Deutsche Bibelgesellschaft

Römer 3,21-28 | Gedenktag der Reformation (Reformationsfest) | 31.10.2024

Einführung in den Römerbrief

1. Verfasser

Paulus diktierte dem Sekretär Tertius den Brief (vgl. 1,1 und 16,22: eigener Gruß des Tertius; keine Mitverfasser).

Paulus befindet sich an einem entscheidenden Punkt seiner langjährigen Missionsarbeit: Er will im Westen des Imperiums missionieren und plant eine Reise nach Spanien. Im Zusammenhang dieser Reise zu neuen potenziellen Missionsgebieten stellt er sich den römischen Christus-Gläubigen brieflich als Apostel der Nichtjuden vor und kündigt einen Aufenthalt in Rom an, bei dem er die römischen Christus-gläubigen Gemeindeglieder an seiner Evangeliumsverkündigung teilhaben lassen will. Außerdem hofft er auf Unterstützung bei seinen Reiseplänen. Zuvor will er aber die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, die die kleinasiatischen und griechischen Gemeinden aufgebracht haben, persönlich nach Jerusalem bringen, so dass sich sein Rombesuch noch verzögern wird.

2. Adressaten

Paulus schrieb den Brief an die „Berufenen Jesu Christi“, an „alle Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen“ in Rom (1,6f.).

Er spricht die Christus-gläubigen Adressaten nicht als „Gemeinde“ an (so in 1Kor 1,2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ). Die Exegeten schließen daraus, dass es in Rom in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden – oft als Hausgemeinden oder auch als „Gemeinden in römischen Mietblocks“ bezeichnet – gegeben habe. Wichtig ist,

  • dass es sich bei den Adressaten nicht um Mitglieder einer paulinischen Gemeindegründung handelt,
  • dass die Christus-gläubigen Römerinnen und Römer ganz überwiegend sogenannte Heidenchristen waren, d.h. nicht zum „Volk Israel“ gehörten,
  • dass sie nur zu einem kleinen Teil Paulus persönlich bekannt waren (vgl. die Grußliste in Kap. 16), so dass der Römerbrief an eine wenig homogene, Paulus überwiegend unbekannte und ihm nicht verpflichtete Leserschaft gerichtet ist (Wischmeyer, Römerbrief, 445-447).

Daraus erklärt sich der sehr sachlich-theologische Gesamtduktus, der auch den ethischen Teil B des Briefes (Röm 12-14) bestimmt.

3. Entstehungsort und Entstehungszeit

Paulus schreibt nach Rom wohl im Jahr 56 aus Korinth (Röm 16,23; 1Kor 1,14; Apg 20,4).

4. Wichtige Themen

„Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mission des Paulus“ (Wischmeyer, Römerbrief, 429).

Besonders wichtig ist die Auslegungsgeschichte des Röm. Keine Exegese kann ohne eine Reflexion auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegungsgeschichte des Briefes auskommen. Der Röm war seit Erasmus und den Reformatoren – vor allem Luther, Melanchthon und Calvin – der Grundtext reformatorischer Theologie. Die „Rechtfertigungslehre“ entwickelte Luther maßgeblich aus seiner Lektüre des Galater- und Römerbriefes und seiner Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ vom Genitivus objectivus her: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt bzw. Bestand hat, d.h. die Gerechtigkeit, die nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern aus dem Glauben kommt. Damit wurde Röm zugleich zum bleibenden Streitobjekt zwischen reformatorisch-protestantischer und katholischer Auslegung. Neuerdings muss die Christologie des Röm, die das Heil an den Glauben an Christus bindet, in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetzesverständnis neu diskutiert werden.

5. Aktuelle Fragen

Besonderes Interesse gilt in den letzten Jahren der religiös-ethnischen Identität des Paulus und einer damit verbundenen Distanzierung besonders von der christlich-theologischen Römerbriefinterpretation von Luther bis zu Barth und Bultmann. Wieweit ist Paulus auch nach seiner Beauftragung durch den erhöhten Christus (Gal 1,1.15) Jude (Röm 9,1-5) und Pharisäer (so Paula Fredriksen) geblieben? Diese Frage ist nicht nur für die Paulusinterpretation, sondern auch für die Rekonstruktion der Anfänge der christlichen Kirche von bleibender Bedeutung und wird exegetisch neu justiert werden müssen.

6. Besonderheiten

Röm ist der umfangreichste und thematisch anspruchsvollste Brief des Paulus. In mehreren ausführlichen thematisch zentrierten Textabschnitten behandelt Paulus entscheidende Themen seiner Missionsverkündigung:

Teil A In 1,16-11,36 legt er in mehreren Schritten sein „Evangelium“ dar, das „Juden und Nichtjuden (1,16) gilt.

