Deutsche Bibelgesellschaft

Galater 3,26-29 | 17. Sonntag nach Trinitatis | 22.09.2024

Einführung in den Galaterbrief

Im Corpus Paulinum nimmt der Gal durch den in ihm sich spiegelnden tiefgreifenden Konflikt zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden eine Sonderstellung ein. Zu den nach wie vor intensiv diskutierten Problem- und Fragekomplexen gehören seine Datierung und die Lokalisierung der Empfänger, das theologische Profil der paulini­schen Kontrahenten, der Ausdruck „Werke des Gesetzes“, die Abraham-Thematik.

1. Verfasser und Entstehungsort

Der Brief lässt im Unklaren, wann er geschrieben wurde. Die Schwankungsbreite sei­ner chronologischen Einordnung reicht von 48/49 n.Chr. bis 55/56 n.Chr. Orientiert man sich an Paulus selbst, ist eine Spätdatierung sehr wahrscheinlich.

(a) In 1Kor 16,1 weist er die Korinther an, bei der Kollekte so zu verfahren, wie er es in Galatien „ange­ordnet“ hat. Aufgrund der dort ebenfalls noch ungeregelten Modalitäten kann dies erst vor kurzem geschehen sein, vielleicht während des zweiten Aufenthalts in den Gemein­den (Apg 18,23). Zur Abfassungszeit des 1Kor war ihre Beziehung noch ungetrübt. Wenn Paulus in Gal 2,10 betont, er sei den auf dem Jerusalemer Apostelkonvent einge­gangenen Verpflichtung für die „Armen“ voll und ganz nachgekommen, setzt er die in 2Kor 8f dokumentierten Bemühungen zur Sammlung der Kollekte voraus. Dies lässt da­rauf schließen, dass der Gal später datiert als die korinthische Korrespondenz.

(b) Auf­fällig ist die Nähe zum Röm. Enge Berührungen zeigen sich im Aufbau, an dem in Röm 3,19–4,25 und 8 aufgenommen Gedankengang des Gal und der nur in ihnen entfalteten Rechtfertigungslehre. Ist der Röm im Gal in Grundzügen vorgebildet, kann dessen zeit­licher Abstand nicht groß sein. Da Paulus den Röm Anfang bis Mitte des Jahres 56 n.Chr. während des letzten Korinthbesuchs (Apg 20,2, vgl. Röm 16,1f.23) geschrieben hat, liegt eine Datierung des Gal 55/56 n.Chr. nahe.

2. Adressaten

Als Empfänger kommen Gemein­den in der Landschaft Galatien (Zentralkleinasien/“Anatolien“) oder im provinzgalatischen Süden in Betracht. Aller­dings ist mehr als fraglich, ob die klassische Begründung der sog. Landschaftshypothese leistet, was sie soll. Grade die beiden Argumente, auf die sie sich primär stützt – zum einen die Briefadresse „den Gemeinden der Galatia“ (1,2), zum anderen die vorwurfs­volle Anrede „O ihr unverständigen Galater“ (3,1) –, tragen für sie nichts aus. Denn den antiken Quellen zufolge (Strabon, Plinius d.Ä., Pausanias) waren die Einwohner in den urbanen Zentren Nordgalatiens in paulinischer Zeit keineswegs mehr Galater im eth­nisch definierten Sinn. Gewichtet man die jeweils angeführten Argumente Pro und Contra, erscheint die in der angloamerikanischen Exegese fast unisono vertretene sog. Provinzhypothese auch in ihrer modifizierten Form (Meiser) am plausibelsten.

