1. Petrus 1,(13-17)18-21 | Okuli | 03.03.2024
Einführung in den 1. Petrusbrief
Der erste Petrusbrief
1. Verfasser
Eine Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten sieht den ersten Petrusbrief als pseudepigrafisch an, d.h. man geht davon aus, dass der Brief nicht von Petrus
Der Brief selbst lässt keinen spezifisch petrinischen und galiläisch geprägten Hintergrund erkennen. So stellt sich die Frage, ob es der Verfasser bewusst auf Durchschaubarkeit der Pseudepigrafie seines Schreibens angelegt hat. In diesem Fall würde der Autor mittels der Gegenüberstellung des ersten Wortes des Briefes (Petrus) und seines letzten Wortes (Christus) den Blick seiner Leserschaft in die für ihn entscheidende Richtung lenken: weg von der vermeintlichen Autorität eines fiktiven und zu Beginn genannten Autors hin zu Christus, als dem allein wichtigen Inhalt, durch den und in dem abschließend alle genannten christlichen Gruppen verbunden sind.
2. Abfassungszeit
Eine vorausgesetzte, bereits entwickelte und etablierte Gemeindesituation sowie eine Notiz des Papias (ca. 60-163 n. Chr.) beim Kirchenvater Euseb
3. Wichtige Themen
Die thematische Mitte des ersten Petrusbriefes bilden zum einen die Beschreibung des Lebens der Gläubigen als einer Existenz in der Fremde und zum anderen die Deutung des ungerechtfertigten Leids, das den Gemeindegliedern begegnet. Die Angehörigen der christlichen Gemeinde leben als Erwählte, die am himmlischen Erbe teilhaben, in einem von ihnen als feindlich erfahrenen Umfeld.
Ihr Leiden lässt die Adressatinnen und Adressaten des Briefes in die Nachfolge Christi treten und ist damit Ausweis ihrer Rettung. Für die bevorstehende Heilszeit wird ihnen Genugtuung verheißen.
Wie sich die Existenz der ersten Christusgläubigen in der Fremde vollziehen soll, wird u.a. in einer „Haustafel
4. Besonderheiten
Taufe: Von der im letzten Jahrhundert vertretenen These, es handele sich beim ersten Petrusbrief (z.T.) um eine Taufpredigt, wurde wieder Abstand genommen. Der erste Petrusbrief möchte nicht die Taufe erklären oder deren Notwendigkeit begründen, sondern seine Intention ist es, unter Verweis auf die bereits fest in der Gemeinde verankerte Taufe auf die alle Zeiten übergreifende Rettung durch Christus zu verweisen. Er ruft die als Kinder Gottes wiedergeborenen Gläubigen auf zu einer missionarischen Existenz und zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel.
Petrus und Paulus: Auch wenn eine spezifisch paulinische Diktion nicht durchgängig erkennbar ist, berührt sich der erste Petrusbrief u.a. mit Blick auf den stellvertretenden Heilserwerb durch den sündlosen Christus mit den als echt geltenden Paulusbriefen. Ungeachtet diverser Beziehungen lässt sich eine literarische Abhängigkeit zwischen dem ersten Petrusbrief und dem Corpus Paulinum
Literatur:
- Müller, Chr. G., Der erste Petrusbrief (EKK XXI; Ostfildern, Göttingen 2022).
- Ostmeyer, K.-H., Die Briefe des Petrus und des Judas (Botschaft des NT; Göttingen 2021).
- Vahrenhorst, M., Der erste Brief des Petrus (ThKNT 19; Stuttgart 2016).
- Wagner, G. / Vouga, F., Der erste Brief des Petrus (HNT; Tübingen 2020).
A) Exegese kompakt: 1. Petrus 1,13-21
Übersetzung
13 Deshalb umgürtet Euch. Stärkt euren Verstand und seid nüchtern. Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch durch die Offenbarung Jesu Christi dargeboten wird.
14 Seid gehorsame Kinder. Passt euch nicht den Begierden von früher an, die euch in der Zeit eurer Unwissenheit bestimmten.
15 Sondern, wie der heilig ist, der euch berufen hat, so seid auch selbst Heilige durch alles, was ihr tut.
16 Denn es steht geschrieben: „Seid Heilige, weil ich heilig bin!“
17 Und wenn ihr den als Vater anruft, der jeden ohne Ansehen der Person nach seinem Tun richtet, dann lebt auch ihr in Gottesfurcht, solange ihr in der Fremde seid.
18 Macht euch bewusst, dass ihr nicht durch so Vergängliches wie Silber oder Gold von eurer sinnentleerten, von den Vätern überlieferten Lebensweise befreit wurdet,
19 sondern durch das kostbare Blut Christi, eines fehlerlosen und unbefleckten Lammes.