  • In Kap. 1,17-4,25 entfaltet er die Heilswirkung des Evangeliums vor dem Hintergrund der Ungerechtigkeit von Nichtjuden wie Juden. 3,21-31 ist das christologische Herzstück dieser Heilsbotschaft.
  • In Kap. 5-8 entwickelt Paulus dann Einzelaspekte seiner Christologie.
  • Kap. 9-11 ist ein eigener thematischer Traktat zum Verhältnis von Nichtjuden und Juden, der mit der Perspektive der Errettung von Nichtjuden wie Juden schließt und damit auch das Thema von 1,16 zum Abschluss bringt (11,26).

Teil B Von 12,1-15,13 stellt Paulus in einer reich gegliederten Paraklese (ermahnende Darlegung der Verhaltensformen in den Christus-gläubigen Gemeinden) Grundelemente gemeindlichen Verhaltens dar (darin: 13,1-7 zur „Obrigkeit“; 13,8-10 Liebe als Gesetzeserfüllung; Kap. 14 Starke und Schwache in der Gemeinde).

15,14-33 gelten der aktuellen Planung, Kap. 16 enthält ausführliche Grüße.

Literatur:

  • Fredriksen, P.: Paul, the Perfectly Righteous Pharisee, in: The Pharisees, hg. J. Sievers and A.-J. Levine, Eerdmans 2021.
  • Kleffmann, T.: Der Römerbrief des Paulus, Tübingen 2022 (theologisch-systematische Kommentierung des Röm).
  • Wischmeyer, O. / Becker, E.-M. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 32021; darin. Wischmeyer, O., Römerbrief, 429-469. Dort S. 468f. weiter kurz kommentierte Literatur.
  • Wolter, M.: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8. EKKNF VI/1, Neukirchen-Vluyn 2014. Teilband 2: Röm 9-16. EKKVI/2, Neukirchen-Vluyn 2019.

A) Exegese kompakt: Römer 3,21-28

Vorbemerkungen: (1) Der Perikopenzuschnitt ist unglücklich: Röm 3,21-31 bilden eine argumentative Einheit und sollten im Ganzen interpretiert werden. Zum besseren Verständnis des hochkomplexen Predigttextes werden daher die Anschlussverse V.29-31 mit übersetzt, aber nicht ausführlich exegesiert. (2) Da es sich hier um den Kerntext der Theologie des Paulus handelt, wird die Textanalyse ausführlicher als sonst üblich ausfallen müssen. Dabei sind Fragen von Grammatik, Syntax, Semantik und Argumentation besonders wichtig: Luther hat nicht umsonst Jahre seines Lebens über die Genitivverbindung δικαιοσύνη θεοῦ nachgedacht. Das exegetische Verständnis bzw. die exegetische Interpretation sind hier nicht schnell zu haben.

Auffallend ist die dreifache Korrespondenz von διά und ἐν. Für διά kann ἐκ eintreten. διά wird überwiegend instrumental gebraucht, ἐν mehrfach temporal, εἰς und πρός final oder intentional.

Die zentrale These in V.26 und die Wiederholung in V.28 sind in der Übersetzung hervorgehoben. In 3,27-31 findet sich ein kurzes Lehrgespräch über mit der These (propositio V.26) verbundene Fragen und bestätigender Wiederholung der propositio generalis (1,16f.). Deshalb wird bei diesen Verse in der Übersetzung die Dialogform angedeutet.

21Νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν, 22δικαιοσύνη δὲ θεοῦ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας. οὐ γάρ ἐστιν διαστολή, 23πάντες γὰρ ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ 24δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ· 25ὃν προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριον διὰ [τῆς] πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων 26ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ, πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ ἐν τῷ νῦν καιρῷ, εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ.

27Ποῦ οὖν ἡ καύχησις; ἐξεκλείσθη. διὰ ποίου νόμου; τῶν ἔργων; οὐχί, ἀλλὰ διὰ νόμου πίστεως. 28λογιζόμεθα γὰρ δικαιοῦσθαι πίστει ἄνθρωπον χωρὶς ἔργων νόμου. 29ἢ Ἰουδαίων ὁ θεὸς μόνον; οὐχὶ καὶ ἐθνῶν; ναὶ καὶ ἐθνῶν, 30εἴπερ εἷς ὁ θεὸς ὃς δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως. 31νόμον οὖν καταργοῦμεν διὰ τῆς πίστεως; μὴ γένοιτο· ἀλλὰ νόμον ἱστάνομεν.

