Deutsche Bibelgesellschaft

Apostelgeschichte 8,26-39 | 6. Sonntag nach Trinitatis | 07.07.2024

Einführung in die Apostelgeschichte

In den letzten Jahrzehnten ist in der Forschung intensiv über das Genre und die Datierung der Apostelgeschichte sowie über deren Einheit mit dem Lukasevangelium diskutiert worden. Im Fokus haben auch Aspekte von im Text konstruierten Machtstrukturen, hierunter Geschlechterverhältnisse und insbesondere der heilsgeschichtliche Status Israels sowie die Darstellung der „Juden“ generell, gestanden. Wie alle neutestamentlichen Schriften ist auch die Apostelgeschichte durch verschiedenste historische, literartur- und sozialwissenschaftliche Zugänge erschlossen worden.

1. Verfasser

Die Apostelgeschichte wurde wie auch das Lukasevangelium, auf das Apg 1,1 („in meinem ersten Buch“) verweist, anonym abgefasst; beide Werke wurden aber in der altkirchlichen Tradition einem Paulusbegleiter mit Namen Lukas (vgl. Phlm 24; Kol 4,14; 2 Tim 4,11) zugeschrieben. Dies dürfte historisch unzutreffend sein, auch wenn etwa die Erzählstimme ab Apg 16 wiederholt im Zusammenhang mit Seereisen des Paulus unvermittelt von der ersten Person Singular in die erste Person Plural wechselt (die sog. Wir-Passagen). Der historische Autor, der vermutlich entweder Judenchrist war oder zumindest dem Judentum nahestand, ehe er zum Glauben an Christus kam, wirkt mit einigem zeitlichen Abstand zu den berichteten Ereignissen (s.u.) und vertritt dabei eine ausgeprägt maskulin-patriarchale Perspektive (z.B. tritt keine Frau als Verkündende auf, sondern die Hauptakteure der Erzählung sind alle männlich; die zahlreichen Reden werden in der Regel durch ἄνδρες ἀδελφοί, also „ihr Männer, Brüder“ eröffnet). Er ist gebildet, schreibt in gehobenem Koinegriechisch und ist mit der Septuaginta ebenso wie mit griechisch-römischer Literatur gut vertraut.

2. Adressaten

Beide Teile des lukanischen Doppelwerks sind einem gewissen Theophilus gewidmet (Lk 1,3; Apg 1,1), was übersetzt Gottliebender oder Gottesfreund (vgl. „Amadeus“ oder „Gottlieb“) bedeutet. Falls dies nicht (nur) ein symbolischer Name ist, mit dem sich alle Lesenden identifizieren könnten, sondern eine reale Person angesprochen ist, handelt es sich um einen Mann mit hohem gesellschaftlichem Ansehen (vgl. Lk 1,3: „hochverehrter“), der bereits zuvor christliche Unterweisung erhalten hat (vgl. Lk 1,4). Die Widmung könnte darauf hinweisen, dass Theophilus das Werk in Auftrag gegeben hat und vielleicht auch für dessen Verbreitung verantwortlich ist. Die weitere Adressatenschaft dürfte in einem ähnlichen sozialen Umfeld zu suchen sein, also wohl in städtischen, eher privilegierten Kreisen, worauf u.a. die wiederholte Erwähnung von Missionserfolgen des Paulus unter angesehenen Nichtjüdinnen und -juden in den urbanen Zentren des Mittelmeerraums hindeutet (vgl. z.B. Apg 13,50; 17,12).

3. Entstehungsort

Über den Entstehungsort der Apostelgeschichte lässt sich nur spekulieren, und diese Frage ist in der Forschung dementsprechend umstritten. In der altkirchlichen Tradition werden vor allem Rom, aber auch Achaia als mögliche Abfassungsorte genannt. Da Lukas ein besonderes Interesse am östlichen Mittelmeerraum aufweist, könnte auch Kleinasien in Betracht kommen, wohingegen eine Abfassung in Palästina als eher unwahrscheinlich anzusehen ist.

