der Abschnitt Ex 13,1–16 besteht aus zwei Teilen: zuerst eine Gottesrede an Mose zum Thema Erstgeburt (13,1–2), dann eine Moserede an das Volk (13,3–16), die thematisch in drei Teile zerfällt: Instruktionen zum Mazzenfest (13,3–7), eine Sohnesbelehrung (nicht Sohnesfrage!) zum Toragehorsam (13,8–10) und Instruktionen zur Erstgeburtsabgabe (13,11–16), deren letzter Teil als Sohnesfrage gestaltet ist (13,14–16). Der erste Teil, die Gottesrede 13,1–2, enthält eine grundsätzliche Definition, denn „Heiligen“ bedeutet ganz allgemein Zuordnung zu bzw. Übereignung an Gott. Das kann auf vielerlei Weisen geschehen, die Darbringung als Opfer ist nur eine davon. Die weiteren Teile bieten dagegen konkrete Handlungsweisungen. Man kann also 13,11–16 als eine Durchführungsbestimmung zu 13,1–2 lesen.

Aber eben nur als eine, denn eine weitere, in der Sache und in der Sprache Ex 13,1–2 näherstehende Ausführungsbestimmung steht in Num 3,11–15, wo die Aussonderung der Leviten angeordnet wird. Diese Abschnitte gehören zur Gruppe der priesterlichen Texte des Pentateuch, je nach bevorzugtem Modell zur Priesterschrift oder zur P-Komposition. Die Moserede und insbesondere der Abschnitt Ex 13,11–16 gehören dagegen zu den nichtpriesterlichen Texten, nach Meinung einiger Ausleger näherhin zur deuteronomistischen Bearbeitungsschicht. Dass hier zwei Textgruppen vorliegen, sieht man u.a. daran, dass in 13,1–2 von jeglicher Erstgeburt die Rede ist, während in 13,11–16 nur die männliche thematisiert wird. Aber diese Inkohärenz ist nicht stark ausgeprägt, sodass eine fortlaufende Lektüre möglich ist.

Eine sehr viel größere Inkohärenz erzeugt die Auslassung von 13,3–13 im Predigttext. Denn das angeredete Du in V. 14 ist ein exemplarischer Israelit, während in 13,1–2 Mose der Angeredete ist. Und die Sohnesfrage „Was hat es damit auf sich?“ zielt eigentlich auf die in 13,12–13 angeordnete Handlung, nicht auf den abstrakten Grundsatz 13,2.

3. Historische Einordnung

Die oben angezeigte literargeschichtliche Einordnung verweist historisch auf die Perserzeit und damit auf den zweiten Tempel. Bei allen Differenzen zwischen den deuteronomistischen und den priesterlichen Tradenten sind sich beide darin einig, dass dieser zweite Tempel ein Volkstempel ist. Anders als der Salomonische Tempel und anders auch als die vielen anderen Königstempel des Alten Orients ist das perserzeitliche Heiligtum in Jerusalem ein Tempel vom Volk und für das Volk. Daher die vielen Bestimmungen zu Abgaben (Ex 25–31; Lev 17; Dtn 12) und Wallfahrtsfesten (Lev 23; Dtn 16), denn ein solcher Tempel kann nur existieren, wenn er reichlich besucht wird und Abgaben erhält. Dies war im weithin zerstörten und wirtschaftlich darnieder liegenden Judäa der frühen und mittleren Perserzeit eine große Aufgabe, die nicht immer gelang (Neh 13,10–14). Das ist der ökonomisch-politische Grund für das mehrfach auftretende Gebot zur Abgabe der Erstgeburt an das Heiligtum – neben den bereits genannten Stellen noch Ex 22,28b–29; 34,19–20; Lev 27,26–27; Num 18,15–18; Dtn 15,19–23, vgl. auch Neh 10,37.

Das „Zeichen auf der Hand“ (V. 16, vgl. Ex 13,9; Dtn 6,8f.; 11,18) geht wohl auf den ägyptischen Brauch zurück, mit Königsnamen beschriftete Armbänder zu tragen. Sie waren als Auszeichnung für den Träger gedacht, brachten aber auch dessen Loyalität zum Geber zum Ausdruck. Die „Merkzeichen zwischen deinen Augen“ (V. 16, vgl. Dtn 6,8; 11,18) gehören in eine lange Tradition von materiellen Zeichen der persönlichen Frömmigkeit. In der Umwelt Israels und in Israel selbst brachten amulettartig getragene Stirnbänder die Zugehörigkeit der Trägerin oder des Trägers zu einer Gottheit zum Ausdruck.

