Deutsche Bibelgesellschaft

Galater 2,16-21 | 11. Sonntag nach Trinitatis | 11.08.2024

Einführung in den Galaterbrief

Im Corpus Paulinum nimmt der Gal durch den in ihm sich spiegelnden tiefgreifenden Konflikt zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden eine Sonderstellung ein. Zu den nach wie vor intensiv diskutierten Problem- und Fragekomplexen gehören seine Datierung und die Lokalisierung der Empfänger, das theologische Profil der paulini­schen Kontrahenten, der Ausdruck „Werke des Gesetzes“, die Abraham-Thematik.

1. Verfasser und Entstehungsort

Der Brief lässt im Unklaren, wann er geschrieben wurde. Die Schwankungsbreite sei­ner chronologischen Einordnung reicht von 48/49 n.Chr. bis 55/56 n.Chr. Orientiert man sich an Paulus selbst, ist eine Spätdatierung sehr wahrscheinlich.

(a) In 1Kor 16,1 weist er die Korinther an, bei der Kollekte so zu verfahren, wie er es in Galatien „ange­ordnet“ hat. Aufgrund der dort ebenfalls noch ungeregelten Modalitäten kann dies erst vor kurzem geschehen sein, vielleicht während des zweiten Aufenthalts in den Gemein­den (Apg 18,23). Zur Abfassungszeit des 1Kor war ihre Beziehung noch ungetrübt. Wenn Paulus in Gal 2,10 betont, er sei den auf dem Jerusalemer Apostelkonvent einge­gangenen Verpflichtung für die „Armen“ voll und ganz nachgekommen, setzt er die in 2Kor 8f dokumentierten Bemühungen zur Sammlung der Kollekte voraus. Dies lässt da­rauf schließen, dass der Gal später datiert als die korinthische Korrespondenz.

(b) Auf­fällig ist die Nähe zum Röm. Enge Berührungen zeigen sich im Aufbau, an dem in Röm 3,19–4,25 und 8 aufgenommen Gedankengang des Gal und der nur in ihnen entfalteten Rechtfertigungslehre. Ist der Röm im Gal in Grundzügen vorgebildet, kann dessen zeit­licher Abstand nicht groß sein. Da Paulus den Röm Anfang bis Mitte des Jahres 56 n.Chr. während des letzten Korinthbesuchs (Apg 20,2, vgl. Röm 16,1f.23) geschrieben hat, liegt eine Datierung des Gal 55/56 n.Chr. nahe.

2. Adressaten

Als Empfänger kommen Gemein­den in der Landschaft Galatien (Zentralkleinasien/“Anatolien“) oder im provinzgalatischen Süden in Betracht. Aller­dings ist mehr als fraglich, ob die klassische Begründung der sog. Landschaftshypothese leistet, was sie soll. Grade die beiden Argumente, auf die sie sich primär stützt – zum einen die Briefadresse „den Gemeinden der Galatia“ (1,2), zum anderen die vorwurfs­volle Anrede „O ihr unverständigen Galater“ (3,1) –, tragen für sie nichts aus. Denn den antiken Quellen zufolge (Strabon, Plinius d.Ä., Pausanias) waren die Einwohner in den urbanen Zentren Nordgalatiens in paulinischer Zeit keineswegs mehr Galater im eth­nisch definierten Sinn. Gewichtet man die jeweils angeführten Argumente Pro und Contra, erscheint die in der angloamerikanischen Exegese fast unisono vertretene sog. Provinzhypothese auch in ihrer modifizierten Form (Meiser) am plausibelsten.