4. Wichtige Themen

Während die Apostelgeschichte lange Zeit um 80/90 u.Z. datiert wurde, ist in den letzten Jahrzehnten wieder intensiv diskutiert worden, ob es sich nicht um ein Dokument des zweiten Jahrhunderts handele, während vereinzelt auch Frühdatierungen vorgeschlagen worden sind. Die Spätdatierungen reichen dabei von etwa 100-130 bis hinauf zu 150 u.Z. Als Argumente gelten etwa die äußere Bezeugung (d.h. die relativ späte Rezeption in der altkirchlichen Literatur) und die gegenüber älteren Zeugnissen sozial- wie theologiegeschichtlich veränderten Verhältnisse, die die Apostelgeschichte bezeugt, z.B. in Bezug auf das Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft generell und im Hinblick auf Ablösungsprozesse vom Judentum im Besonderen. Hier wird nicht zuletzt diskutiert, inwiefern die Apostelgeschichte als anti-jüdisch oder supersezessionistisch angesehen werden muss (vgl. Matthews). Die Datierung hat nicht nur Einfluss auf unser Bild von der Entwicklung des frühen Christentums, sondern u.a. auch auf die Bewertung der Frage, ob der Verfasser das Oeuvre des Flavius Josephus oder die Paulusbriefe gekannt haben könnte – unabhängig davon, ob diese letztlich auch benutzt worden sind. In Bezug auf die Paulusrezeption ist losgelöst von Datierungsfragen eine Tendenz auszumachen weg von der Frage, inwieweit die Aussagen der Apostelgeschichte exakt mit denen der Paulusbriefe übereinstimmen, hin zu der Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte (vgl. Marguerat).

5. Besonderheiten

In der Forschung herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass Lukasevangelium und Apostelgeschichte beide vom selben Verfasser geschrieben wurden, u.a. wegen der (im Neuen Testament singulären) Prologe und der Widmung an Theophilus, der Himmelfahrt Jesu als erzählerischem Bindeglied und sprachlich-stilistischer wie theologischer Übereinstimmungen. Da sie allerdings nie in direkter Abfolge überliefert sind, etwa in Handschriftensammlungen oder Kanonlisten, wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert, ob die beiden Teile des Doppelwerks in der Antike jemals als Einheit gelesen wurden und inwieweit dies Konsequenzen etwa für eine narrative Exegese haben sollte, die beide Texte – sowohl literarisch wie theologisch – als eng miteinander verwoben ansieht (z.B. Tannehill). Die Frage der Einheit spielt teilweise auch in die der Bestimmung des Genres hinein, insofern das Doppelwerk hierbei anders zu bestimmen ist als die Apostelgeschichte für sich genommen. Für letztere gehen die Vorschläge weit auseinander und reichen von Historiographie, über kollektive Biographie bis hin zu fiktiver Romanliteratur.

Literatur:

  • Helen Bond u.a., Art. Luke-Acts, Encyclopedia of the Bible and its Reception online, 2019.
  • Wilfried Eckey, Die Apostelgeschichte: Der Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, Band 1-2, Göttingen 22011.
  • Daniel Marguerat, Die Apostelgeschichte, KEK Göttingen 2022.
  • Shelly Matthews, The Acts of The Apostles: An Introduction and Study Guide: Taming the Tongues of Fire, London 2017.
  • Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK V/1-2, Göttingen 32005/22013.
  • Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts. A Literary Interpretation, Band 1-2, Philadelphia 1986/1990.
  • Alfons Weiser, Die Apostelgeschichte 1-2, ÖTK V/1-2, Gütersloh 21989/1985.

