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Römer 8,14–17 | 14. Sonntag nach Trinitatis | 01.09.2024

Einführung in den Römerbrief

1. Verfasser

Paulus diktierte dem Sekretär Tertius den Brief (vgl. 1,1 und 16,22: eigener Gruß des Tertius; keine Mitverfasser).

Paulus befindet sich an einem entscheidenden Punkt seiner langjährigen Missionsarbeit: Er will im Westen des Imperiums missionieren und plant eine Reise nach Spanien. Im Zusammenhang dieser Reise zu neuen potenziellen Missionsgebieten stellt er sich den römischen Christus-Gläubigen brieflich als Apostel der Nichtjuden vor und kündigt einen Aufenthalt in Rom an, bei dem er die römischen Christus-gläubigen Gemeindeglieder an seiner Evangeliumsverkündigung teilhaben lassen will. Außerdem hofft er auf Unterstützung bei seinen Reiseplänen. Zuvor will er aber die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, die die kleinasiatischen und griechischen Gemeinden aufgebracht haben, persönlich nach Jerusalem bringen, so dass sich sein Rombesuch noch verzögern wird.

2. Adressaten

Paulus schrieb den Brief an die „Berufenen Jesu Christi“, an „alle Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen“ in Rom (1,6f.).

Er spricht die Christus-gläubigen Adressaten nicht als „Gemeinde“ an (so in 1Kor 1,2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ). Die Exegeten schließen daraus, dass es in Rom in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden – oft als Hausgemeinden oder auch als „Gemeinden in römischen Mietblocks“ bezeichnet – gegeben habe. Wichtig ist,

  1. 1.dass es sich bei den Adressaten nicht um Mitglieder einer paulinischen Gemeindegründung handelt,
  2. 2.dass die Christus-gläubigen Römerinnen und Römer ganz überwiegend sogenannte Heidenchristen waren, d.h. nicht zum „Volk Israel“ gehörten,
  3. 3.dass sie nur zu einem kleinen Teil Paulus persönlich bekannt waren (vgl. die Grußliste in Kap. 16), so dass der Römerbrief an eine wenig homogene, Paulus überwiegend unbekannte und ihm nicht verpflichtete Leserschaft gerichtet ist (Wischmeyer, Römerbrief, 445-447).

Daraus erklärt sich der sehr sachlich-theologische Gesamtduktus, der auch den ethischen Teil B des Briefes (Röm 12-14) bestimmt.

3. Entstehungsort und Entstehungszeit

Paulus schreibt nach Rom wohl im Jahr 56 aus Korinth (Röm 16,23; 1Kor 1,14; Apg 20,4).

4. Wichtige Themen

„Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mission des Paulus“ (Wischmeyer, Römerbrief, 429).

Besonders wichtig ist die Auslegungsgeschichte des Röm. Keine Exegese kann ohne eine Reflexion auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegungsgeschichte des Briefes auskommen. Der Röm war seit Erasmus und den Reformatoren – vor allem Luther, Melanchthon und Calvin – der Grundtext reformatorischer Theologie. Die „Rechtfertigungslehre“ entwickelte Luther maßgeblich aus seiner Lektüre des Galater- und Römerbriefes und seiner Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ vom Genitivus objectivus her: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt bzw. Bestand hat, d.h. die Gerechtigkeit, die nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern aus dem Glauben kommt. Damit wurde Röm zugleich zum bleibenden Streitobjekt zwischen reformatorisch-protestantischer und katholischer Auslegung. Neuerdings muss die Christologie des Röm, die das Heil an den Glauben an Christus bindet, in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetzesverständnis neu diskutiert werden.

5. Aktuelle Fragen

Besonderes Interesse gilt in den letzten Jahren der religiös-ethnischen Identität des Paulus und einer damit verbundenen Distanzierung besonders von der christlich-theologischen Römerbriefinterpretation von Luther bis zu Barth und Bultmann. Wieweit ist Paulus auch nach seiner Beauftragung durch den erhöhten Christus (Gal 1,1.15) Jude (Röm 9,1-5) und Pharisäer (so Paula Fredriksen) geblieben? Diese Frage ist nicht nur für die Paulusinterpretation, sondern auch für die Rekonstruktion der Anfänge der christlichen Kirche von bleibender Bedeutung und wird exegetisch neu justiert werden müssen.