20 Schon vor der Grundlegung der Welt war er ausersehen. Offenbart aber wurde er in der letzten der Zeiten euretwegen.
21 Durch ihn seid ihr zum Glauben an Gott gekommen. Er hat ihn von den Toten erweckt und ihm Ruhm verliehen, damit ihr an Gott glaubt und auf ihn hofft.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 13: ἀναζωσάμενοι τὰς ὀσφύας „seid solche, die die Hüften gegürtet haben“ d.h.: „seid bereit“. Im ersten Petrusbrief haben die Partizipien häufig imperativischen Charakter; die Aufforderung, die Hüften gegürtet zu haben, ergeht in Ex 12,11 an das Volk Israel in der Passanacht
V. 19: ὡς ἀμνοῦ ἀμώμου καὶ ἀσπίλου Χριστοῦ – durch die dreifache ἀ-Alliteration des fehlerlosen und unbefleckten Lammes wird Christi Sündlosigkeit akzentuiert. Er ist das vollendete Passaopfer.
2. Literarische Gestalt und Kontext
Heil und Nachfolge Christi bedeuten Fremdheit und Leid in der Gegenwart. Die christliche Gemeinde steht in der Nachfolge der Befreiung des Volkes Israel aus Not und Sklaverei. Im Predigttext (1Petr 1,13-21), als dem zweiten Teil des ersten Briefkapitels, geht es um das Handeln der Gläubigen, um ihre Herkunft und ihren zukünftigen Weg. Die ersten zwölf Verse des Kapitels (1Petr 1,1-12) bilden dafür die Basis. Sie beschreiben das durch Christus erwirkte Heil.
3. Historische Einordnung
Die „umgürteten Lenden
Mit seiner Rede von den Kindern des Gehorsams bleibt der Autor im Bildfeld des Passafestes (14a). Vier Söhne und ihr Verhalten sind traditioneller Bestandteil der jährlichen Passafeier. Der erste Sohn wird als verständig dargestellt, der zweite verkörpert den Bösen, der dritte den Unwissenden, der vierte gilt als der, „der nicht zu fragen versteht“. Die in 14b genannten Eigenschaften (Gehorsam, Unwissenheit, Begierden) lassen sich diesen Söhnen zuordnen. Der Bezug der Perikope und der hier genannten Kinder auf das Passafest ist nicht Konsens in der Interpretation des ersten Petrusbriefes. Zu einem anderen Ergebnis kommen z.B. Wagner / Vouga in ihrem Kommentar. Die häufig begegnenden alttestamentlichen Bezüge verstehen die Autoren „als ästhetisch passende Formulierungen“ und kommen zu dem Schluss, dass dem ersten Petrusbrief jede „Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit der jüdischen Tradition fehlt“ (S. 6).
Die Situation der angeschriebenen Gläubigen entspricht der des Volkes Israel am Abend vor ihrem Auszug aus Ägypten. Christus als das rettende und bewahrende Passalamm
4. Schwerpunkte der Interpretation
Durch die Ausweitung des Bildes vom Auszug und vom Passa auf alle Gläubigen werden in Bezug auf das Heil in Christus die Unterschiede und Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden nivelliert (vgl. Eph 2,14). Jüdische wie nichtjüdische Christusgläubige bedürfen der Erlösung, beide sind durch die Taufe und ihren Glauben an Christus als den einen Sohn als Kinder des einen Vaters wiedergeboren. Sie sind Fremde in der Welt und werden nicht nach ihrer Herkunft, sondern nach ihren christlichen Werken gerichtet. Ersteres wäre ein Gericht zum Tode, letzteres geschieht zum Leben.
Das Heil ist von Ewigkeit an vorherbestimmt (1Petr 1,20). Wenn dieses Heil bereits die Israeliten in Ägypten erfahren haben und wenn gleichzeitig das Passalamm, das das jüdische Volk in Ägypten bewahrte, mit Christus gleichgesetzt wird (vgl. 1Kor 5,7b), dann haben über alle Zeiten hinweg auch alle, die an Christus glauben, Anteil an der Rettung aus Ägypten. Zugleich stehen dann auch alle Gläubigen unabhängig von ihrem jüdischen oder nichtjüdischen Hintergrund als Fremde dieser Welt gegenüber.