A) Exegese kompakt: Apostelgeschichte 8,26-39

26Ἄγγελος δὲ κυρίου ἐλάλησεν πρὸς Φίλιππον λέγων· ἀνάστηθι καὶ πορεύου κατὰ μεσημβρίαν ἐπὶ τὴν ὁδὸν τὴν καταβαίνουσαν ἀπὸ Ἰερουσαλὴμ εἰς Γάζαν, αὕτη ἐστὶν ἔρημος. 27καὶ ἀναστὰς ἐπορεύθη. καὶ ἰδοὺ ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος δυνάστης Κανδάκης βασιλίσσης Αἰθιόπων, ὃς ἦν ἐπὶ πάσης τῆς γάζης αὐτῆς, ὃς ἐληλύθει προσκυνήσων εἰς Ἰερουσαλήμ, 28ἦν τε ὑποστρέφων καὶ καθήμενος ἐπὶ τοῦ ἅρματος αὐτοῦ καὶ ἀνεγίνωσκεν τὸν προφήτην Ἠσαΐαν. 29εἶπεν δὲ τὸ πνεῦμα τῷ Φιλίππῳ· πρόσελθε καὶ κολλήθητι τῷ ἅρματι τούτῳ. 30προσδραμὼν δὲ ὁ Φίλιππος ἤκουσεν αὐτοῦ ἀναγινώσκοντος Ἠσαΐαν τὸν προφήτην καὶ εἶπεν· ἆρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις; 31ὁ δὲ εἶπεν· πῶς γὰρ ἂν δυναίμην ἐὰν μή τις ὁδηγήσει με; παρεκάλεσέν τε τὸν Φίλιππον ἀναβάντα καθίσαι σὺν αὐτῷ. 32ἡ δὲ περιοχὴ τῆς γραφῆς ἣν ἀνεγίνωσκεν ἦν αὕτη·

ὡς πρόβατον ἐπὶ σφαγὴν ἤχθη

καὶ ὡς ἀμνὸς ἐναντίον τοῦ κείραντος αὐτὸν ἄφωνος,

οὕτως οὐκ ἀνοίγει τὸ στόμα αὐτοῦ.

33Ἐν τῇ ταπεινώσει [αὐτοῦ] ἡ κρίσις αὐτοῦ ἤρθη·

τὴν γενεὰν αὐτοῦ τίς διηγήσεται;

ὅτι αἴρεται ἀπὸ τῆς γῆς ἡ ζωὴ αὐτοῦ.

34ἀποκριθεὶς δὲ ὁ εὐνοῦχος τῷ Φιλίππῳ εἶπεν· δέομαί σου, περὶ τίνος ὁ προφήτης λέγει τοῦτο; περὶ ἑαυτοῦ ἢ περὶ ἑτέρου τινός; 35ἀνοίξας δὲ ὁ Φίλιππος τὸ στόμα αὐτοῦ καὶ ἀρξάμενος ἀπὸ τῆς γραφῆς ταύτης εὐηγγελίσατο αὐτῷ τὸν Ἰησοῦν. 36ὡς δὲ ἐπορεύοντο κατὰ τὴν ὁδόν, ἦλθον ἐπί τι ὕδωρ, καί φησιν ὁ εὐνοῦχος· ἰδοὺ ὕδωρ, τί κωλύει με βαπτισθῆναι; 38καὶ ἐκέλευσεν στῆναι τὸ ἅρμα καὶ κατέβησαν ἀμφότεροι εἰς τὸ ὕδωρ, ὅ τε Φίλιππος καὶ ὁ εὐνοῦχος, καὶ ἐβάπτισεν αὐτόν. 39ὅτε δὲ ἀνέβησαν ἐκ τοῦ ὕδατος, πνεῦμα κυρίου ἥρπασεν τὸν Φίλιππον καὶ οὐκ εἶδεν αὐτὸν οὐκέτι ὁ εὐνοῦχος, ἐπορεύετο γὰρ τὴν ὁδὸν αὐτοῦ χαίρων.