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Übersetzung

21 Nun aber ist ohne das Gesetz die Gerechtigkeit Gottes (zugleich: die vor Gott gilt) offenbar geworden, bezeugt vom Gesetz und von den Propheten, 22 die Gerechtigkeit Gottes aber durch den Glauben Jesu Christi (= an Jesus Christus) für alle, die glauben. Denn es ist kein Unterschied: 23 Alle nämlich haben gesündigt und mangeln des Ruhmes vor Gott, 24 gerecht gesprochen geschenkweise (unverdientermaßen) von seiner Gnade durch die Erlösung in Christus Jesus, 25 den Gott öffentlich hingestellt hat als Sühnemittel durch den Glauben in seinem Blut zum Aufweis seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der vorangegangenen Sünden 26 in der Zeit der göttlichen Nachsicht zum Aufweis seiner Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, damit er gerecht sei und den gerecht mache, der aus dem Glauben Jesu (= an Jesus) ist.

27 Wo ist nun das Rühmen? - Es ist ausgeschlossen.

Durch welches Gesetz? Das der Werke? - Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.

28 Wir nehmen nämlich an (= urteilen), dass der Mensch aus Glauben gerechtfertigt werde ohne Taten des Gesetzes.

29 Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Nicht auch der Nichtjuden? - Ja, auch der Nichtjuden, 30 so gewiss Gott der Eine ist, der gerecht sprechen wird die Beschneidung aus Glauben und die Unbeschnittenheit durch den Glauben.

31 Vernichten wir nun das Gesetz durch den Glauben? - Auf keinen Fall. Sondern wir richten das Gesetz auf.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Wie sind die Genitive aufzulösen?

V.21 δικαιοσύνη θεοῦ: Genitivus subjectivus (die Gerechtigkeit Gottes: „Gott ist gerecht“) oder objectivus (die Gerechtigkeit gegenüber Gott: „Gott macht gerecht / hält für gerecht / spricht gerecht“.) Beide Aspekte sind in dem Genitiv enthalten: V.26 (εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν [Gott] δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν [der glaubende Mensch] ἐκ πίστεως Ἰησοῦ).

V.22 πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ: Genitivus objectivus (hier geht es nicht um Jesu eigenes Gottvertrauen, sondern um das Vertrauen des Menschen auf Jesu Rettungskraft).

V.25 ἱλαστήριον = Sühnopfer. ὃν προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριον: Bauer Wörterbuch 1446, „als Sühnopfer hingestellt hat“ oder: „geopfert hat“.

V.26 πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ: wieder doppelte Genitivrichtung: subj+obj.

V.30 εἴπερ: so gewiss (Bauer Wörterbuch 444). δικαιώσει = rechtfertigen wird.

2. Literarische Gestaltung und Kontext

V.28 ist das briefkommunikative Zentrum des Abschnitts: „Wir urteilen“. Paulus schreibt an die römische Gemeinde im abstrakten Nominalstil (Vielzahl präpositionaler Nominalverbindungen) und als Lehrer im autoritativen Plural: „Wir“ – dabei hat wahrscheinlich kein anderer Apostel theologisch so wie Paulus argumentiert. Er argumentiert mit einer konzentrierten theologischen Begriffssprache, die er in das entstehende Christentum einführt, und entwickelt sein zentrales theologisch-christologisches Argument mit dem Höhepunkt in V.26b. Konkretionen oder Anknüpfungen an die „Lebenswelt“ der römischen Adressaten sind hier nicht zu finden (siehe aber vorher, besonders in Kapitel 1 zu sexuellen Praktiken und „heidnischer Religion“ sowie Kapitel 2 zur Doppelmoral jüdischer Lehrer). Im vorliegenden Text geht es ausschließlich um das theologische Urteil von V.26: Die Menschen werden durch den Glauben an Jesus Christus „gerecht“. Damit sind zunächst die römischen Adressaten angesprochen. Zugleich aber wird dieses Urteil auf der Basis der Deutung der Heilsgeschichte gefällt und gilt explizit für die gesamte Menschheit. In V.27-31 wendet sich Paulus in besonderer Weise an das theologische Urteilsvermögen der Adressaten: Er formuliert vier Fragen - zwei davon sind Doppelfragen -, die im Zusammenhang mit seiner propositio generalis von 1,16f. auftauchen und so oder ähnlich auch von Gegnern des Paulus gestellt wurden, und beantwortet sie jeweils kurz.