Der Autor des ersten Petrusbriefes weiß: Wer sich zu Christus bekennt, wird zum Außenseiter und muss Nachteile in und von seiner Umwelt ertragen. Doch er wird reich belohnt. Christinnen und Christen erweisen sich gerade darin als verständige Kinder, dass sie dieser Welt fremd geworden sind. Wie Kinder müssen sie wachsen und gehorsam werden. Zugleich gilt es das abzulegen, was ihre alte Existenz ausmachte. Wer dagegen weiter der alten Welt verhaftet bleibt, ist kein „Kind des Gehorsams“.
Die Gemeinde der Kinder Gottes ist durch ihren Vater (vgl. 17a) als dem „Heiligen“ in eine neue Existenz gerufen (V. 15). Seinem Ruf entsprechen die Gläubigen durch ihre Lebensführung (vgl. Mt 5,48) und werden so selbst zu Heiligen (vgl. Röm 6,4).
Zur Bekräftigung verweist der Verfasser des ersten Petrusbriefes auf das Heiligkeitsgebot in Lev 11,44f. und 19,2f. (1Petr 1,16). Darin gibt sich der Heilige als der zu erkennen, der Israel aus Ägypten befreit hat. Indem 1Petr 1,16 die Gläubigen aufruft, ihm zu entsprechen, wird der christlichen Gemeinde die Rolle der Kinder Israels beim Auszug aus Ägypten zugeschrieben. Ihr „Heiligsein“ konkretisiert sich im Halten des Gebots der Ehrung von Vater und Mutter (Lev 19,3; vgl. die Kinder des Gehorsams in V. 14). Bezogen auf die Elternehrung ist wörtlich von „fürchten“ im Sinne von „Ehrfurcht haben“ die Rede. Entsprechend gebietet der Autor des ersten Petrusbriefes in 1Petr 1,17, in „Furcht“ vor dem Gott zu wandeln, den die Gläubigen als Vater anrufen (17a). Er bezieht damit die Elternehrung auf Gott als Vater und auf die Gemeindeglieder als Kinder. Die in Ex 20,12 und Dtn 5,16 gegebene Verheißung eines langen Lebens auf Erden für die, die ihre Eltern ehren, findet in 17c ihre Entsprechung im Aufruf zu einem Lebenswandel in Ehrfurcht vor Gott in der Zeit der Fremdlingsschaft.
So wie Israel damals aus Ägypten befreit und erlöst wurde, so die christliche Gemeinde auch heute. Die Gläubigen sind gerufen, sich bereit zu machen und aufzubrechen. Dieser Weg der Nachfolge ist beschwerlich. Wer ihn geht, erlebt Misstrauen und wird angefeindet. Doch wer ihn auf sich nimmt, erfährt Orientierung und geht nicht allein.
Durch die Erinnerung an den Aufbruch der Kinder Israels aus der ägyptischen Fremde in V. 13 ist zunächst ein urjüdischer Kontext aufgerufen. Mit dem Hinweis auf den Vater, der ohne Ansehen der Person richtet (17a; vgl. Apg 10,34), wird der Kreis geweitet: Entscheidend sind nicht ein jüdischer oder nichtjüdischer Hintergrund der Gläubigen, sondern deren Werke (17b). Werke sind dabei nicht als Mittel zum Heilserwerb misszuverstehen, sondern als Modus des heiligen Wandelns der durch Christus Geretteten. Das Richten nach den Werken ist ein Privileg der Kinder Gottes und für die Christinnen und Christen eine Heilsaussage.
Das Leben in der Fremde und im Leiden als das die Christusgläubigen verbindende Element. Ohne Ansehen einer jüdischen oder nichtjüdischen Herkunft teilen alle Gläubigen, dass sie bis zur Wiederkunft Christi die Zeit in der Fremdlingsschaft zu bestehen haben. Das bereits in V. 7 verwendete Motiv des Goldes veranschaulicht in V. 18a den für die Erlösung gezahlten unvergleichlich hohen Preis. Waren bis jetzt durch die Passathematik insbesondere die judenchristlichen Gemeindeglieder im Blick, konzentriert sich die Perikope nun auf die nichtjüdischen Gläubigen. Deren Vorfahren sind gemeint, wenn von einem ererbten und verderblichen Lebenswandel die Rede ist (18b). Demgegenüber dient der Wandel der jüdischen Erzeltern als Positivfolie (vgl. 3,6). Durch den Glauben an Christus werden jüdische und nichtjüdische Gläubige als Geschwister gleichgestellt: Sie haben einen gemeinsamen Gott, der als ihr gemeinsamer Vater nicht auf ihre Herkunft schaut (17b). Die Annahme von Nichtjuden als Kinder durch den Vater Jesu Christi bedeutet für sie zugleich die Loslösung aus der alten Kindschaft.