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Übersetzung

26 Ein Engel des Herrn aber sprach zu Philippus: „Mach dich auf und geh um die Mittagszeit auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt; sie ist einsam.“ 27 Und er machte sich auf und ging. Und siehe, ein äthiopischer Mann, ein Eunuch, ein hoher Beamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der ihren ganzen Schatz verwaltete, war nach Jerusalem gereist, um anzubeten. 28 Nun befand er sich auf dem Heimweg und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29 Da sprach der Geist zu Philippus: „Geh und folge diesem Wagen.“ 30 Philippus lief hin und hörte, dass er im Propheten Jesaja las, und sagte: „Verstehst du, was du da liest?“ 31 Der sagte: „Wie könnte ich, wenn niemand mich anweist?“ Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Der Abschnitt der Schrift, den er las, war folgender: „Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtbank geführt; und wie ein Lamm vor seinem Scherer verstummt, so öffnet er nicht seinen Mund. 33 In seiner Erniedrigung wurde aufgehoben das Urteil gegen ihn; doch von seinem Geschlecht, wer wird davon erzählen? Denn weggenommen von der Erde wird sein Leben.“ 34 Der Eunuch sagte nun zu Philippus: Ich bitte dich, sage mir, von wem spricht der Prophet hier? Von sich oder von einem anderen? 35 Da öffnete Philippus seinen Mund und verkündigte ihm von dieser Schriftstelle ausgehend Jesus. 36 Als sie weiterzogen, kamen sie zu einer Wasserstelle, und der Eunuch sagte: „Sieh, Wasser; was hindert, dass ich getauft werde?“ 38 Und er ließ den Wagen anhalten, und sie stiegen beide ins Wasser hinab, Philippus und der Eunuch, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser stiegen, entrückte der Geist des Herrn Philippus, und der Eunuch sah ihn nicht mehr; denn er zog voll Freude seines Weges.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.26 – κατὰ μεσημβρίαν meint wörtlich „um die Mittagszeit“, kann davon abgeleitet auch „nach Süden“ bedeuten; die Zeitangabe ist vermutlich hier zu bevorzugen.

V.27 – Strittig ist, wie εὐνοῦχος zu übersetzen ist: wörtlich bedeutet es Betthüter und kann auf eine hohe Funktion am Hof verweisen, was aber im vorliegenden Kontext synonym zu δυνάστης stünde. Dass Hofbeamte oft kastriert waren, hat die Bedeutung Eunuch geprägt. Für unseren Text ist also zu entscheiden, ob εὐνοῦχος die körperliche Verstümmelung des Äthiopiers (so die meisten Kommentare) oder seine hohe Stellung am Hofe bezeichnet. Dabei ist auch zu bedenken, dass in den V.34.36.38f. nur εὐνοῦχος wiederholt wird, aber nicht die anderen Attribute aus V.27 (Äthiopier, Hofbeamter, Schatzmeister).

V.30 – ἤκουσεν: In der Antike war es üblich, laut zu lesen. Das Wortspiel mit den im Griechischen verwandten Wörtern γινώσκεις und ἀναγινώσκεις lässt sich im Deutschen in etwa durch „Erkennst du auch, was du zur Kenntnis nimmst?“ wiedergeben (Eckey 204).

V.31 – ὁδηγέω bedeutet wörtlich übersetzt „den Weg weisen“; indirekt wird hier also das für die Apostelgeschichte zentrale Wegmotiv aufgenommen (ὁδός erscheint allein in unserem Text in V.26.36.39; vgl. außer den Missionsreisen auch die Bezeichnung des Christusglaubens als „der (neue) Weg“, z.B. 9,2; 19,9.23 u.ö.).

V.35 – εὐηγγελίσατο bedeutet eigentlich, „die frohe Botschaft verkündigen“, diese Übersetzung erfordert aber, gegen den griechischen Text die Präposition „von“ vor Jesus einzufügen.

V.37 – Einige jüngere Handschriften lesen zwischen V.36 und 38 zusätzlich folgendes Taufgespräch, was wohl eine nachträgliche Ergänzung ist: „Philippus aber sprach: ‚Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so kann es geschehen.‘ Er aber antwortete und sprach: ‚Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.‘“

2. Literarische Gestalt und Kontext

Die ganze Szene ist konzentrisch um das Jesajazitat in V.32f. herum aufgebaut, das durch die beiden Dialoge über das Verständnis des Prophetentextes gerahmt wird (V.31f.34f.). Den äußeren Rahmen nach vorne bilden die Einführung der beiden Protagonisten und ihre Begegnung, den nach hinten die Taufe des Äthiopiers und die Trennung der Hauptpersonen (vgl. Pesch 290). Die Handlung ist zudem markant durch göttliche Fügung gelenkt: Zu Anfang wird Philippus‘ „Weg“ durch den Auftrag eines Engels, zum Abschluss durch die Entrückung durch den Heiligen Geist bestimmt. Auch die Anweisung, dem Wagen zu folgen, erfolgt durch den Geist. Der Reisende hat nicht nur eine Prophetenrolle bei sich, sondern er liest auch zufällig gerade einen Ausschnitt aus dem sog. Gottesknechtlied (Jes 53,7f. LXX), der sich ideal für die anschließende christologische Auslegung eignet (die aber nicht ausgeführt wird!). Mitten in der Einöde findet sich schließlich zum rechten Zeitpunkt eine Wasserstelle für die Taufe.