3. Kontext und Exegese: Was steht wie im Text?

Was? Unser Text steht am Ende der großen Ausführung des Paulus zu Gottes Gerechtigkeit in Röm 1-3. Paulus zieht hier das Fazit seiner Ausführungen zum Generalthema (die propositio generalis) des Römerbriefes: „Gerechtigkeit Gottes“ von 1,16f. Vorausgesetzt ist, dass Gott gerecht ist, die Gerechtigkeit garantiert und sie von den Menschen erwartet und fordert. In dieser Klarheit zeichnet Paulus den Rahmen seiner Theologie nur hier im Römerbrief. In Kapitel 1,18ff. führt er aus, dass die Nichtjuden ungerecht und vor Gott des Todes schuldig sind. Kapitel 2 vertieft das Urteil anthropologisch und wendet es dann – erstaunlicherweise – auch auf Juden an. Das führt zu der Frage in 3,1: „Was ist nun der Vorzug der Juden oder der Nutzen der Beschneidung?“ Es geht in Kap. 3 also um das Verhältnis von Juden und Nichtjuden (den sogenannten „Völkern“ oder „Heiden“) vor Gott. Paulus bearbeitet die Frage in Kap. 3 in drei Argumentationsgängen, deren beide letzte den Text der Perikope bilden.

Wie? 3,1-8 Literarisch fingiertes Schul-Lehrgespräch über die Frage: Was ist der Vorzug des Juden? Was ist der Nutzen der Beschneidung? Resultat: die Juden haben „die Worte Gottes“. Aber die Beschneidung nützt nur, wenn das Gesetz gehalten wird.

3,9-20 Fazit der Argumentation mit Schriftbeweis: die Gerichtsrede schließt mit dem Urteil „schuldig“ (3,19, Wiederholung von 1,31). Juden und Griechen sind alle unter der Sünde.

3,21-26 Ausführliche Wiederholung der propositio generalis von 1,16f. mit christologischer Interpretation. Ergebnis: „Der Mensch“ wird vor Gott gerecht aus Glauben ohne Werke des Gesetzes. Wodurch? Durch die Erlösung durch Jesus Christus. Diese christologische Interpretation mit ihrem Zentrum im Hilasterion-Begriff stellt das proprium unserer Perikope dar.

3,27-31 Kurzes Lehrgespräch über mit der propositio verbundene Fragen und bestätigender Wiederholung der propositio generalis.

4. Schwerpunkte der Interpretation: Wie lassen sich die Ausführungen verstehen?

(a) Überblick über die Argumentation:

3,21-31 enthält eine dichte theologisch-christologische Argumentation und ist dementsprechend zu analysieren. Der Text ist zweigeteilt: 3,21-26 und 27-31. Das Kernstück V.21-26 ist folgendermaßen aufgebaut:

  • V.21f. propositio,
  • V.22b.23 Auswertung für das Thema „Juden und Nichtjuden“,
  • V.24-26 Christologie.
  • V.27-31: weitere Klärung in Form von vier Fragen-Antworten.

(b) Versexegese:

VV.3,21f. greift Paulus auf die propositiogeneralis von 1,17 zurück. Beide Texte müssen verglichen werden. Fünf Veränderungen gegenüber 1,17 fallen in 3,21f. auf und zeigen den gedanklichen Fortschritt:

  • In Kap. 3 erwähnt Paulus nicht das Evangelium und seine Evangeliumsverkündigung, sondern
  • Christus.
  • Das Offenbarungsverb erscheint in Kap. 3 im Perfekt. Es geht jetzt nicht mehr nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart: In V.21 führt Paulus bereits indirekt die heilsgeschichtliche Perspektive ein, die er in V. 26 auf die aktuelle Gegenwart zuspitzt: ἐν τῷ νῦν καιρῷ. D.h.: die Erlösung durch Christus bezieht sich auf Vergangenheit und Gegenwart!
  • Die Gerechtigkeitsdefinition wird statt mit dem Habakukzitat mit der allgemeinen Gesetzesthematik verbunden:
  • Die zugespitzte Präzisierung „ohne das Gesetz“ fehlt noch in 1,16f.

1,17
 
δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται (Gerechtigkeitsthematik)
 
 
 
ἐκ πίστεως εἰς πίστιν (Bedeutung des Glaubens),
καθὼς γέγραπται· ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται (Verweis auf die Schrift).

3,21–22
Νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου
δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται (Gerechtigkeitsthematik)
μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν (Verweis auf die Schrift),
22 δικαιοσύνη δὲ θεοῦ
διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύ-οντας (Bedeutung des Glaubens)

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VV.23f.: die Einfügung von Christus in die propositio zieht erstens den Hinweis auf die Annullierung von Heilsvorteilen der Juden nach sich (V.23f.), zweitens eine sühnopferchristologische Vertiefung, die Paulus unter Verwendung des Hilasterion-Begriffs unterlegt.