Für die jüdische Tradition bilden Dtn 6,8 und im Zusammenhang damit auch Ex 13,9.16 den Grund für das Tragen der „Tefillin“‚ also der „Gebetsriemen“ oder „Phylakterien“. Die Abschnitte Ex 13,1–16; Dtn 6,4–9; 11,13–21 werden auf Pergament geschrieben, in einer Kapsel verwahrt, und dann am linken Arm und an der Stirn getragen. Der Sachverhalt ist jedoch in den atl. Stellen nicht so eindeutig. In Dtn 6,8 ist es wohl das „Höre Israel“ 6,4–5, in Dtn 11,18 die Zusammenfassung der Lehre 11,13–17, die aufgeschrieben werden sollen. Aber der Anfang von Ex 13,16 וְהָיָה לְאוֹת „Es werde zum Zeichen“ ist uneindeutig. Soll überhaupt etwas aufgeschrieben werden, und wenn ja, was? Neigt man dazu, die erste Frage zu bejahen, dann ist die Rede des Vaters 13,14bβ–15 der beste Kandidat. Die andere Verständnismöglichkeit besteht darin, dass das Ritual der Erstgeburtsabgabe selbst das Zeichen bzw. Merkzeichen sein soll.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Gleich, ob das Ritual selbst oder die Niederschrift seiner Anweisung als Merkzeichen fungieren soll, ergibt sich das Ziel des Abschnitts Ex 13,11–16 aus der Antwort auf die Sohnesfrage: die Begründung für die Erstgeburtsabgabe mit anschließender Beschreibung ihrer Durchführung. Es handelt sich um ein sehr spezielles Gebot. Durch die Vorschaltung von 13,1–2 gewinnt das Ganze jedoch einen größeren Horizont. Es geht nun um die grundsätzliche Zuordnung der Erstgeburt zum Gott Israels. Das war schon von den priesterlichen Kompositoren so gewollt und verliert auch im fragmentierten Predigttext diese Funktion nicht. Ex 13,1–2 dient als Grundlegung für so unterschiedliche Anweisungen wie Ex 13,11–16 und Num 3,11–15. Gleich ist jedoch in beiden Fällen die Begründung mit der Tötung der ägyptischen Erstgeburt (Ex 13,15 || Num 3,13).

5. Theologische Perspektivierung

Die Tötung der Erstgeburt ist der letzte der Schläge, die den Pharao von der Schöpfungs- und Geschichtsmacht Jhwhs überzeugen sollen. Er soll erkennen, „dass Jhwh einen Unterschied macht zwischen Ägypten und Israel“ (11,7). Der Unterschied besteht jedoch nicht darin, dass Jhwh über die Erstgeburt der Israeliten keine Verfügungsgewalt hätte, sondern darin, dass er diese anders ausübt. Gott tötet die Erstgeburt der Israeliten nicht, vielmehr stiftet er mit Hilfe der Erstgeburtsabgabe ein Gedenken an die Rettung Israels aus der Dienstbarkeit. Und dieses Gedenken wird nicht allein durch das Ritual ausgeübt, sondern darüber hinaus durch die Applikation der Zeichen bzw. Merkzeichen. Deren Gestaltung wird nicht festgelegt, d.h. der Text lässt ein Stück weit offen, wie seine Hörer dieses Gedenken realisieren.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese hilft mir, einen Zugang zu diesen speziellen Kultanweisungen zu finden. Sie ermöglicht einen genaueren Blick auf ein mir zunächst eher fremdes Terrain des Opferkultes. Dankopfer haben in der ev. Theologie keine ausgeprägte Tradition. Der größere Zusammenhang – der Auszug aus Ägypten und die damit verbundene Erfahrung eines Gottes, der aus sozialen Abhängigkeiten befreit – bildet für mich den bleibenden Bezugspunkt.

Die Verortung der Verse in der Perserzeit und der Wandel des Tempels zu einem Volkstempel, der eine Abgabenwirtschaft nötig macht, leuchtet mir sehr ein. Sie macht die Notwendigkeit der Opfertradition plausibel, wobei auch mir das Fehlen von V. 3–13 die Lektüre des Textes erschwert. Zugleich erhellt sie eine Erinnerungskultur, die in der religiösen Praxis sichtbar und lebbar bleiben soll.