Die Wertlosigkeit der alten Existenz steht dem hohen Preis für den Freikauf gegenüber (19a). Das Motiv des Freikaufs setzt zum einen die unfreie Existenz oder die Sklaverei voraus. Auf der anderen Seite bedurfte es eines Befreiers, der bereit war, den nötigen Preis zu zahlen. Die alte Existenz und die alten Werke vor dem Freikauf spielen im Gericht durch den Vater keine Rolle. Der Freikauf vollzieht sich mittels des Blutes Christi. Indem Christus als fehlerloses Lamm bezeichnet wird (19b), ruft der Autor noch einmal den Passakontext auf, der durch die Aufforderung, die Lenden zu umgürten präsent ist (V. 13): Das Blut des fehlerlosen Lammes (Ex 12,5) rettet alle zum Auszug Gerüsteten (Ex 12,7.13.23).
5. Theologische Perspektivierung
Der gesamte hier geoffenbarte Heilsplan beschreibt nichts Anderes als das, was schon vor der Schöpfung von Gott festgelegt war (20a). Es wird also nicht das Alte durch etwas Neues ersetzt, sondern das Tradierte wird bestätigt (20). Der Autor knüpft an sein Wort über die Propheten in 1Petr 1,12 an: Alle Verkündigung bezieht sich auf Christus und sein Heilswerk und ist folglich Offenbarung (Apokalypse) des von Ewigkeit her Vorherbestimmten (vgl. Mt 13,35). Die christlichen Gemeinden der (jeweiligen) Gegenwart dürfen sich als Adressaten und Zielpunkt aller Verheißung verstehen (20b). Das gilt sowohl für christusgläubige Juden als auch für Gläubige ohne jüdischen Hintergrund. Denn es ist derselbe Gott, an den beide durch Christus glauben. Glaube und Hoffnung aller sind auf den gerichtet, der Israel aus der Sklaverei befreite und der Christus erweckte und ihm Ruhm verlieh (21).
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die oben skizzierte Perspektive des biblischen Autors, der sich die Autorität des Petrus leiht, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er adressiert eine heterogene Gruppe, deren Mitglieder jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft sind, die einzig der damals neue und fremde Glaubens verbindet. Zudem ist der Blick auf das rechte Tun gerichtet und darauf, dass die in Christus geoffenbarte Gnade Stärke und Hoffnung stiftet und den Weg der Nachfolge ermöglicht. Die Exegese vertieft mein Verständnis der so ganz anderen Lebensverhältnisse des Adressatenkreises des 1Petr. Die im Text zentral verhandelte Erfahrung der Fremdheit und der Gefahr aufgrund des Glaubens an Christus repräsentiert ein Spannungsmoment, dass am Sonntagmorgen im ehernen Kirchengebäude, das vielfach an einem prominenten Platz im Dorf oder Stadtteil steht, nicht nach-vollziehbar ist. Die Existenz in der Fremde, das Leid und das Erwählungsbewusstsein wurden in einer vergangenen, ganz spezifischen Glaubenssituation erfahren. Durch den Rekurs auf die „umgürteten Lenden“ in V. 13 parallelisiert der Autor die Notsituation und die Dringlichkeit des Handelns mit dem Aufbruch der Kinder Israels aus der ägyptischen Fremde in V. 13. Der Autor parallelisiert damit effektvoll die damalige Situation mit dem ganz großen historischen und religiös konnotierten Leidens- und Erfahrungskontext der Israeliten in der Fremde. Durch diese Einordnung wird rhetorisch drastisch die Not der Menschen und die Notwendigkeit des Handelns unterstrichen. Als Predigerin muss man mit dieser doppelten historischen Erfahrung sorgsam umgehen, denn es ist dankenswerterweise nicht die unsere. Unverbrüchlich ist dagegen die Betonung des emanzipatorischen Gehalts des Glaubens, der im Alltag und in der Gestaltung der Zukunft seine Konkretion erfährt. In Gegenwart und Zukunft – und im Modus des Erinnerns der eigenen Geschichte – findet die lebensfördernde Dynamik der Nachfolge in Nächstenliebe und Solidarität ihren Ausdruck.