6. Besonderheiten

Röm ist der umfangreichste und thematisch anspruchsvollste Brief des Paulus. In mehreren ausführlichen thematisch zentrierten Textabschnitten behandelt Paulus entscheidende Themen seiner Missionsverkündigung:

Teil A In 1,16-11,36 legt er in mehreren Schritten sein „Evangelium“ dar, das „Juden und Nichtjuden (1,16) gilt.

  1. 1.In Kap. 1,17-4,25 entfaltet er die Heilswirkung des Evangeliums vor dem Hintergrund der Ungerechtigkeit von Nichtjuden wie Juden. 3,21-31 ist das christologische Herzstück dieser Heilsbotschaft.
  2. 2.In Kap. 5-8 entwickelt Paulus dann Einzelaspekte seiner Christologie.
  3. 3.Kap. 9-11 ist ein eigener thematischer Traktat zum Verhältnis von Nichtjuden und Juden, der mit der Perspektive der Errettung von Nichtjuden wie Juden schließt und damit auch das Thema von 1,16 zum Abschluss bringt (11,26).

Teil B Von 12,1-15,13 stellt Paulus in einer reich gegliederten Paraklese (ermahnende Darlegung der Verhaltensformen in den Christus-gläubigen Gemeinden) Grundelemente gemeindlichen Verhaltens dar (darin: 13,1-7 zur „Obrigkeit“; 13,8-10 Liebe als Gesetzeserfüllung; Kap. 14 Starke und Schwache in der Gemeinde).

15,14-33 gelten der aktuellen Planung, Kap. 16 enthält ausführliche Grüße.

Literatur:

  • Fredriksen, P.: Paul, the Perfectly Righteous Pharisee, in: The Pharisees, hg. J. Sievers and A.-J. Levine, Eerdmans 2021.
  • Kleffmann, T.: Der Römerbrief des Paulus, Tübingen 2022 (theologisch-systematische Kommentierung des Röm).
  • Wischmeyer, O. / Becker, E.-M. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 32021; darin. Wischmeyer, O., Römerbrief, 429-469. Dort S. 468f. weiter kurz kommentierte Literatur.
  • Wolter, M.: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8. EKKNF VI/1, Neukirchen-Vluyn 2014. Teilband 2: Röm 9-16. EKKVI/2, Neukirchen-Vluyn 2019.

A) Exegese kompakt: Römer 8,14-17

12Ἄρα οὖν, ἀδελφοί, ὀφειλέται ἐσμὲν οὐ τῇ σαρκὶ τοῦ κατὰ σάρκα ζῆν, 13εἰ γὰρ κατὰ σάρκα ζῆτε, μέλλετε ἀποθνῄσκειν· εἰ δὲ πνεύματι τὰς πράξεις τοῦ σώματος θανατοῦτε, ζήσεσθε. 14ὅσοι γὰρ πνεύματι θεοῦ ἄγονται, οὗτοι υἱοὶ θεοῦ εἰσιν. 15οὐ γὰρ ἐλάβετε πνεῦμα δουλείας πάλιν εἰς φόβον ἀλλ’ ἐλάβετε πνεῦμα υἱοθεσίας ἐν ᾧ κράζομεν· αββα ὁ πατήρ. 16αὐτὸ τὸ πνεῦμα συμμαρτυρεῖ τῷ πνεύματι ἡμῶν ὅτι ἐσμὲν τέκνα θεοῦ. 17εἰ δὲ τέκνα, καὶ κληρονόμοι· κληρονόμοι μὲν θεοῦ, συγκληρονόμοι δὲ Χριστοῦ, εἴπερ συμπάσχομεν ἵνα καὶ συνδοξασθῶμεν.

Römer 8:12-17NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

[12 Wir sind nun, Brüder, also nicht dem Fleisch verpflichtet, so dass wir nach dem Fleisch leben müssten. 13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Körpers tötet, werdet ihr leben.]