3. Wichtige Themen

Vieles spricht dafür, dass es sich bei den in Galatien aktiven Fremdmissionaren um toraobservante Judenchristen handelt. Mit ihrer Kritik an Paulus haben sie die Gemein­den überzeugt und für sich gewonnen. In der Briefsituation stehen diese im Begriff, auf die an sie herangetragenen Forderungen einzugehen: Vollzug der Beschneidung (5,2f.6; 6,12f), Einhalten des jüdischen Festkalenders (4,9f) und, wie der Rückblick auf den an­tiochenischen Konflikt (2,11–14) zu erkennen gibt, der Speise- und Reinheitsgebote. Erst wenn sie die rituellen Identitätsmerkmale des Judentums übernehmen, so wurde ih­nen bedeutet, seien sie Abrahams Nachkommen und seine Verheißungserben. Zwar stimmten die Fremdmissionare mit Paulus überein, dass Völkerchristen in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen werden können. Beschneidung und prinzipiell auch To­ra-Gehorsam galten ihnen aber als unabdingbare Voraussetzungen. Ganz offensichtlich verstanden sie das von ihnen propagierte „Evangelium“ (1,6fin) als ein notwendiges Korrektiv zum paulinischen Evangelium, weil es für sie Entscheidendes vermissen ließ. Ihm fehlte die jüdische Signatur. Doch meinten sie wohl, auf der Erstmission aufzubau­en und den aus ihrer Sicht defizitären Heilsstand der Galater im Sinne des in der Tora Gebotenen zu „vollenden“ (3,3). Woher sie kamen, wird nicht gesagt. Die mehrfach an­geschnittene Jerusalem-Thematik (1,17–19; 2,1–10; 4,25, vgl. 2,12) könnte aber darauf hindeuten, dass die paulinischen Opponenten in einer wie immer gearteten Verbindung zur Jerusalemer Gemeinde gestanden haben.

In Gal 2,16 stellt Paulus erstmals den inneren Zusammenhang von Glaube und Recht­fertigung heraus. Damit schreibt er allein dem Glauben zu, was die Fremdmissionare in ihrer doppelt strukturierten Heilskonzeption auch dem Gesetz zuschreiben. Für sie wird der Mensch aus Glauben und aufgrund von „Werken des Gesetzes“ gerechtfertigt. Die Frage, ob der im NT nur im Gal (2,16 [3 mal]; 3,2.5.10) und Röm (3,20.28) begegnende Ausdruck „Werke des Gesetzes“ sich auf Handlungen bezieht, die in Erfüllung der Tora getan werden, oder Vorschriften meint, die in der Tora stehen und befolgt werden sol­len, oder aber die Gesamtheit aller Rechtsforderungen in der Tora bezeichnet, ist sicher nicht pauschal zu beantworten. Für Paulus ist es jedoch völlig unerheblich, ob seine Kontrahenten halachische Rigoristen sind oder sich mit einem Minimalprogramm be­gnügen (vgl. 5,3). Maßgeblich ist vielmehr, dass ihr Beharren auf der prinzipiellen Gül­tigkeit der Tora und damit die Integration des Christus-Glaubens in eine jüdische Iden­tität unvereinbar ist mit dem bereits im Briefeingang zur Sprache gebrachten zentralen Inhalt des Evangeliums: „Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingege­ben hat, um uns herauszureißen aus der gegenwärtigen bösen Weltzeit nach dem Willen Gottes, unseres Vaters“ (1,3f). Auch in ihrem reduzierten Programm sieht Paulus die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14, vgl. 4,16; 5,7) im Kern preisgegeben.

4. Besonderheiten

Gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, dass die im Brief eine dominieren­de Rolle spielende Abraham-Thematik von den Fremdmissionaren eingebracht worden ist. Sie war geeignet, ihre Position zu stärken. Um Kinder Abrahams zu sein und dem auserwählten Gottesvolk anzugehören, müssten sich die Galater wie er und seine männlichen Nachkommen (Gen 17,9–14.23–26; 21,3f) der Beschneidung unterziehen. Paulus entwindet seinen Gegnern dieses Argument, indem er ihnen andere Teile der bi­blischen Abraham-Erzählung entgegenhält (3,6–9). Zunächst verweist er auf Gen 15,6 (LXX): „Es ist wie bei Abraham: ‚Er glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘“, und folgert daraus. „Die aus Glauben – (nur) die sind Abrahams Kinder“ (V.7). Anschließend kombiniert er Gen 12,3 mit 18,18 („In dir werden alle Völker ge­segnet werden“ [V.8]) und zieht das Fazit: „Also werden die aus Glauben mit dem gläu­bigen Abraham gesegnet“ (V.9). Eben darum geht es Paulus in der aktuellen Problem­situation. Mit seinem argumentativen Rückgriff auf die Schrift schärft er den völker­christlichen Galatern ein, dass sie nicht durch die Übernahme der Beschneidung an der Erwählung Abrahams teilhaben, sondern schon aufgrund ihres Glaubens an Jesus Chris­tus, den Nachkommen Abrahams (3,16).