3. Wichtige Themen

Vieles spricht dafür, dass es sich bei den in Galatien aktiven Fremdmissionaren um toraobservante Judenchristen handelt. Mit ihrer Kritik an Paulus haben sie die Gemein­den überzeugt und für sich gewonnen. In der Briefsituation stehen diese im Begriff, auf die an sie herangetragenen Forderungen einzugehen: Vollzug der Beschneidung (5,2f.6; 6,12f), Einhalten des jüdischen Festkalenders (4,9f) und, wie der Rückblick auf den an­tiochenischen Konflikt (2,11–14) zu erkennen gibt, der Speise- und Reinheitsgebote. Erst wenn sie die rituellen Identitätsmerkmale des Judentums übernehmen, so wurde ih­nen bedeutet, seien sie Abrahams Nachkommen und seine Verheißungserben. Zwar stimmten die Fremdmissionare mit Paulus überein, dass Völkerchristen in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen werden können. Beschneidung und prinzipiell auch To­ra-Gehorsam galten ihnen aber als unabdingbare Voraussetzungen. Ganz offensichtlich verstanden sie das von ihnen propagierte „Evangelium“ (1,6fin) als ein notwendiges Korrektiv zum paulinischen Evangelium, weil es für sie Entscheidendes vermissen ließ. Ihm fehlte die jüdische Signatur. Doch meinten sie wohl, auf der Erstmission aufzubau­en und den aus ihrer Sicht defizitären Heilsstand der Galater im Sinne des in der Tora Gebotenen zu „vollenden“ (3,3). Woher sie kamen, wird nicht gesagt. Die mehrfach an­geschnittene Jerusalem-Thematik (1,17–19; 2,1–10; 4,25, vgl. 2,12) könnte aber darauf hindeuten, dass die paulinischen Opponenten in einer wie immer gearteten Verbindung zur Jerusalemer Gemeinde gestanden haben.

In Gal 2,16 stellt Paulus erstmals den inneren Zusammenhang von Glaube und Recht­fertigung heraus. Damit schreibt er allein dem Glauben zu, was die Fremdmissionare in ihrer doppelt strukturierten Heilskonzeption auch dem Gesetz zuschreiben. Für sie wird der Mensch aus Glauben und aufgrund von „Werken des Gesetzes“ gerechtfertigt. Die Frage, ob der im NT nur im Gal (2,16 [3 mal]; 3,2.5.10) und Röm (3,20.28) begegnende Ausdruck „Werke des Gesetzes“ sich auf Handlungen bezieht, die in Erfüllung der Tora getan werden, oder Vorschriften meint, die in der Tora stehen und befolgt werden sol­len, oder aber die Gesamtheit aller Rechtsforderungen in der Tora bezeichnet, ist sicher nicht pauschal zu beantworten. Für Paulus ist es jedoch völlig unerheblich, ob seine Kontrahenten halachische Rigoristen sind oder sich mit einem Minimalprogramm be­gnügen (vgl. 5,3). Maßgeblich ist vielmehr, dass ihr Beharren auf der prinzipiellen Gül­tigkeit der Tora und damit die Integration des Christus-Glaubens in eine jüdische Iden­tität unvereinbar ist mit dem bereits im Briefeingang zur Sprache gebrachten zentralen Inhalt des Evangeliums: „Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingege­ben hat, um uns herauszureißen aus der gegenwärtigen bösen Weltzeit nach dem Willen Gottes, unseres Vaters“ (1,3f). Auch in ihrem reduzierten Programm sieht Paulus die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14, vgl. 4,16; 5,7) im Kern preisgegeben.

4. Besonderheiten

Gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, dass die im Brief eine dominieren­de Rolle spielende Abraham-Thematik von den Fremdmissionaren eingebracht worden ist. Sie war geeignet, ihre Position zu stärken. Um Kinder Abrahams zu sein und dem auserwählten Gottesvolk anzugehören, müssten sich die Galater wie er und seine männlichen Nachkommen (Gen 17,9–14.23–26; 21,3f) der Beschneidung unterziehen. Paulus entwindet seinen Gegnern dieses Argument, indem er ihnen andere Teile der bi­blischen Abraham-Erzählung entgegenhält (3,6–9). Zunächst verweist er auf Gen 15,6 (LXX): „Es ist wie bei Abraham: ‚Er glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘“, und folgert daraus. „Die aus Glauben – (nur) die sind Abrahams Kinder“ (V.7). Anschließend kombiniert er Gen 12,3 mit 18,18 („In dir werden alle Völker ge­segnet werden“ [V.8]) und zieht das Fazit: „Also werden die aus Glauben mit dem gläu­bigen Abraham gesegnet“ (V.9). Eben darum geht es Paulus in der aktuellen Problem­situation. Mit seinem argumentativen Rückgriff auf die Schrift schärft er den völker­christlichen Galatern ein, dass sie nicht durch die Übernahme der Beschneidung an der Erwählung Abrahams teilhaben, sondern schon aufgrund ihres Glaubens an Jesus Chris­tus, den Nachkommen Abrahams (3,16).