14 Denn diejenigen, die der Geist Gottes treibt, sind Söhne Gottes. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch wieder fürchten müsst, sondern ihr habt einen Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht – den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! 16 Der Geist selbst bezeugt mit unserm Geist zusammen, dass wir Kinder Gottes sind. 17 Wenn aber Kinder, dann auch Erben, Erben aber Gottes, Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zusammen verherrlicht werden.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Der Text bietet keine Schwierigkeiten. Auffallend ist das viermalige „syn“-„mit“. υἱοθεσία ist ein rechtstechnischer Ausdruck und bezeichnet die Adoption und damit einen rechtlichen Status als Familienmitglied – eben nicht als Sklave, der zum Haushalt gehört. Abba: aramäisch, wohl gottesdienstlich in paulinischen Gemeinden benutzt (Bezug zu Jesus: Mk 14,36).

2. Beobachtungen zur literarischen Gestaltung

VV.14-17 sind Teil der ausführlichen Argumentation von Kap. 8 und haben als solche keine literarisch-formale Eigengestalt, wohl aber eine begriffliche Kohärenz. Paulus arbeitet – wie oft – mit tragenden Begriffen, die hier bildlich eingesetzt sind, und mit Antithesen. In den Versen 12+13 verwendet er die seit Röm 5 und vor allem in Kap. 8 tragenden Antithesen von Fleisch/Körper – Geist, in 14-17 vor allem Sklaven – Söhne. Diese zweite Antithese ermöglicht es Paulus, das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen als ein Freiheitsverhältnis und ein Naheverhältnis von Vater und Sohn zu beschreiben. Eine weitere Antithese bezieht sich auf das Verhältnis Christus – Menschen: Hier geht es um die Form der Lebensführung: Mitleiden – Mitverherrlichung, ein Thema, das in VV.18ff. ausgeführt wird. Für Paulus typisch ist zudem die Weiterentwicklung bildhafter Begriffe: Aus dem Sohn wird der Erbe – was nicht zwingend ist, da nur der Erstgeborene der rechtliche Erbe ist. Sohn und Erbe sind sehr starke antike Bilder für Kontinuität und Rechtsanspruch, auch für Freiheit und Selbstbestimmung im Gegensatz zu Unfreiheit und Angst, die den Sklavenstatus kennzeichnen.

3. Historische Einordnung

Der Textabschnitt ist Teil der Belehrung über den Geist in Kap. 8. Paulus verbindet hier Christus und das Leben im Geist aufs Engste (VV.9-11). Kap. 8 zieht die Summe aus den komplexen christologischen Ausführungen der Kap. 5-7 für die Existenz der Christus-gläubigen Adressaten: „Es gibt nun keine Verurteilung mehr für die in Christus Jesus“ (8,1). Die christologischen Argumentationslinien von Kap. 5 bis 7 werden in Kap. 8 unter dem Begriff des Geistes auf das Leben der Adressaten bezogen. Vers 13 bietet das Stichwort. 8,14 schließt daraus für die Adressaten: „Diejenigen, die der Geist Gottes treibt, sind Söhne Gottes“. Der maskuline Sohnesbegriff ist hier im Zusammenhang der Bildersprache notwendig, einerseits weil nur der Sohn erbt, andererseits weil das Verhältnis von Gott dem Vater und Jesus Christus, seinem „Sohn“, der Argumentation von Röm 5-8 unterliegt. Daher sollte eine Übersetzung den Sohnesbegriff unbedingt beibehalten. V.17 zeigt aber, dass Paulus dabei sachlich alle Christus-Gläubigen meint: „Wir sind Kinder Gottes“. Er führt diesen Satz nicht weiter aus, sondern geht im Folgenden (8,18-30) auf die Aspekte von Leiden, Unfreiheit und Schwäche der jetzigen Situation der Menschen ein und verschiebt die Perspektive von Freiheit und Erlösung auf das Eschaton: „Wir warten auf die Sohnschaft“ (V.23). Positiv in 8,14-17 ist die Bestimmtheit der Adressaten durch den Geist.