VV.25f.: dieses Textstück, das christologische Herzstück der Perikope, weist besondere Eigenarten in Syntax, Begrifflichkeit und theologischer Aussage auf, die in der älteren Forschung immer wieder mit einem „Traditionsstück“ erklärt wurden. Michael Wolter weist jetzt zurecht die Möglichkeit, ein vorpaulinisches Stück rekonstruieren zu wollen, zurück und formuliert pragmatisch (Kommentar 244ff.): „Man wird sich… mit der Annahme begnügen müssen, dass Paulus in Röm 3,24-25 Deutungen des Todes Jesu wiedergibt, die in der frühen Christenheit schon vor oder auch neben ihm verbreitet waren“ (246). Für das Verständnis von VV.25f. sind vertiefte Erklärungen zur Textlogik (c) und zum Hilasterion (d) hilfreich.

c) Textlogik:

Auslöser ist die christologische These in V.24: Christus schafft Erlösung:

διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐνΧριστῷ Ἰησοῦ.

Es folgt die sühnetheologisch-christologische Interpretationsformulierung, die auf Lev 16 rückverweisen kann und möglicherweise auf einer bereits geprägten Wendung beruht (s.u.):

V.25 ὃν προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριονδιὰ [τῆς] πίστεως (auf jeden Fall paulinischer kommentierender Zusatz) ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι

Es folgt die erste paulinische Erklärung und Zuspitzung auf das Thema Gottesgerechtigkeit mit heilsgeschichtlicher Perspektive (intentional-funktionales εἰς: Vergangenheitsbezug):

 εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων

V.26 ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ

Es folgt die zweite paulinische Erklärung und Zuspitzung auf das Thema Gottesgerechtigkeit mit heilsgeschichtlicher Neuorientierung (intentional-funktionales πρός und πρός: Gegenwartsbezug):

πρόςτὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦἐν τῷ νῦν καιρῷ εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ. Hier liegt ein pln. Kommentar (leichte Abwandlungen zu V.25) mit neuer Zeitbestimmung und der Schlusspointe vor, die die paulinische Vorstellung von der christologisch begründeten Glaubensgerechtigkeit noch einmal formuliert.

V.27: erste (von vier) Frage, die das christologische sog. „Traditionsstück“ mit der paulinischen Gesetzesthematik verbindet. Die Antwort enthält die Wiederholung der These:

V.28 λογιζόμεθα γὰρ δικαιοῦσθαι πίστει ἄνθρωπον χωρὶς ἔργων νόμου.

d) ἱλαστήριον

In Röm 3,25f. ist ein kultisch-rituelles Geschehen (Blut als Mittel der Entsühnung, Lev 16 und anderswo) vorgestellt, das mit Erlösung (τῆς ἀπολυτρώσεως: Röm 3,24; 8,23; 1Kor 1,30) verbunden ist. Der Begriff „Sühne“ selbst begegnet in Röm 3 nicht. Doch wie geschieht diese Erlösung? In der Forschung werden seit mehr als 100 Jahren vor allem folgende Deutungen des ἱλαστήριον als „Sühnopferplatte“ (im NT nur noch Hebr 9,5) - eines ganz überwiegend in den biblischen oder jüdischen (zur Zusammenstellung der antiken Textbelege: Wolter, 256ff.) Schriften verwendeten Begriffs – diskutiert:

(a) E. Lohse, 134-136: Sühnopfergedanke (4 Makk 17,21f.) mit kultischer Valenz. Der Tod des Gerechten leistet Ersatz für die Sünde des Volkes. Im Unterschied zur Rettung, die in Lev 16 ein Tieropfer oder in 4Makk der Tod der Märytrer leistet, ist jedoch „Christi Tod ein für allemal geschehen, weil Gott selbst ihn hingab als Sühnopfer“ (E. Lohse, 135). Ähnlich spricht auch E. Käsemann von einer „Sühnegabe“ (91), ohne sich jedoch auf den martyrologischen Traditionszusammenhang festzulegen.