Literatur:

  • Klaiber, W., Der Galaterbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013.
  • Eckstein, H.-J., Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes, Göttingen 2017.
  • Keener, C.S., Galatians. A Commentary, Grand Rapids 2019.
  • Meiser, M., Der Brief des Paulus an die Galater, ThHK 9, Leipzig 2022.

A) Exegese kompakt: Galater 2,16–21

16εἰδότες [δὲ] ὅτι οὐ δικαιοῦται ἄνθρωπος ἐξ ἔργων νόμου ἐὰν μὴ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ, καὶ ἡμεῖς εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν ἐπιστεύσαμεν, ἵνα δικαιωθῶμεν ἐκ πίστεως Χριστοῦ καὶ οὐκ ἐξ ἔργων νόμου, ὅτι ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σάρξ. 17εἰ δὲ ζητοῦντες δικαιωθῆναι ἐν Χριστῷ εὑρέθημεν καὶ αὐτοὶ ἁμαρτωλοί, ἆρα Χριστὸς ἁμαρτίας διάκονος; μὴ γένοιτο. 18εἰ γὰρ ἃ κατέλυσα ταῦτα πάλιν οἰκοδομῶ, παραβάτην ἐμαυτὸν συνιστάνω. 19ἐγὼ γὰρ διὰ νόμου νόμῳ ἀπέθανον, ἵνα θεῷ ζήσω. Χριστῷ συνεσταύρωμαι· 20ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός· ὃ δὲ νῦν ζῶ ἐν σαρκί, ἐν πίστει ζῶ τῇ τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ τοῦ ἀγαπήσαντός με καὶ παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ. 21Οὐκ ἀθετῶ τὴν χάριν τοῦ θεοῦ· εἰ γὰρ διὰ νόμου δικαιοσύνη, ἄρα Χριστὸς δωρεὰν ἀπέθανεν.

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Übersetzung

16 Da aber, wie wir wissen, der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerecht gesprochen wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir aus Glauben an Christus gerecht gesprochen werden und nicht aus Werken des Gesetzes, denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht gesprochen werden. 

17 Wenn aber wir, indem wir danach strebten, in Christus gerecht gesprochen zu wer-den, auch selbst als Sünder erwiesen wurden, ist dann etwa Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!

18 Denn (nur) wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, erweise ich mich als Übertreter.

19 Ich bin nämlich durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt.

20 So lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Das irdische Leben, das ich jetzt noch führe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.

21 Ich setze die Gnade Gottes nicht außer Kraft. Denn wenn durch das Gesetz (die) Gerechtigkeit (kommt), dann ist Christus grundlos gestorben.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.16a Das Perfektpartizip εἰδότες rekurriert wie ἡμεῖς in V.16b auf den in Reihe VI ausgelassenen V.15: „Wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder aus den Völkern“. V.16a ἄνθρωπος ist indeterminiert, also generisch gemeint: ausnahmslos jeder Mensch.

V.16a ἐὰν μή ist hier nicht exzeptiv gebraucht („außer“, „es sei denn“), sondern streng adversativ zu verstehen („sondern nur“, „ausschließlich“).

V.16a In der Nominalverbindung πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ ist der Genitiv kein Gen. subiectivus („der Glaube Jesu Christi“), sondern ein Gen. obiectivus bzw. qualitatis. Dies ergibt sich aus dem Hauptsatz „auch wir sind zum Glauben an Christus Jesus gekommen“ (V.16b).

V.16b „Wir“ = die ἡμεῖς von V.15, d.h. „wir Juden(christen)“.

V.17 Zu εὑρίσκω in diesem Sinne vgl. Röm 7,10b; 1Kor 4,2; 15,15. V.21b Das Adverb δωρεάν hat nicht die Bedeutung „vergeblich“ (dafür sagt Paulus εἰκῇ: Gal 3,4; 4,11; 1Kor 15,2), sondern „ohne Grund“, „grundlos“ (vgl. Joh 15,25).