4. Theologische Perspektivierung

V.16 ist der theologische Mittelpunkt des Textes: Den Christus-gläubigen Adressaten wird die Gotteskindschaft zugesprochen. V.15 ist der Erfahrungsmittelpunkt des Textes. Paulus weist hier wie öfter (1Kor 12-14; Gal 3,2 und 4,6) auf die Geisterfahrung der Gemeinden hin, die er als Beginn der neuen Existenz in Christus deutet. Röm 8,23 macht das nochmals sehr deutlich: „Wir haben den Geist als Erstlingsgabe“. Der Abba-Ruf muss in den Gemeinden Realität gewesen sein (Gal 4,6). Wieweit hier an spontan charismatisches Gebet wie in 1Kor 14 gedacht ist, muss offen bleiben. Sicher ist aber, dass für Paulus die Geisterfahrung in den Gemeinden Realität war: „Ich will mit dem Geist beten“ – Paulus fährt fort: aber „auch mit dem Verstand“ (1Kor 14,15). Hier wird nicht dem rein charismatischen Gottesdienst das Wort geredet, wohl aber wird der Geist in den Gottesdiensten erfahren. Dabei ist der „Vater“-Ruf entscheidend, der auch im Vaterunser begegnet, wenn dort auch nicht pneumatisch aufgeladen.

Literatur

  • E. Lohse, Der Brief an die Römer. Meyers Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 4, Göttingen 2003.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Gleich zu Beginn ein Aufreger! V.12 beginnt „Wir sind nun, Brüder...“ Sensibilisiert durch die Einsichten feministischer und Gender-Diskurse prüfe ich die Übersetzungen von Basis-Bibel und Luther 2017, die einträchtig „Brüder und Schwestern“ und V.14 „Kinder“ Gottes übersetzen. Ich stolpere über die „Brüder“ und „Söhne“ in der Arbeitsübersetzung. Ist das nur eine Kleinigkeit? Kann man den Androzentrismus als einen Charakterzug des Briefeschreibers (‚typisch Paulus halt!‘) relativieren und in der gottesdienstlichen Lesung inklusiv formulieren, wie Paulus selbst V.17 offener „Kinder“/ τέκνα anzudeuten scheint?

Paulus setzt die maskuline Begrifflichkeit V.14 bewusst ein, nicht in (Frauen) exkludierender Intention, sondern weil er vom römischen Rechtskontext aus argumentiert, in dem nur Söhne erbberechtigt sind! Sohnschaft beschreibt hier nicht die emotionale Nähe romantisierter Familienverhältnisse, sondern ein Rechtsverhältnis, in dem es v.a. um Freiheit geht. Wer – auch durch Adoption! –in den Status der Sohnschaft gestellt ist, ist nicht mehr Leibeigener, sondern frei und sogar erbberechtigt. Die Intention des Paulus ist inklusiv, er erweitert das restriktive römische Erbrecht, so dass nicht nur der Erstgeborene erbt, sondern die adoptierten Brüder und schließlich sogar die Kinder mit Christus miterben.

2. Thematische Fokussierung

Das Stolpern schon bei der Übersetzung kann dazu dienen, das bisweilen verniedlichende „Kindchen-Schema“ zu vermeiden (gerade in V.15!) und den Text nicht im Sinne eines Familienideals zu emotionalisieren, sondern geradezu nüchtern juristisch zu lesen als einen Text, der uns Gewissheit, Sicherheit und Verlässlichkeit vermittelt. Dazu tritt V.16 sogar das πνεῦμα selbst in den Zeugenstand und erklärt uns zu Familienmitgliedern, die Christus gleichgestellt sind, im Leiden wie in der Herrlichkeit. Befreit von Verdammnis (V.1), Sterblichkeit (V.13), Vergänglichkeit (V.21), untrennbar befreit zur Liebe Gottes (V.39). Das wie ein roter Faden eingesetzte „syn“ (miterben, mitleiden, mitverherrlicht, V.17) lässt sich in heutiges Neudeutsch übertragen im Sinne von ‚Synergieeffekten‘: Das Miteinander bleibt ja nicht vertikal auf den Vater bezogen, sondern wirkt horizontal auf die Gotteskinder untereinander, die sich in ihrem Stand als Freie und Erbberechtigte auch gegenseitig anerkennen müssen. Bei den Adressaten in der Metropole Rom, an die sich Paulus wendet, handelte es sich mitnichten um eine klassenlose Gesellschaft. Die Statusunterschiede in der Gemeinde, Freie, Rechtlose, Mächtige und Schwache standen allen vor Augen. Der neue Geist, der in der Gemeinde wirkt, befreit aus der Sklaverei von Ungleichheit, Unrecht und Schwäche. Dass dieser Geist wirkt, beschreibt Paulus nicht nur für sich selbst, sondern er setzt es auch bei den Empfängern als gelebte Erfahrung voraus. Die wichtigste Wirkung des Geistes ist die Befähigung zum horizontalen „wir“ (V.16) im gemeinsam nach oben gerufenen Du „αββα, Vater!“