(b) Das ἱλαστήριον bedeutet die kapporet כַּפֹּרֶת (Lev 16,14) – vgl. K. Barth, 86; U. Wilckens, 193; J.A. Fitzmyer, 349f. Damit wäre – unter Anspielung auf die Deckplatte der Bundeslade bzw. deren Aufsatz – die „versöhnende, vergebende Gegenwart Gottes“ gemeint (a.a.O., 89), wie sie am großen Versöhnungstag stellvertretend durch den Hohepriester durch das Opfer im Allerheiligsten vollzogen wird. Diese Bedeutung ist sicher in Hebr 9,5 vorausgesetzt. Doch im Blick auf Röm 3 stellen sich Fragen. Die wichtigsten sind: Konnten die Heidenchristen in Rom Lev 16 kennen? - Aber diese Frage ist unwichtig; Paulus verwendet ständig Begriffe aus LXX. Kann Jesus „die Opferstätte und das Opfer zugleich sein“ (so Käsemann, 91)? Aber hier kann eine neue Metapher vorliegen, die beide Aspekte, lokale und funktionale Heiligkeit, verbindet.

Zusätzlich zu den Interpretationen sind folgende Aspekte zur Deutung wichtig: Nach M. Wolter spielt Paulus hier „auf den großen Blutritus des Versöhnungstages“ an – ἱλαστήριον werde hier nur als ‚Funktionsmetapher‘ bzw. ‚zweite Metapher‘ verwendet (M. Wolter, 258). Paulus verstehe Jesus aber nicht typologisch als כַּפֹּרֶת. R.A. Jewett stellt in dieser Diskussion zwei wesentliche Punkte heraus: dass der Handelnde GOTT ist (s.o.) und dass die Sühnehandlung an Christus gebunden ist.

Festzuhalten bei der Deutung von ἱλαστήριον ist:

  • Gott handelt. Ihm wird nicht ein Opfer dargebracht.
  • Das Blut Christi führt zur Erlösung / Freilassung: Es dient zum Erweis der Gerechtigkeit Gottes und der Menschen und zum Erlass der Sünden (vgl. Röm 5,9; Kap. 7 sowie 1Kor 10 und 11: Herrenmahl!).
  • V.25-26a sind mindestens sprachlich bereits vorpaulinisch geprägt.
  • Die Vorstellungswelt ist jüdisch. ἱλαστήριον ist am ehesten von der LXX herzuleiten.
  • Trotzdem stellt sich die Frage, warum Paulus die soteriologische Bedeutung Christi im Rahmen der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,16f. und 1,18ff.) in Röm 3 kultisch-rituell deutet.
  • Auf jeden Fall liegt der Fokus nicht darauf, Jesus Christus als ein mögliches Menschenopfer darzustellen, sondern darauf, die von Gott gewirkte Freilassung von der Ungerechtigkeit und der Verdorbenheit aller Menschen als unverfügbaren Akt der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes zu interpretieren.

Dazu wählt / übernimmt Paulus einen kultisch-rituellen Begriff, dem eine metaphorische Bedeutung zukommt. Zwei Aspekte sind dabei zu unterscheiden: erstens der Hintergrund-Aspekt der Sühnehandlung bzw. des Sühnopfers, durch das Gottes Gerechtigkeit hergestellt wird. Dabei bleibt Gott der Handelnde, der gerecht ist. Dieser Aspekt wird implizit durch die Wortwahl von Hilasterion als Metapher für die sühnende Funktion des Todes Jesu angesprochen. Zweitens geht es explizit um die Erlösung der Menschen: Ihre unverdiente Gerechtmachung erfolgt durch die „Erlösung in Jesus Christus“ (V.24). In der Geschehens- / Erzähl-Metapher mit lokal-funktionaler (nicht rituell-substantieller) Bedeutung: „Christus ist als Sühneplatte von Gott hingestellt“ sind also drei Aspekte gebündelt: die Opferhandlung (in seinem, d.h. Christi Blut), die Sühnehandlung (Gott der Handelnde) mit der Bedeutung für das Volk Israel und die Erlösung der ungerechten Menschen. Dieser Aspekt ist für Paulus der entscheidende. Hier kommt der Glaube ins Spiel.

5. Theologische Perspektivierung

Paulus verknüpft hier seine Evangeliumsverkündigung positiv mit der Christologie, und zwar mit der heilsgeschichtlichen, sühnetheologischen und soteriologischen Interpretation des Kreuzestodes Jesu. Die „frohe Botschaft“ des paulinischen εὐαγγέλιον - „In Jesus Christus ist die Erlösung (ἀπολύτρωσις) für „den (= alle) Menschen“ geschehen“ - erhält ihre übergeordnete Bedeutung aus der paulinischen Grundthese, die auf die Rahmenthematik Israels zurückweist: Gott selbst ist gerecht und fordert Gerechtigkeit von den Menschen. Als Richtschnur hat er ihnen das Gesetz gegeben. Die Menschen aber sind vor dem Gesetz „ungerecht“, d.h. sie erfüllen seine Normen nicht, und können sich nicht selbst „gerecht machen“ („rechtfertigen“). Diese Rechtfertigung hat Christus übernommen. Die Menschen erhalten nicht durch die Erfüllung des Gesetzes, d.h. in ihrer Lebensführung gemäß der Tora, die „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, sondern durch den Glauben, d.h. durch das Vertrauen auf Christi Erlösungstat. Damit wird das Gesetz davon befreit, Heilmittel zu sein, und ist den Menschen als einfache Richtschnur für ihre Lebensführung wiedergegeben (als „Gesetz aus dem Glauben). Dieser Aspekt wird in Röm 12 und 13 konkretisiert.