Insgesamt trägt die Szene deutliche paradigmatische Züge, etwa die Lokalisierung zur Mittagszeit in der Wüste, die Figur des weitgereisten, hochrangigen Beamten, der als dem Judentum nahestehend charakterisiert ist, aber hermeneutischer Anleitung bei der Schriftauslegung bedarf, was dann in seine Bekehrung und Taufe mündet.

3. Historische Einordnung

8,26-39 findet sich in dem Teil der Apostelgeschichte, in dem im Anschluss an die Vertreibung der sog. Hellenisten aus Jerusalem (8,1.4) von der Ausweitung der Evangeliumsverkündigung berichtet wird: Die Mission des Philippus in Samarien (8,5-13) sowie deren Anerkennung durch Petrus und Johannes (8,14-25) gehen unserer Perikope unmittelbar voraus, im Anschluss folgen zwei weitere „Umkehrerzählungen“, nämlich zunächst die Berufung des Juden und Christenverfolgers Saulus in der Nähe von Damaskus (9,1-31) und sodann die Bekehrung des römischen Hauptmanns Kornelius durch Petrus in Cäsarea (10,1-11,18), zu der unsere Perikope etliche Parallelen aufweist. Der dunkelhäutige Äthiopier ist also der erste in der Apostelgeschichte bekehrte Nichtjude, auch wenn in der Rezeptionsgeschichte diese Ehre häufig Kornelius zugeschrieben wurde.

Schauplatz unserer Szene ist die Straße von Jerusalem in das tiefergelegene Gaza; die Betonung liegt darauf, dass es eine einsame Gegend ist. Die Heimat des Reisenden, Äthiopien, bezeichnete in der Antike das Gebiet des heutigen Sudan am Oberlauf des Nils (im AT das Land Kusch). Die Lesenden sind hier also auf eine Region verwiesen, die sonst erzählerisch in der Apostelgeschichte nicht erschlossen wird, aber in der Ankündigung der Verbreitung des Zeugnisses „bis an das Ende der Erde“ (1,8) mitgedacht sein dürfte.

4. Schwerpunkte der Interpretation

In der Auslegung liegt ein besonderes Interesse auf der Identität des Bekehrten. In V.27 wird jeweils zweimal auf seine Herkunft und auf seinen hohen Rang am Hofe der äthiopischen Königin verwiesen. Es spricht außerdem einiges dafür, dass er als Kastrat vorgestellt ist (s.o. 1), womit er gemäß der Torah nicht Teil der Gemeinschaft und vom Kult ausgeschlossen wäre (vgl. Dtn 23,1), also auch nicht Proselyt sein könnte. Diese Einschränkung wird jedoch in Jes 56,3-5, also im unmittelbaren Umfeld der in unserem Text zitierten Passage aufgehoben, so dass unsere Szene als die Erfüllung des Prophetenworts anmuten kann. Philippus sieht jedenfalls keinerlei Bedenken, den Eunuchen zu taufen, was dieser selbstbewusst einfordert.

Es liegt zwar keine typische Bekehrungserzählung vor, aber unser Text hat deutliche Anklänge an verschiedene Traditionen, besonders die Emmauserzählung (Lk 24,13-35) und den Elia/Elisa Zyklus.

5. Theologische Perspektivierung

Durch göttliche Fügung wird das Evangelium nun für weitere Kreise über Judäa und Samaria hinaus erschlossen. Dies gilt sowohl ethnisch, da wir es bei dem Äthiopier mit einem Nichtjuden zu tun haben, als auch statusmäßig, da der Reisende im Überschuss als eine hochrangige Persönlichkeit gekennzeichnet ist. Auffallend sind seine Lernbereitschaft und die Offenheit, sich auf die frohe Botschaft einzulassen, wie auch der Abschluss der Erzählung zeigt, wo der Äthiopier sich nicht über das plötzliche Verschwinden des Philippus wundert, sondern freudig den Heimweg antritt.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Diese Geschichte ist mir und sicher auch vielen Predigthörer*innen gut bekannt: Im evangelischen Kindergarten, in der Grundschule, im Tauferinnerungsgottesdienst habe ich vom „Kämmerer aus Äthiopien“ erzählt, Andachten gehört, Auslegungen gelesen. Nicht zuletzt die wunderbaren Illustrationen von Kees de Kort (Das große Bibel-Bilderbuch. Stuttgart 1994) sind mir sofort vor Augen und berühren Herz und Sinne. Was gibt es also Neues zu sagen mit dieser Geschichte?