Ausgehend von den exegetischen Betrachtungen scheint mir diese Praxis aus zwei Elementen zu bestehen. Erstes Element ist die Abgabe bzw. Auslösung der Erstgeburt, das zweite ist das Tragen des Merkzeichens. Beide erinnern an die Fluchterfahrung. Interessant finde ich die Beobachtung, dass nicht eindeutig zu sagen ist, ob das Merkzeichen selbst die bleibende Erinnerung stiftet oder dass etwas darin oder darauf geschrieben stehen soll, das als Erinnerung mitgetragen wird. Eine Verbindung sehe ich in dem Aspekt der Zugehörigkeit.

2. Thematische Fokussierung

Zeichen der Zugehörigkeit

Die Erfahrung der Rettung der Israeliten bildet das identitätsstiftende Merkmal des Glaubens an Jhwh. Es sind Rettungs- und Heilserfahrungen, in denen sich Gott als Gott für Israel zeigt. In ihnen zeigt sich die Hochschätzung und Achtung menschlichen Lebens. Es ist frei und soll Wohlergehen unter dem Segen Gottes erfahren. In die Erinnerungspraxis wird dabei die Gefährdung und Fragilität dieser Gottesbeziehung mit hineingenommen. Nur mit Hilfe eines Gewaltaktes, der Tötung der Erstgeborenen, löst Jhwh die Israeliten aus dem Zugriff der Ägypter. Diese Ambivalenz ist – stellt man sich die Erzählung als reales Ereignis vor – kaum auszuhalten. Was den einen zur Rettung wird, ist den anderen brutal zugefügtes Leiden. Diese erzählerische Einbettung macht es aus meiner Sicht schwierig, das Opfer der Erstlingsgabe allein schöpfungstheologisch – als Dank für den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen – zu deuten.

Bietet sich ein Zugang, wenn man den Erstgeborenen in seiner Rolle als Stellvertreter des Familienoberhauptes und in seiner besonderen Stellung und Verantwortung für die ganze Familie sieht? Dann würde es bedeuten: An den Nachkommen und der verantwortlichen und treuen Pflege der Familiengüter und der Familienmitglieder entscheidet sich das Wohlergehen der Menschen im Alten Orient.

Die Verbundenheit und Zugehörigkeit des Volkes Israel zu Gott wird dann an dem Umgang mit dem Erstgeborenen sichtbar. Wird mit ihm die soziale (und politische) Macht gestärkt oder wird in ihm die Zugehörigkeit zu der alle menschliche und soziale Macht auch infragestellenden Macht Gottes anerkannt? Die Zugehörigkeit zu Jhwh, die durch die Zueignung des Erstgeborenen an ihn zum Ausdruck gebracht wird, erscheint dadurch in gewisser Weise auch als Demonstration der Freiheit eines jeden Menschen, über dessen Leben niemand sozial oder politisch machtvoll verfügen kann. Das Tragen eines Merkzeichens ist dann – über die Erstgeburtsabgabe, die ja von den Eltern vollzogen wird hinaus – eine eigenständige Zugehörigkeitsbekundung, mit der der Träger sich selbst als Befreiten und damit einerseits in seiner Angewiesenheit auf Gottes Macht und andererseits in seiner von Gott gewährten Freiheit im Gegenüber anderer Mächte und Gewalten zeigt.

3. Theologische Aktualisierung

Zeichen machen einen Unterschied

Ich nehme den Gedanken aus der Exegese gerne auf, dass es hier theologisch um eine Unterscheidung geht. Jede Unterscheidung trennt, profiliert aber auch. Mit dem sichtbaren Zeichen wird nicht nur eine Gedenkkultur und innere Verbindung mit den alten Erzählungen gestiftet. Als sichtbares Merkzeichen überführen sie die Erinnerungspraxis in den öffentlichen und sozialen Raum. Jede Glaubensweitergabe ist nicht auf eine Praxis privater Frömmigkeit beschränkt. Sie stärkt die Identität einer religiösen Gemeinschaft auch in ihrer Relevanz für das gesellschaftliche Leben.