Vier theologische Grundsätze bleiben zu bedenken:

  • Der Text hat eine universal-soteriologische Pointe.
  • Die Verbindung zu Gott wird durch den Glauben an Christus = das Vertrauen auf die Erlösung durch Christus hergestellt.
  • Die Sühnechristologie ist ein unverzichtbares, nicht aber das zentrale Argument. Zentral ist ihre Bedeutung für die Menschen.
  • Das Gesetz verliert seine soteriologische Funktion und wird gleichsam befreit / „entsoteriologisiert“ zum ethischen Regelungswerkzeug.

Literatur

Kommentare von: Fitzmyer, Jewett, Käsemann, Lohse, Wilkens, Wolter (siehe Einleitung in den Römerbrief).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Für den Reformationstag wird mit Römer 3,21-28 ein Predigttext vorgeschlagen, der Generationen von evangelischen Theologen und Theologinnen höchsten Respekt eingeflößt hat, gilt er doch als Nukleus der theologischen Revolution in der Reformation und als „Kerntext“ des paulinischen Denkens, wie wir aus der Exegese erfahren. Ein besonders komplexer theologischer Extrakt, dessen grammatikalische, syntaktische und semantische Lesart variantenreich sind und einen weiten gedanklichen Raum für die theologische Fokussierung öffnen. Ein Text also, der für exegetische und theologische Spezialdiskurse bestens geeignet ist. Aber wie können diese Ausführungen in Gestalt von einem Schul-Lehrgespräch zum Thema der „Gerechtigkeit Gottes“ für eine Predigt aktualisiert und auf eine moderne Existenz zugeschnitten werden?

Wen interessiert heute, ob und wie Gott den Menschen gerecht macht? Kann man die Vielfalt der schillernden Verstehenspotentiale von Gottes Gerechtigkeit und sein Versöhnungsangebot für eine Entfaltung in der Predigt nutzbar machen? Vielleicht bewegt christliche Predigthörerinnen eher die Frage, welche Handlungen oder welche Haltung vor Gott Bestand haben? Oder die Frage – sofern Menschen noch eine Vorstellung von Gott haben: Wie kann ich es Gott mit meinem Leben recht machen? Und weiter die Sehnsucht: Ist Gott gerecht? Steht er für Gerechtigkeit? Und wenn ja: für welche, und nach welchem Maßstab wird Gott eines Tages Recht sprechen? Und für wen gilt das?

2. Thematische Fokussierung

Es ist davon auszugehen, dass die paulinischen Gemeinden ihre Botschaft spätestens mit diesem Brief an die Römer in der Welthauptstadt als relevant für die ganze Welt verstehen. Es ist aufregend zu erfahren, dass Paulus mit der absolut christozentrischen Perspektive im Chor der frühen christlichen Missionare wohl allein war, trotz seines „autoritativen Plurals“ (siehe Exegese), mit dem er seinen Brief anhebt.

Umso entschlossener seine Radikalität.

Die „Juden“ sind unter der Sünde ebenso wie die „Christen“.

Die Kühnheit dieses Gedankens, formuliert von einem beschnittenen, gelehrten, in den jüdischen Gesetzen und Ritualen sozialisierten Pharisäer, lässt die Leser auch nach vielen hundert Jahren noch ahnen, welch ein theologisches und soziokulturelles Dynamit in diesen wenigen Versen steckt. Zugehörigkeitskategorien wie Herkunft, Stand, Familie, Klan, Traditionen und Religionsgemeinschaften werden obsolet. Sie zählen einfach nicht mehr.

„Der Mensch“ – alle Menschen sind mit der großen Entschuldung gemeint.

Einzig die Positionierung zu dem neuen archimedischen Punkt in der Welt „Christus“ hebt die alte Welt aus den Angeln. Allein der Glaube an ihn, birgt die Möglichkeit erlöst zu werden.

Womöglich kann die Predigerin diese Erkenntnis aus der Exegese in eine Reflexion der modernen Zugehörigkeiten (z.B. weltanschauliche Blasen) münden lassen. Womöglich kann man die Verstrickungen beschreiben, in denen wir uns oft bis ins Private und Intime hinein befinden. Womöglich kann die Predigerin diesen ungeheuren Geschmack von Freiheit schmecken lassen, wenn diese Verstrickungen mit einem Mal von einem abfallen.