2. Einordnung in den Kontext

Die Perikope 2,16–21 schließt im Erzählduktus des apologetisch grundierten autobiographischen Berichts (1,11–2,21) unmittelbar an den antiochenischen Konflikt (V.11–14) an. Sie ist Teil der in V.14d beginnenden Rede, die Paulus seinen eigenen Worten zufolge (V.14a–c) vor allen Anwesenden an Kephas/Petrus in Antiochien gerichtet hat, nachdem er unter dem Eindruck der aus Jerusalem angereisten Jakobusleute die Tischgemeinschaft mit den völkerchristlichen Glaubensgeschwistern aufgekündigt hatte (V.12). Strittig ist, ob die Rede nur V.14d umfasst – sie wäre dann lediglich eine kurze „Strafpredigt“ –, oder bis V.21 geht, wie zumeist angenommen wird. Mit guten Gründen: V.14 markiert formal keinen Redeabschluss, in 3,1 erfolgt ein Adressatenwechsel. Rhetorisch gesehen entsprechen V.16–21 der propositio, die dem ersten Beweisgang (3,1-4,31) die dort angeführten Argumente liefert. Inhaltlich sind sie jedoch die Hauptthese des Briefs gegenüber den Galatern. Auf der Textebene gilt die scharfe Replik des Apostels zwar Petrus und seinem „heuchlerischen“ (V.13) Verhalten in Antiochien, ist aber so formuliert, dass sie für die galatische Situation transparent wird.

3. Leitfaden der Interpretation

Gleichviel, wie man sie strukturiert, ist V.15 ein fester Bestandteil der Rede. Nach dem anklagenden „Du“ (V.14) geht Paulus zum asyndetisch angereihten „Wir“ (V.15) über, in das er sich selbst, Petrus, Barnabas und die anderen Judenchristen einbezieht. Der Vers ist rhetorisch als concessio, ein Eingeständnis zu verstehen, das später durch überzeugende Argumente wettgemacht wird. In einer ungewöhnlich langen Satzperiode (V.16) kontrastiert Paulus das judenchristliche Glaubenswissen (ἡμεῖς εἰδότες) mit dem früheren jüdischen Selbstverständnis von V.15, dessen Geltungsanspruch er nicht nur relativiert, sondern grundsätzlich aufhebt. Worauf er hinaus will, geben die hypotaktisch angeordneten Sätze in V.16b.c zu erkennen: „Auch wir sind zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir aus Glauben an Christus gerecht gesprochen werden". Ob der Mensch den rettenden Freispruch „aus“ (ἐκ) Glauben oder „durch“ (διά)  ihn erlangt, ändert an der prinzipiellen Bestimmung des Glaubens nichts. Weder hier noch dort ist er eine Vorbedingung, die der Mensch zu erfüllen hat. Vielmehr ist der Glaube die Art und Weise, in der Gott dem Menschen seine Gerechtigkeit zuspricht. Nicht „wegen des Glaubens“ (propter fidem), sondern „durch den Glauben“ (per fidem). Bezeichnet V.16b.c die erste Konsequenz aus dem zu Beginn des Verses genannten „Wissens“, dass einzig der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt, stellt Paulus ihr die zweite mit Anspielung auf Ps 142[143],2 antithetisch gegenüber (V.16d), so dass nurmehr dem Christusglauben kriteriologische Funktion zukommt. Angewandt auf die völkerchristlichen Galater heißt das: Ihnen sind keine „Werke des Gesetzes“ abzuverlangen.