3. Theologische Aktualisierung

Es gehört zur Eigenart paulinischer Texte, dass sich gerade hinter der mitunter sperrigen Argumentation, Sprache und Bildlichkeit tiefe menschliche Erfahrungen verbergen, die auch heutiger Erfahrung zugänglich sind. So ist es hier mit V.16, den Oda Wischmeyer als theologisches Zentrum ausmacht. Der Abba-Ruf verdankt sich nicht einem spekulativen Denken des Paulus am Schreibtisch, sondern der lebendigen Erfahrung, wie er inmitten der Gemeinden feiern und beten konnte. Wie Jesus es lehrte, begannen und beginnen bis heute Christ:innen ihr Gebet mit „Unser Vater…“ Praktisches Beten ist der Ausgangspunkt von Theologie! Was bedeutet es, wenn wir im Gebet Gott gemeinsam als Vater anrufen? In einer Welt, in der Polarisierung, Spaltungen und Identitätspolitik alles Fleisch zu beherrschen scheinen – und dabei kann man an den politischen Raum, den Zustand von Synoden, der Zivilgesellschaft, der Generationen denken – kommt es einem Geist-gewirkten Wunder gleich, dass das erste Wort des Gebets (ob wir es im stillen Kämmerlein, im heutigen Gottesdienst oder bei einem öffentlichen Gedenken sprechen) zu einer inkludierenden Gemeinschaftserfahrung wird. Damit eröffnen sich ganz neue Freiräume! Allein das gebetete „Abba, Vater“ befreit uns aus der Gefangenschaft unserer Machtstrukturen und Distinktionen, wie der Wochenpsalm 146 bildlich beschreibt!

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 1. September wird im bürgerlichen Jahreskalender als Antikriegstag gefeiert, ausgehend vom Gedenken an den Kriegsbeginn vor 85 Jahren am 1. September 1939. Ein Krieg, der als blutiger Kampf um ‚Lebensraum im Osten‘ und mit Rassenhass begründet wurde und zum Weltenkrieg wurde. Die von Paulus erinnerte Praxis des gemeinsamen Betens von Geschwistern und Miterben bringt eine Botschaft wie aus einer anderen Welt, die Streit und Spaltung überwindet. Das gemeinsame Beten und Lobpreisen an diesem Sonntag kann anregen zu einem dankbaren Staunen. Der Geist Gottes schafft es, dass wir einander anerkennen als Erben und Geliebte, Gemeinschaft und Zugang für alle ermöglichen, verbinden statt spalten. Wenn das kein Grund zur Freude ist!

5. Anregungen

Wenn Ihre Kirchengemeinde oder Kommune eine Partnerstadt oder Partnergemeinde in einem anderen europäischen Land hat, könnte eine Grußbotschaft ausgetauscht werden, die erzählt vom Geist, der über alles Trennende hinweg verbindet und Dank ausspricht für die lange Zeitspanne des Friedens auf der Basis von Recht und gegenseitiger Anerkennung.

Autoren

  • Prof. Dr. Dr. Oda Wischmeyer (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Traugott Roser (Praktisch-theologische Resonanzen)

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