Literatur:

  • Klaiber, W., Der Galaterbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013.
  • Eckstein, H.-J., Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes, Göttingen 2017.
  • Keener, C.S., Galatians. A Commentary, Grand Rapids 2019.
  • Meiser, M., Der Brief des Paulus an die Galater, ThHK 9, Leipzig 2022.

A) Exegese kompakt: Galater 3,26–29

26Πάντες γὰρ υἱοὶ θεοῦ ἐστε διὰ τῆς πίστεως ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ· 27ὅσοι γὰρ εἰς Χριστὸν ἐβαπτίσθητε, Χριστὸν ἐνεδύσασθε. 28οὐκ ἔνι Ἰουδαῖος οὐδὲ Ἕλλην, οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος, οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ· πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. 29εἰ δὲ ὑμεῖς Χριστοῦ, ἄρα τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα ἐστέ, κατ’ ἐπαγγελίαν κληρονόμοι.

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Übersetzung

26 Denn alle seid ihr Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.

27 Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.

28 Da gibt es nicht Jude noch Grieche, es gibt nicht Sklave noch Freier, es gibt nicht männlich und weiblich; denn alle seid ihr Einer in Christus Jesus.

29 Gehört ihr aber Christus, so seid ihr folglich Abrahams Nachkomme, Erben gemäß der Verheißung.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.26 Wörtlich „Söhne“ Gottes.

V.28 οὐκ ἔνι = οὐκ ἔνεστιν „es gibt nicht“.

V.29 Χριστοῦ, hier prädikativ gebraucht, ist ein Gen. possessivus. Das Konditionalgefüge εἰ δὲ ὑμεῖς Χριστοῦ ist ein Realis, da für Paulus die Bedingung als erfüllt gilt. Deshalb hat εἰ fast den Sinn von „weil“, „da“.

2. Einordnung in den Kontext

Engerer Kontext des Abschnitts 3,36–29 ist der argumentative Hauptteil 3,1–5,12, näherhin der erste Beweisgang (3,1–4,7), in dem Paulus den rechtfertigungs-theologischen Basissatz von 2,16 schrittweise inhaltlich entfaltet und präzisiert. 3,6–14 beantwortet die auf die beiden rhetorischen Fragen 3,2b.5b zugespitzte Alternative in zwei Anläufen (V.6–9.10–14) und folgert daraus: Nicht die ἐξ ἔργων νόμου, sondern nur die aus Glauben leben sind Kinder Abrahams. 3,15–18 thematisiert das Verhältnis des Nomos zur Verheißung und erläutert die aus der Schriftexegese (3,6–9) sich ergebende Prävalenz der Verheißung (3,10–12). Auf die nun unvermeidliche Frage, was es denn mit dem Nomos auf sich habe (V.19a), geht Paulus in V.19b–22 ein, um dann die dem Gesetz zugeschriebene Funktion zu klären (V.23–25): Bevor der Glaube offenbar wurde, hat es uns bewacht und eingekerkert bis zum Kommen des Christus, damit wir, Juden und Nichtjuden, aufgrund des Glaubens gerechtfertigt würden, so dass wir als Glaubende nicht mehr unter dem Gesetz sind. 4,1–7 nimmt den Begriff der „Erben“ in 3,29 leitmotivisch auf und illustriert am Beispiel des Erb- und Vormundschaftsrechts das „Wie“ der Befreiung in Christus.