2. Thematische Fokussierung
Das Identifikationsangebot der Perikope spiegelt sich nicht in der dramatisch geschilderten Not und Bedrängnis der Christusgläubigen, sondern in der vom Autor aufgerufenen Nachfolge oder christlichen Lebenskunst. Die Adressaten werden dabei nicht als Opfer ihrer Umstände angesprochen, sondern als tatkräftige Zeitgenossen, die sich durch ihr Handeln dem Unrecht entgegenstellen und in der Nachfolge von ihrem lebensstiftenden Glauben Zeugnis ablegen können. Aus diesen Versen spricht kein Fatalismus, der sich in der Not eingerichtet hat, sondern der Appell zur Gestaltung der Umstände. Es geht um die Befreiung aus der Unterdrückung, darum durch das eigene Handeln die konkrete Lebenssituation zu gestalten oder mindestens maßgeblich beeinflussen zu können, was den Text außerordentlich gegenwärtig macht. Der Blick ist nach vorn auf die Veränderung der Situation gerichtet. Im Glauben mit Christus verbunden, im Modus der Nachfolge, lassen sich – so die Verheißung des Textes – Unterdrückung und Repression überwinden. Der Glaube und die Nachfolge werden dabei nicht als erlösender Automatismus gezeichnet, sondern als stärkende innere Orientierung und als Bezugspunkt des Handelns. Dabei formuliert der biblische Autor keine sanfte Lebenshilfe, sondern er ruft zur Nachfolge auf, sofern diese aus der Not heraus ins Leben führt. Die Argumentation versucht den gewaltigen Spannungsbogen zwischen dem Erwählungsbewusstsein der Christusgläubigen und der gleichzeitig erfahrenen Feindseligkeit der Umwelt miteinander zu verbinden. Gewaltige Ambivalenzerfahrungen säumen auch den Alltag der Gemeindeglieder: Der relativ hohe Lebensstandard vieler Menschen scheint nicht recht zu den multiplen Krisen zu passen, die Menschen gegenwärtig erfahren.
Die äußerliche Grenzen sprengende Gemeinschaft im Glauben repräsentiert ein weiteres zentrales Thema des Textes, das sehr gegenwärtig ist, sofern immer neue soziale, ökonomische, politische und technologische Grenzziehungen eine markante gesellschaftliche Fragmentierung hervorrufen. Das freiheitsstiftende Moment des Glaubens wird aber gerade in der Überwindung kultureller und nationaler Grenzen erfahren, wozu es vor allem einer gemeinsamen Blickrichtung bedarf. Der Glaube ist so eine geteilte Bezugsgröße, die etwa zwischen Ortsansässigen und Geflüchteten Gemeinschaft stiftet und die es uns immer wieder ermöglicht, ökonomische oder kulturelle Grenzen zu hinterfragen und zu überwinden.
3. Theologische Aktualisierung
Die mindestens als melancholisch beschreibbaren Verse muten auf den ersten und vermutlich auch auf den zweiten Blick nicht sonderlich tröstlich an. Die Schwere eines Lebens in Unsicherheit und Angst vermittelt sich, die noch dazu in Verbindung mit der Annahme der Gnade Gottes in Christus stehen. Eine gedanklich nicht leicht fassbare Verstrickung wird da erkennbar, die lebenspraktisch allerdings gar nicht so fremd sein dürfte. Der christliche Glaube verspricht ja gerade kein glückliches und sorgloses Leben, sondern dass Gott seinen Menschen auch in die dunkelsten Ritzen und Dachkammern des Lebens folgt. Der Autor ist ein ehrlicher Makler seiner Wahrheit. Er verspricht tatsächlich nicht zu viel. Er empfiehlt die Lebensführung des heiligen Wandels, die die Nachfolgenden selbst zu Heiligen und Botschaftern des Glaubens macht. Unterwegs mit Gott und seiner Gnade – und darin findet sich Hoffnung und Trost – wird jene Stärke erfahren, die man benötigt, um selbst widrigste Lebensumstände zu überstehen. Der Blick in die Geschichte ist reich an Männern und Frauen, die Kraft ihres Glaubens Ungerechtigkeit die Stirn geboten und darin vielen andere Menschen Vorbilder geworden sind. Wäre die Friedliche Revolution 1989 ohne die mutigen und tatkräftigen, politisch engagierten Christen zustande gekommen, die weit über kirchliche Kreise hinaus, vom Mut zur Veränderung der politischen Verhältnisse überzeugen konnten? Wo im Vertrauen auf Gott und in der Lebensorientierung aus dem Glauben Menschen leben, transportieren sie den Geist Gottes, was der Autor prägnant in den Worten „Seid Heilige, weil ich heilig bin!“zum Ausdruck bringt. Wer so handelt, gestaltet gemeinsam mit anderen eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft. Die Stärke dieses Textes liegt in seiner ermutigenden Kraft. Ohnmacht und Leiden besiegeln das Leben der Christen nicht. So viel größer ist die Kraft der Hoffnung, die sich jeder umgürten soll, der nachfolgt.
Autoren
- Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer (Einführung und Exegese)
- Prof. Dr. Sonja Keller (Praktisch-theologische Resonanzen)
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