Der Konditionalsatz in V.17a  knüpft direkt an V.16 an und zieht die Folgerung aus dem dort Gesagten. Bei ihrem Streben, allein in Christus gerechtfertigt zu werden, erwiesen sich auch die geborenen Juden tatsächlich als „Sünder“. Darin unterscheiden sie sich nicht von denen ἐξ ἐθνῶν (V.15). Mit der rhetorischen Frage in V.17b greift Paulus einen polemischen Vorwurf seiner judenchristlichen Opponenten auf, um ihn gleich entschieden abzuwehren: μὴ γένοιτο. Verneint wird nur der Nachsatz „ist dann Christus ein Diener der Sünde“, während die Prämisse zutrifft. Ab V.18 (bis V.21) wechselt Paulus vom „Wir“ zum „Ich“, das hier ein Stilmittel, nicht eigentlich individuelles, sondern typisches Ich ist. Vom Kontext her referiert das metaphorisch gebrauchte Niederreißen und Wiederaufbauen auf V.17a und verdeutlicht, was die Sünde wirklich fördert und als „Übertretung“ zu gelten hat, nämlich die Verkennung der Gnade Gottes. Nachdem er den ihm gemachten Vorwurf widerlegt hat, muss Paulus nun zeigen (V.19), worin der Grund für das „Niederreißen“ besteht. Er ist durch das Gesetz, dessen Aufgabe es ist, Sünder bei ihrer Sünde zu behaften, dem Gesetz gestorben, damit er für Gott lebt – in der Freiheit vom Herrschaftsbereich des den Gesetzesübertreter verurteilenden Nomos. Als Mit-Christus-Gekreuzigter hat er Anteil am sühnewirkenden Kreuzestod Jesu und ist so hineingenommen in ein neues Leben. V.20 formuliert zunächst die Konsequenz der zentralen Aussagen von V.19 und expliziert die Basis dessen, was in V.16 als Glaube benannt worden war. Das „Ich“, in dem Christus lebt, ist das Ich des Paulus und bezeugt die Intensität des Lebens aus dem Glauben. Mit dem präpositionalen Ausdruck ἐν σαρκί ist wie in Phil 1,22 die Endlichkeit und Sterblichkeit des irdischen Lebens gemeint. Der Schluss von V.20b nimmt 1,4 auf und ruft erneut die Dahingabe Jesu „für unsere Sünden“ in Erinnerung. Im letzten Vers (V.21) grenzt sich Paulus noch einmal scharf von der Position seiner judenchristlichen Gegenspieler ab. Ihre den Gesetzeswerken zugeschriebene Heilsbedeutung im Kontext der Rechtfertigung impliziert für ihn eine Annulierung der Gnade Gottes und hat zwangsläufig zur Folge, dass Christus grundlos gestorben ist.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

Ich in Christus – Christus in mir

1. Persönliche Resonanzen

Die exegetischen Überlegungen ordnen den Abschnitt konsequent in den Kontext des Streits zwischen Paulus und Petrus in Antiochien ein. Dieser drehte sich um die Frage, inwieweit sich auch die Heidenchristen die Vorschriften der Tora (bes. Speisegebote und Bescheidung) halten müssen. Zu diesen Fragen haben heutige Predigthörer*innen aber einen deutlichen Abstand. Denn keine*r der heutigen Predigthörer*innen wird ernsthaft vor der Frage stehen, inwieweit er sich beschneiden lassen muss oder inwieweit sie jüdisch Speisegebote einzuhalten hat. Umso wichtiger ist, die Möglichkeiten und Grenzen einer Aktualisierung (s.u.) zu reflektieren.

Zugleich bedürfen die vielen im Text von Paulus verwendeten Formeln (z.B. „Werke des Gesetzes“, „mitgekreuzigt“, „Christus in mir“, „Gnade“) nicht einfach einer Wiederholung, sondern einer aktualisierenden Auslegung.

2. Thematische Fokussierung

Während der erste Teil der Perikope um das Thema der Rechtfertigung mit den beiden Alternativen „durch Werke des Gesetze“ oder „durch den Glauben an Jesus Christus“ kreist, legt der zweite Teil den Akzent auf „leben“ (ich lebe Gott V.19; Christus lebt in mir V.20). Die Klammer zwischen beiden bildet der Glaube an Christus: Der/die Glaubende wird durch den Glauben gerecht und lebt Gott im Glauben. Ist damit nicht auch der Glaube exakt der Modus, in dem Christus „in mir“ lebt (beachte die Parallelität von V.20a und V.20b)?

Damit legt sich eine Fokussierung der Predigt auf das durch die Rechtfertigung aus Glauben eröffnete Leben in/für/mit/durch Gott nahe.

3. Theologische Aktualisierung

Hieran lässt sich ein Nachdenken über die Bedeutung von Rechtfertigung heute anschließen: Allerdings hat inzwischen nicht nur die damalige Frage nach der Tora-Observanz ihre Bedeutung verloren, auch (Luthers) Frage nach einem gnädigen Gott und die Rechtfertigung vor ihm können heute offensichtlich immer weniger Menschen nachvollziehen. Jedoch stehen Menschen auch (oder gerade) heute unter einem immensen Rechtfertigungsdruck: vor anderen Menschen und ihren Forderungen, vor sich selbst und den eigenen Ansprüchen, in sozialen Medien, angesichts von Schönheits- und Leistungsidealen. Darin kann dann durchaus auch eine transzendente/religiöse Dimension aufleuchten, nämlich dann, wenn in, mit und unter all den irdischen Rechtfertigungsanforderungen die Frage nach der fundamentalen (unbedingten) Rechtfertigung der gesamten eigenen Existenz aufleuchtet. (In Antiochia sind es übrigens auch andere Menschen, die Petrus mit ihren Forderungen unter Druck setzen und ihn zum Straucheln bringen.)