3. Leitfaden der Interpretation

Gleich zu Beginn wechselt der bruchlos an 3,23–25 sich anschließende Unterabschnitt 3,26–29 von der 1. Pers. Plur. in die 2. Pers. Plur., wodurch sich V.26 formal als Begründung („denn“) der Schlussfolgerung von V.25 zu erkennen gibt. Die direkte Anrede der Briefadressaten und das betont vorangestellte πάντες unterstreichen nachdrücklich, dass die Feststellung: „Wir sind nicht mehr unter dem Gesetz“ (V.25) allen an Christus Glaubenden gilt, völlig unabhängig davon, ob sie geborene Juden oder paganer Herkunft sind. Sie haben nun einen Status, der exklusiv ihnen zuerkannt wird. Sie sind Söhne und Töchter Gottes.

V.27 knüpft an das „in Christus Jesus“ und an die Aussage von V.26 insgesamt an und begründet, warum alle christusgläubigen Galater sich als Kinder Gottes verstehen dürfen. Mit der Formulierung „auf Christus getauft werden“ ist nicht gemeint, dass die Getauften durch ihre Taufe am pneumatischen Christus teilhaben, sondern um Jesu Christi willen getauft werden. Wenn Paulus anschließend von „Christus anziehen“, also vom „Anziehen“ einer Person spricht, umschreibt er metaphorisch den Vorgang und die Wirkung der Taufe. Er bringt damit nicht weniger zum Ausdruck, als dass die Identität der Getauften durch Christus bestimmt ist und ihr Selbst nicht mehr ihnen, sondern Christus gehört.

Die mit der Taufe erfolgte Zäsur im biographischen Kontinuum hat ekklesiologische Konsequenzen (V.28). Sie stiftet eine Einheit, durch die alle Unterschiede, die zwischen den Getauften bestehen, seien es ethnische, soziale oder geschlechtliche, ἐν Χριστῷ überholt sind und im Binnenraum der Ekklesia keinerlei Bedeutung haben. Vermutlich greift Paulus hier auf eine Tradition zurück, die aus der antiochenischen Gemeinde stammt, und bindet sie in seine Argumentation ein. Er bestreitet natürlich nicht, dass es diese Unterschiede nach wie vor gibt. Für die Getauften sind sie jedoch irrelevant, weil die Taufe als Taufe „auf Christus“ sie mit anderen Getauften in eine neue, durch Jesus Christus konstituierte und bestimmte Gemeinschaft eingliedert. Damit stellt die Taufe innerhalb der Wirklichkeit Gottes eine Zusammengehörigkeit her, die es ohne sie nicht gäbe. Paulus bringt diesen Sachverhalt so zum Ausdruck, dass „in Jesus Christus“ alle Getauften „einer“ (Maskulinum!) sind – nämlich Jesus Christus selbst. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Identitätsaussage, sondern analog zur Leib-Metapher um metonymische Redeweise. Man könnte deshalb von den Getauften als eine Art Gesamtpersönlichkeit in Christus sprechen oder davon, dass sie als solche nur noch Glieder Christi sind. Die vertikale Dimension der Christusgemeinschaft ist mit der horizontalen Ebene verschränkt und spiegelt sich in ihr wider. Beide Aspekte sind aufgrund ihres komplementären Zuordnungsverhältnisses nicht nur aufeinander bezogen, sondern bedingen sich wechselseitig und bilden eine untrennbare Einheit. Der letzte Vers (V.29) zieht das Fazit aus den in 3,6–28 vorgetragenen Argumenten. Paulus lässt die beschneidungswilligen Galater wissen, was für sie auch ohne Beschneidung jetzt schon unverbrüchlich gilt: Als auf Christus, den Nachkommen Abrahams (3,16) Getaufte haben sie Anteil an der dem Erzvater zugesprochenen Verheißung (3,6–9.14.18) und sind damit seine legitimen Erben.