Die Exegese arbeitet die Vielzahl der erzählerischen Bildmotive heraus, wobei das Motiv vom „Weg“ am intensivsten wirkt. Der konzentrische Aufbau um das Jesajazitat lenkt meine Aufmerksamkeit auf die beiden Dialoge zwischen Philippus und dem Äthiopier: Es geht um das Verständnis der Schrift und damit zugleich um die Beziehung zu Jesus als dem Christus. Es geht darum, wie ein Mensch, der sehr genau beschrieben wird, aber ohne Namen bleibt, sich dem Glauben an Jesus Christus zuwendet und was bzw. wer ihm dabei hilft. Es geht auch um eine Lese- und Auslegungsgemeinschaft der beiden Menschen auf dem Wagen, auf Zeit. Dass die Erzählung „paradigmatische Züge“ trägt, lädt dazu ein, sich in die Personen hineinzuversetzen. Dass es um den „rechten Zeitpunkt“ für die Begegnung mit dem Christusglauben geht, öffnet für die Frage: Wann war und ist für mich, für dich der rechte Zeitpunkt? Nicht zuletzt ermöglicht der weite geografische Horizont den Blick auf verschiedene Orte und Lebenszusammenhänge, in denen Glauben kommuniziert, Evangelium verkündigt wird.

2. Thematische Fokussierung

Beide Personen der Erzählung interessieren mich, so dass ich mit ihnen ins Gespräch kommen möchte: Wie sieht Philippus seinen Auftrag? Welche Haltung steckt hinter seiner doch sehr direkten Frage an den laut lesenden Äthiopier? Wie gelingt es ihm, seinen Glauben so ins Gespräch zu bringen, dass er berührt und überzeugt? Was hat den Äthiopier bewogen, diese Stelle bei Jesaja zu lesen? Wie steht er zum Glauben an den Gott der Bibel, in der er ja liest? Als Eunuch ist er nach den Regeln seiner Zeit körperlich versehrt, heute könnte er als genderfluid „gelesen“ werden. Als Dunkelhäutiger kommt er aus einer damals kaum bekannten Gegend und als Hofbeamter der Kandake ist er anderen Göttern verpflichtet. Als Namenloser steht er für viele, als reicher Schatzmeister für wenige. Er lässt sich in keine Schublade stecken. Er bleibt ambivalent und ist doch in seiner Entscheidung, sich taufen zu lassen, ganz klar. Eine schillernde Persönlichkeit mit offenen Ohren und nachdenklichem Herzen. Und: fröhlich am Ende!

3. Theologische Aktualisierung

Die Erzählung spricht am Anfang von einer „einsamen Straße“. Bei Luther (2017) ist von einer öden Straße „von Jerusalem nach Gaza“ die Rede. Diese Ortsbezeichnung löst in der aktuellen Situation Bestürzung aus, schreckliche Bilder prägen die Nachrichten der letzten Wochen: Pogrome der Hamas in israelischen Dörfern, der Krieg Israels gegen die Hamas, der den Gazastreifen inzwischen weitgehend zerstört hat. Frieden ist weit entfernt, und Antisemitismus vergiftet viele Kommentare und Reaktionen auch in Deutschland, eine Lösung des Konfliktes ist nicht in Sicht. Es bleibt zu hoffen, dass bis Anfang Juli 2024 wenigstens der aktuelle Krieg beendet wurde. Die geografische Verortung von Apg 8,26-39 kann nicht ignoriert werden, denn sie zeigt: Wir leben und glauben in einer Welt, die nicht ist, wie sie sein soll. Sie ist an vielen Orten öde, zerstört, vergiftet, lebensfeindlich. Diese Ödnis der realen Welt spricht auch aus dem Jesajatext, den der Äthiopier liest: Es geht da um einen, der an dieser Welt zugrunde geht, der aber von Gott nicht in der Ödnis und Einsamkeit seines Leidens verlassen wird, sondern lebt und Leben schafft. Das ist die Brücke zur Freude, von der am Schluss der Geschichte berichtet wird (V. 39).