Angesichts der bleibenden Bedeutung der im Text genannten Zeichen in der religiösen Praxis des Judentums bin ich als Christin gleichwohl etwas zurückhaltend, um mit dem nötigen Respekt vor der Selbstschreibung der jüdischen Identität die jüdische Erinnerungskultur nicht christlich zu vereinnahmen.

Man könnte in der Predigt natürlich theologisch unverdächtig den Freiheits- und Heilsgedanken, der in der Exoduserzählung als solcher liegt, als Thema aufgreifen. Dann bleibt aber gerade der Zusammenhang mit Zueignung und Erinnerungspraxis unberücksichtigt. Dagegen spricht auch, dass es sich bei den Versen vor allem um Anweisungen handelt, sprich um die Bedeutung und Verstehbarkeit religiöser Praxis als Ausdruck der religiösen Identität. Darum erscheint mir eine theologische Aktualisierung sinnvoll, die nach der Bedeutung von Identitätsstiftung im Kontext gesellschaftlicher Diversität und kultureller Pluralität fragt. Welche Zeichen ich trage und wozu ich mich äußere und stelle ist entscheidend – gerade in Zeiten öffentlicher Diskurse, die zwar demokratisch sind, aber im Zeitalter des Digitalen eine neue Dimension bekommen und in den derzeitigen globalen Krisensituationen, die auch zu stärkeren gesellschaftlichen Polarisierungen führen.

Der zunehmende öffentlich wahrnehmbare Antisemitismus und Rassismus machen deutlich, dass auch heute die Zeichen der Zugehörigkeit zum Glauben an einen heilschaffenden und rettenden Gott Gefährdungen ausgesetzt sind und der Gott, der Israel aus Ägypten führt, mit dem Anspruch der Relativierung politischer Herrschaftsformen Widerstand hervorruft. Welchen Unterschied machen die Zeichen? Wer sein Leben Gott zueignet, vertraut es Gott an und verlässt sich auf ihn. Vertrauen, so könnte man sagen, ist die religiöse Ressource. Sie kann  im gesellschaftspolitischen Kontext über Identitätsunterschiede hinweg verbinden; sie wird aber nicht durch politische Herrschaft und Machtausübung geschaffen werden, sondern durch die Erfahrung gewährter Freiheit. Dafür stehen die Zeichen.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Text ist für das im evangelischen Kirchenjahr ungewohnte Fest des Tages der Darstellung Jesu im Tempel (Lichtmess) am 2. Februar vorgesehen, 40 Tage nach Weihnachten.

In der katholischen Tradition wurde der Tag in Verbindung gebracht mit dem Reinigungsritual der Maria nach Jesu Geburt und der Kerzenweihe. In der Landwirtschaft hatte der Tag große Bedeutung: Die Tage werden erstmals wieder deutlich länger, für die Bediensteten war er Zahltag und bot die Möglichkeit, die Anstellung zu wechseln. Zahlreiche Bauernregeln ranken sich um den 2. Februar, die von dem Wetter an diesem Tag darauf schließen, wann frühlinghaftes Wetter einsetzt.

Die Darstellung Jesu im Tempel nach Lk 2,22–24 verweist auf Ex 13 und bindet das bei Lukas erzählte Ereignis in die Tradition der Heiligung der Erstgeburt ein. Jesus ist selbst ein Erstgeborener, der von Maria und Josef in den Tempel gebracht wird und ausgelöst wird. Die jüdische Familie richtet sich nach den jüdischen Geboten. Der Predigttext stellt die Feier der Darstellung Jesu in die alttestamentliche Tradition. Auf dieser liegt mit Ex 13 der Schwerpunkt. Es geht damit nicht so sehr um die besondere Bedeutung Jesu als Sohn Gottes, sondern dass es der rettende Gott Jhwh ist, dem auch Jesus vertraut. Die Übergangszeit dieses Tages zwischen Weihnachtsfestkreis und Vor-Passionszeit führt vor Augen, dass das Vertrauen des Menschensohnes und der Glaube an den Gott, der in die Freiheit führt, politische Wirkung zeigen wird, unterscheidet, zerreißt und dennoch die Einheit zwischen „Vater“ und Sohn nicht zu trennen vermag.

Autoren

  • Prof. Dr. Wolfgang Oswald (Einführung und Exegese)
  • Dr. Melanie Beiner (Praktisch-theologische Resonanzen)

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