Womöglich kann die Predigt auch den inneren, psychischen Druck, die jüdischen Gesetze einzuhalten (Speisegesetze, Reinigungsgesetze etc.), aktualisieren: mit den modernen Anforderungen an Aussehen, Essen, Kochen, Fitness, äußeren Erfolg, wie er in den digitalen Welten gemessen und getrackt wird. Obwohl die modernen „Gesetze“ in keinem heiligen Buch stehen, machen viele Menschen Trainings-, Gesundheits- und Kochbücher bzw. Plattformen und Communities zum Leitfaden ihres täglichen Lebens.

Auch die Zwänge, im öffentlichen Diskurs sich immer nach dem Geschmack des jeweiligen Meinungsführers angemessen und korrekt auszudrücken und bei Fehlverhalten oder Fehltritten kein Pardon gelten zu lassen, kartiert die die engmaschigen Regularien moderner Kommunikation.

Die Frage: Wie sage ich es richtig und wie verhalte ich mich richtig? ist zu einem Generalthema in der Gesellschaft geworden, neben dem sich Benimmregeln wie bei Knigge wie ein Kinderspiel ausnehmen.

Paulus aber geht es um Versöhnung.

3. Homiletische Fokussierung

Formal würde es sich anbieten, in der Predigt diese Thematik moderner Spannung und Anspannung in dialogischer Form mit Frage und Gegenfrage oder Antwort aufzuziehen, wie es das Schul-Lehrgespräch des Paulus nahelegt und wie es die Exegese herausgearbeitet hat.

Entscheidend ist: Die eine neue Zugehörigkeit justiert das ganze Leben neu. Nicht umsonst wird bis heute der Eintritt in ein Kloster mit einem Eheversprechen verglichen. Beides sind Neujustierungen des ganzen Lebens. Man könnte die Tiefe des Einschnitts an diesen Beispielen verdeutlichen. Diese neue Bindung löst alle anderen Bindungen und Verstrickungen: Erlösung also.

Die Predigerin könnte versucht sein, sich um die jüdische Opferterminologie, die Paulus in diesem weltbewegenden Text aufruft, herumzuschmuggeln. Die Bilderwelt, in der der gebildete Jude Paulus denkt, ist den „heidnischen“ Adressaten des Römerbriefes – so lerne ich aus den exegetischen Überlegungen – vermutlich fremd. Es wird aber weiter gezeigt, dass das schillernde Wort „hilasterion“ einen weiten semantischen Raum aufmacht. Wird Christus mit dem Opfertier assoziiert oder mit dem Opfertisch? Dieser multivalente Begriff aus der jüdischen Opfertheologie ruft in jüdischen Adressaten, die im Römerbrief auch mitgedacht sind, das Bild vom Innersten des Tempels auf: dem Allerheiligsten.

Und ein weiterer kühner Gedanke scheint auf: Christus ist das Opfer, und Gott selbst wird als der Hohe Priester vorgestellt, der das Opfer vollzieht. Wobei an diesem Ort der Gegenwart Gottes Opfer und Opfertisch in eins verschwimmen.

Dieser allerheiligste Raum wird nun zum allerheiligsten Zeit-Punkt ewiger Gegenwart. Das bedeutet, dass der Ort des Opfers spiritualisiert wird. Paulus löst das Tempelopfer in Jerusalem in der Eucharistie auf.

Auch wenn die Anhänger der neuen Christusbewegung vermutlich die liturgischen Feinheiten des Versöhnungstages in Jerusalem zum großen Teil nicht vor Augen haben, so wird doch verständlich, dass die überkommenen Opferrituale – egal ob jüdisch oder „heidnisch“ – ein für allemal an ihr Ende kommen.

Für die Predigt könnte sich anbieten, in einer Art eucharistischer Litanei der Frage nachzufühlen, wie denn die aktuellen Menschen-Opfer in der Welt auf welchen Opfertischen dargebracht werden: auf denen der Nation, auf denen der Religion, auf denen des Wohlstands.

Dabei wird überdeutlich, wie zutiefst unerträglich und widergöttlich Menschen andere Menschen zu Opfern machen und wie diese unsere Welt nach Erlösung schreit. Der Gottesdienst wird dann in die Feier des Abendmahls münden.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dr. h.c. Oda Wischmeyer (Einführung und Exegese)
  • Prof. em. Johanna Haberer (Praktisch-theologische Resonanzen)

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