4. Theologische Perspektivierung

Für Paulus ist Glaube seinem Wesen nach Christusglaube und als solcher auf Jesus Christus bezogen. Gleiches gilt für das Taufgeschehen. In ihm ist Christus allein bzw. Gott allein handelndes Subjekt. Von Seiten der Getauften ist die Taufe reines Widerfahrnis. Sie werden getauft (Röm 6,3; 1Kor 1,13.15; 12,13; Gal 3,27). Nirgends denkt Paulus erkennbar darüber nach, wie Glaube und Taufe sich zueinander verhalten, ob Glaube ohne Taufe möglich ist oder die Taufe ohne den Glauben wirkungslos bleibt. Dass ihr im NT der Glaube zeitlich vorausgeht, entspricht der frühchristlichen Missionssituation. Dass aber die Taufe den Glauben sachlich und darum zwingend zur Voraussetzung hat, ist theologisch nicht begründbar. Eine auf den Namen Jesu Christi vollzogene Taufe wird nicht erst durch den Glauben gültig und wirksam gemacht, sondern ist in sich gültig und wirksam. Daran ändert auch ein abhandengekommener Glaube nichts. Weder ist die Taufe für den Glauben noch der Glaube für die Taufe konstitutiv. Vielmehr vermittelt sie den Getauften die feste Gewissheit, zu Jesus Christus zu gehören. Freilich kann es unterschiedliche Formen christlicher Taufpraxis geben, wobei völlig unerheblich ist, ob es sich um die Taufe eines Erwachsenen, eines Säuglings oder eines Kindes im fortgeschrittenen Alter handelt. Jenseits dieser theologisch letztlich belanglosen Alternative muss trotz oder gerade wegen der pluralen Möglichkeiten ihrer rituellen Ausgestaltung nur eines deutlich werden: Die Taufe ist als eine Weise der Heilsverkündigung zu verstehen, weil sie das Prae der Gnade Gottes vor allen menschlichen Aktionen und Leistungen bezeugt. In der Predigt zu Gal 3,26–29 legt es sich nahe, die gottesdienstliche Gemeinde an diesen zentralen Aspekt der Taufe zu erinnern.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die exegetischen Überlegungen ordnen den Abschnitt konsequent in den Zusammenhang des Streits zwischen Paulus und Petrus in Antiochien ein. Dieser drehte sich um die Frage, inwieweit sich auch die Heidenchristen an die Vorschriften der Tora (bes. Speisegebote und Bescheidung) halten müssen. Zu diesen Fragen haben heutige Predigthörer:innen aber einen deutlichen Abstand.

Andererseits wird der Abschnitt vom Kontext der Entfaltung der paulinischen Rechtfertigungslehre her interpretiert. Für die Predigt ist sehr bewusst zu reflektieren, wie welche Aspekte des Textes aktualisiert werden können.

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese regt dazu an, in der Predigt die Fragen nach Identität, Pluralität und Einheit weiter zu verfolgen.

Hilfreich ist hierzu der exegetische Hinweis, wie Paulus biographische und ekklesiologische Aspekte miteinander verbindet: Durch die Taufe wird meine eigene Identität von Christus her neu bestimmt. Zugleich werde ich mit der Taufe aber auch Teil einer neuen Gemeinschaft, der Kirche. In dieser neuen Gemeinschaft werden die vorhandenen Unterschiede aber nicht einfach nivelliert, vielmehr werden jenseits aller Unterschiede eine neue Identität und eine neue Gemeinschaft gestiftet (signalisiert durch das „εἷς“). Begründet werden die neue Identität und die neue Gemeinschaft von Gott her; bestimmt werden beide durch den Glauben an Christus.

Der Glaube an Christus ist das erneuernde und zugleich alle Einzelne verbindende Moment. Umgekehrt formuliert: Durch den Glauben verstehe ich mich selbst und die andern neu, nämlich als von Christus geprägte Einheit. Und die Taufe – bildlich gefasst in der Metapher vom „Anziehen Christi“ – ist für Paulus dabei das sichtbare gemeinsame Zeichen der (gefährdeten) Gemeinschaft: Alle sind getauft – trotz aller Unterschiede und (Glaubens-)Differenzen.

V. 29 ließe sich vielleicht sogar als universale Ausweitung des Gedankens der neuen Gemeinschaft lesen. Denn mit V. 8f. besteht die Verheißung gerade darin „ein Segen für alle Völker“ zu werden.