Welcher Weg führt von der einsamen Ödnis zur Freude, ohne dass die Realität der Welt, wie sie ist, geleugnet wird? Wie kann der Glaube an den lebendigen Gott, „das Evangelium von Jesus“ (V. 35) uns für beides Augen und Herz öffnen: für die Realität der Welt und für die Freude am Glauben und an Gott?

4. Bezug zum Kirchenjahr

Am 6. Sonntag nach Trinitatis steht die Taufe thematisch im Mittelpunkt. Der Wochenspruch Jes 43,1 betont die individuelle Ansprache an jeden einzelnen Menschen, in Ps 139 spricht die Beterin von sich und ihrer Gottesbeziehung in Nähe und Fremdheit. Taufbefehl (Evangelium Mt 28,16-20) und paulinische Tauftheologie (Röm 6,3-8(9-11)) vertiefen das Thema durch den Bezug zur Christusgeschichte: Leben, Tod und Auferstehung Christi und die Verkündigung dieses Evangeliums werden mit der Taufe verknüpft. Apg 8,26-39 setzt dabei einen eigenen Akzent: Die Taufe des Äthiopiers hebt Ausgrenzung auf und zeigt einen Weg zur Freude am Glauben. Das „didaktische Programm“ des Erzählers des lukanischen Doppelwerkes wird mit dieser Erzählung besonders deutlich: „den sicheren Grund der Lehre“ (Lk 1,4) weiterzugeben, um Glauben (und Freude) an Jesus Christus zu wecken.

5. Anregungen

Eine so durchkomponierte Erzählung lädt die Predigerin zum Erzählen ein: Geschichten erzählen, die Glaubenswege beschreiben und eröffnen. Im Sinne eines Bibliologs würde ich Apg 8,26-39 nacherzählen und an einzelnen Punkten unterbrechen und vergegenwärtigen, was die Geschichte beschreibt. Dabei kann die Einladung zur Identifikation mit den Personen und ihrer Beschreibung im Vordergrund stehen: Was sieht Philippus auf der Straße nach Gaza? Was hört er? Woher nimmt er den Mut, den Reisenden anzusprechen und sein Lesen zu unterbrechen mit einer durchaus provokativen Frage? Was hat der Äthiopier in Jerusalem erlebt und was bewegt ihn beim Lesen? Macht es ihm etwas aus, sein Unverständnis zuzugeben? Und was genau ist ihm unklar? An welcher Stelle entsteht seine Glaubenseinsicht? Wie geht es für ihn weiter, nachdem er wieder zuhause angekommen ist?

Auch die Bilder von Kees de Kort würde ich gern noch einmal genauer ansehen und beschreiben. Sie müssen nicht unbedingt den Predigthörenden vor Augen sein, aber sie regen an, das Wesentliche zu erfassen (Einsamkeit, Unverständnis, Gespräch, Wasser, Freude). Mit diesen Bildern kann die Predigt Schritt für Schritt den Weg durch die Geschichte gehen, innere wie äußere Situationen und Bewegungen nachzeichnen und an gegenwärtige Fragen und Erfahrungen anknüpfen. Überraschenderweise bringen diese Bilder eine weitere Person ins Spiel, die der Text nicht erwähnt, die aber auf der Erzählebene Teil Geschehens gewesen sein muss: Der Wagenlenker ist die ganze Zeit dabei, hört und schaut aufmerksam zu und wird so zum Zeugen der Glaubensentscheidung des Äthiopiers. Vielleicht ist dieser „imaginierte“ Wagenlenker eine Identifikationsfigur, die uns durch die Geschichte führen kann?

Autoren

  • Prof. Dr. Heike Omerzu (Einführung und Exegese)
  • Dr. Susanne Ehrhardt-Rein (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500050

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