Auch angesichts dieses Rechtfertigungsdrucks erweist sich der Versuch der (Selbst-)Rechtfertigung durch eigene Leistung letztlich als Sackgasse und nicht zukunftsfähig. Demgegenüber steht die Behauptung des Paulus, dass der Glaube an Jesus Christus (neues) Leben eröffnet. Dieses (neue) Leben ist nun wiederum – nicht durch eigene Interessen, Leistungen etc., sondern – durch die glaubende Verbindung mit Christus bestimmt und qualifiziert: Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir (V.20).

Eben diese Neubestimmung könnte die Predigt ausbuchstabieren: Wie sieht ein neues, anderes Leben aus,

  • das nicht durch den (letztlich scheiternden) Versuch eine Selbstrechtfertigung angesichts heutigen Rechtfertigungsdrucks bestimmt ist,
  • sondern das aus dem befreiendem Vertrauen (Glauben) lebt, dass ich jenseits aller Leistung (und trotz aller Fehler) von Gott bejaht bin,
  • und das durch die Rückbindung an Jesus Christus bestimmt und orientiert ist. Dabei eröffnet gerade die Befreiung vom Selbstrechtfertigungszwang die christusförmige Zuwendung zur/zum Nächsten. Konkret heißt das, wer sich nicht selbst beweisen, produzieren, rechtfertigen muss, weil er darauf vertraut, dass er (von Gott) unbedingt bejaht ist, der kann sich (in der Nachfolge Jesu) auch anderen frei und offen zuwenden.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 11. Sonntag nach Trinitatis steht mitten in der Trinitatis- (und Ferien-)Zeit. Im Evangelium Lk 18,9-14 (Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner) sowie dem Wochenspruch aus 1 Petr 5,5c spiegelt sich gleichfalls das Thema Selbstrechtfertigung wider. Ihr wird zum einen die Demut bzw. das Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit entgegengesetzt, zum anderen die Gnade Gottes, die neues Leben eröffnet. Der Aspekt der Demut bildet eine wichtige Ergänzung zu Gal 2, denn er weist darauf, welche Haltung sich aus dem Verzicht auf Selbstrechtfertigung ergibt. (Allerdings bedarf der Begriff „Demut“ selbst der Erläuterung, da er im kirchlichen Kontext oft missbraucht wurde.)

Das moderne Wochenlied „Meine engen Grenzen“ bringt das Verwandeln der eigenen Grenzen hinein in die göttliche Weite schön zum Ausdruck.

5. Anregungen

Anforderungen, denen heute Menschen ausgesetzt sind und denen gegenüber sie sich „rechtfertigen“ müssen, dürften relativ leicht zu identifizieren und zu beschreiben sein, ebenso die gemeinschafts- und selbstzerstörenden Folgen der Versuche, sich selbst durch eigene Leistungen zu rechtfertigen. Doch sollte diese „Negativfolie“ die Predigt nicht dominieren.

Spannender ist es demgegenüber, die Formeln „ich lebe [für] Gott“ (V.19) und „nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (V.20) mit Leben zu füllen und zu konkretisieren.

Was bedeutet diese Wechselbeziehung von Gott und meinem Leben konkret? Wie gewinnt sie Gestalt in meinem Leben? Welche Praxis (spirituell und diakonisch) bedingt sie? Gibt es Vorbilder, in deren Leben davon etwas zum Ausdruck kommt?

Dazu ließe sich auch an die Bildsprache und die spirituelle Praxis der Mystik anknüpfen (z.B. Atemübungen), die versucht, diese Wechselbeziehung zwischen „Christus in mir“ und „ich in Christus“ immer wieder neu durchzubuchstabieren.

Auch das Wochenlied „Meine engen Grenzen“ ließe sich in die Predigt einarbeiten als Beschreibung davon, das Eigene loszulassen und durch das Vertrauen auf Gott Weite, Stärke, Heimat zu finden.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dieter Sänger (Einführung und Exegese)
  • Dr. Claus Müller (Praktisch-theologische Resonanzen)

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