3. Theologische Aktualisierung

Brennender als das Thema „Einheit der Christen“ dürfte für die meisten Predigthörer:innen zum einen die Frage nach der eigenen Identität angesichts einer stetig wachsenden Pluralisierung von Lebensentwürfen und zum anderen die Frage nach dem Zusammenhalten der Gesellschaft und der globalen Weltgemeinschaft insgesamt sein. Denn obwohl die anstehenden Probleme (z.B. Klimawandel) eigentlich nur gemeinsam gelöst werden können, nehmen viele momentan eher eine Spaltung der Gesellschaft und ein Durchsetzen von Eigeninteressen wahr. Dabei stehen sich dann die partikularen Gruppen mit ihren Anschauungen und Interessen unversöhnlich gegenüber. Pluralität und der bzw. die „andere“ wird dann von vielen mehr als Bedrohung und Verunsicherung denn als Bereicherung wahrgenommen.

Demgegenüber entwirft Paulus eine Gemeinschaft, die Unterschiede (und Spannungen) gerade nicht negiert, sondern transzendiert. Dies geschieht durch den Rückbezug auf das Gemeinsame der Taufe und den glaubenden Rückbezug auf Christus. – Nach heutigem (nicht paulinischem) Sprachgebrauch hätten zudem alle Menschen gemeinsam, dass sie „Kinder Gottes“ (V. 26) sind. – In dieser neuen Gemeinschaft sind Christen und Christinnen zugleich Vorhut einer verheißenen universalen Segensgemeinschaft (V. 8f. und 29).

Hier könnte eine Predigt ansetzen und dem nachgehen:

  • was eine christliche Identität und vor allem eine christliche Gemeinschaft (und Gemeinde) jenseits aller Differenzen ausmacht;
  • was konkret der Rückbezug auf Christus bzw. das Bestimmtsein von Christus her („ihr habt Christus angezogen“) bedeutet (hier könnte man über Paulus hinaus durchaus auch auf Geschichten aus den Evangelien eingehen)
  • und wie christliche Gemeinschaft gerade dadurch zu einer Vorreiterin einer universalen Segensgemeinschaft werden kann.
  • In einem ganz weiten Bogen könnte man daran sogar auch Überlegungen zu einem universalen Ethos der Kinder Gottes anschließen.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 17. Sonntag nach Trinitatis rückt den Glauben, der die Welt überwunden hat (Wochenspruch: 1. Joh 5,4) in den Mittelpunkt. Gal 3 schließt sich dem an und thematisiert, wie der Glaube die Spaltungen zwischen den Menschen überwindet und so Neues entsteht.

Das Besondere des Predigttextes Gal 3 ist zudem der Rückbezug auf die Taufe. Damit bietet es sich an, im Gottesdienst eine Taufe oder Tauferinnerung zu feiern und diesen identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Bezug sinnenfällig zu machen. Eine andere Blickrichtung wäre die (durch den gemeinsamen Glauben und die Taufe konstituierte) ökumenische Gemeinschaft oder auch Partnerschaften, die viele Gemeinden unterhalten. Diese ließe sich an vielen Stellen der Liturgie (Lieder, Fürbitte etc.) fruchtbar machen.

5. Anregungen

Für die Predigt bieten sich mehrere Ansatzpunkte an:

  • Entweder kann sie historisch ansetzen und beim Streit in Galatien beginnen, um diesen dann mit heutigen Fragen der Identität und der Gemeinschaft zu verbinden oder sie kann bei letzterem ansetzen und diese mit den damaligen Streitigkeiten und der Antwort des Paulus kontrastieren.
  • Die Predigt könnte aber auch direkt bei der Taufe ansetzen, insbesondere wenn eine Taufe im Gottesdienst gefeiert wird (s.o.).
  • Schließlich ließe sich auch mit der Metapher vom „Anziehen Christi“ in der Taufe spielen. Mit dem Kleiderthema lässt sich leicht die Frage nach der eigenen Identität verbinden – nach dem Motto: Kleider machen Leute… (Was ziehe ich an: bei der Arbeit, privat, im Fußballstadion? Und wer bin ich dann? Wie schafft ein gemeinsamer Dresscode Identität? etc.)

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dieter Sänger (Einführung und Exegese)
  • Dr. Claus Müller (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500062

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