Römer 13,1-7 | 23. Sonntag nach Trinitatis | 03.11.2024
Einführung in den Römerbrief
1. Verfasser
Paulus diktierte dem Sekretär Tertius den Brief (vgl. 1,1 und 16,22: eigener Gruß des Tertius; keine Mitverfasser).
Paulus befindet sich an einem entscheidenden Punkt seiner langjährigen Missionsarbeit: Er will im Westen des Imperiums
2. Adressaten
Paulus schrieb den Brief an die „Berufenen Jesu Christi“, an „alle Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen“ in Rom (1,6f.).
Er spricht die Christus-gläubigen Adressaten nicht als „Gemeinde“ an (so in 1Kor 1,2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ). Die Exegeten schließen daraus, dass es in Rom in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden – oft als Hausgemeinden oder auch als „Gemeinden in römischen Mietblocks“ bezeichnet – gegeben habe. Wichtig ist,
- dass es sich bei den Adressaten nicht um Mitglieder einer paulinischen Gemeindegründung handelt,
- dass die Christus-gläubigen Römerinnen und Römer ganz überwiegend sogenannte Heidenchristen waren, d.h. nicht zum „Volk Israel“ gehörten,
- dass sie nur zu einem kleinen Teil Paulus persönlich bekannt waren (vgl. die Grußliste in Kap. 16), so dass der Römerbrief an eine wenig homogene, Paulus überwiegend unbekannte und ihm nicht verpflichtete Leserschaft gerichtet ist (Wischmeyer, Römerbrief, 445-447).
Daraus erklärt sich der sehr sachlich-theologische Gesamtduktus, der auch den ethischen Teil B des Briefes (Röm 12-14
3. Entstehungsort und Entstehungszeit
4. Wichtige Themen
„Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mission des Paulus“ (Wischmeyer, Römerbrief, 429).
Besonders wichtig ist die Auslegungsgeschichte des Röm. Keine Exegese kann ohne eine Reflexion auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegungsgeschichte des Briefes auskommen. Der Röm war seit Erasmus und den Reformatoren – vor allem Luther, Melanchthon und Calvin – der Grundtext reformatorischer Theologie. Die „Rechtfertigungslehre“ entwickelte Luther maßgeblich aus seiner Lektüre des Galater- und Römerbriefes und seiner Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ vom Genitivus objectivus her: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt bzw. Bestand hat, d.h. die Gerechtigkeit, die nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern aus dem Glauben kommt. Damit wurde Röm zugleich zum bleibenden Streitobjekt zwischen reformatorisch-protestantischer und katholischer Auslegung. Neuerdings muss die Christologie des Röm, die das Heil an den Glauben an Christus bindet, in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetzesverständnis neu diskutiert werden.
5. Aktuelle Fragen
Besonderes Interesse gilt in den letzten Jahren der religiös-ethnischen Identität des Paulus und einer damit verbundenen Distanzierung besonders von der christlich-theologischen Römerbriefinterpretation von Luther bis zu Barth und Bultmann. Wieweit ist Paulus auch nach seiner Beauftragung durch den erhöhten Christus (Gal 1,1.15) Jude (Röm 9,1-5) und Pharisäer (so Paula Fredriksen) geblieben? Diese Frage ist nicht nur für die Paulusinterpretation, sondern auch für die Rekonstruktion der Anfänge der christlichen Kirche von bleibender Bedeutung und wird exegetisch neu justiert werden müssen.
6. Besonderheiten
Röm ist der umfangreichste und thematisch anspruchsvollste Brief des Paulus. In mehreren ausführlichen thematisch zentrierten Textabschnitten behandelt Paulus entscheidende Themen seiner Missionsverkündigung:
Teil A In 1,16-11,36 legt er in mehreren Schritten sein „Evangelium“ dar, das „Juden und Nichtjuden (1,16) gilt.
- In Kap. 1,17-4,25 entfaltet er die Heilswirkung des Evangeliums vor dem Hintergrund der Ungerechtigkeit von Nichtjuden wie Juden. 3,21-31 ist das christologische Herzstück dieser Heilsbotschaft.
- In Kap. 5-8 entwickelt Paulus dann Einzelaspekte seiner Christologie.
- Kap. 9-11 ist ein eigener thematischer Traktat zum Verhältnis von Nichtjuden und Juden, der mit der Perspektive der Errettung von Nichtjuden wie Juden schließt und damit auch das Thema von 1,16 zum Abschluss bringt (11,26).
Teil B Von 12,1-15,13 stellt Paulus in einer reich gegliederten Paraklese (ermahnende Darlegung der Verhaltensformen in den Christus-gläubigen Gemeinden) Grundelemente gemeindlichen Verhaltens dar (darin: 13,1-7 zur „Obrigkeit“; 13,8-10 Liebe als Gesetzeserfüllung; Kap. 14 Starke und Schwache in der Gemeinde).
15,14-33 gelten der aktuellen Planung, Kap. 16 enthält ausführliche Grüße.
Literatur:
- Fredriksen, P.: Paul, the Perfectly Righteous Pharisee, in: The Pharisees, hg. J. Sievers and A.-J. Levine, Eerdmans 2021.
- Kleffmann, T.: Der Römerbrief des Paulus, Tübingen 2022 (theologisch-systematische Kommentierung des Röm).
- Wischmeyer, O. / Becker, E.-M. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 32021; darin. Wischmeyer, O., Römerbrief, 429-469. Dort S. 468f. weiter kurz kommentierte Literatur.
- Wolter, M.: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8. EKKNF VI/1, Neukirchen-Vluyn 2014. Teilband 2: Röm 9-16. EKKVI/2, Neukirchen-Vluyn 2019.
A) Exegese kompakt: Römer 13,1-7
Der Text ist oft überfrachtet worden: „Obrigkeitstheologie“, „Gehorsamstheologie“, „politische Theologie“. Gerade im aktuellen politischen Kontext (Ukrainekrieg, Hamasangriff auf Israel und die unabsehbaren Folgen im Nahen Osten, vor allen im Libanon) ist der Paulustext als Aufruf an die Regierungen und Verwaltungen zu verstehen, konstruktiv und verantwortungsvoll zu handeln und sich nicht als autonome Größen, sondern als „Gottes Diener zum Guten“ zu betätigen.
Übersetzung
1 Jeder ordne sich den Trägern der übergeordneten staatlichen Gewalten (Behörden, Obrigkeit) unter (gehorche ihnen). Denn es gibt keine Gewalt (Obrigkeit), die nicht von Gott ist, die bestehenden (Gewalten/Obrigkeiten) aber sind von Gott angeordnet (eingesetzt), 2 so dass, wer sich der (staatlichen) Macht (Obrigkeit) entgegenstellt (widersetzt), sich der Anordnung Gottes entgegenstellt, die sich aber widersetzen, werden sich selbst das Urteil (die Verurteilung?) zuziehen. 3 Denn die Vertreter der staatlichen Behörden sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Du willst nicht die staatliche Gewalt (Obrigkeit) fürchten? Tue das Gute, und du wirst Lob von ihr empfangen, 4 denn sie ist Gottes Diener für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie ist nämlich Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht (als Vergelterin zum Zorn) an dem, der Böses tut. 5 Deshalb ist es nötig, sich unterzuordnen, nicht allein aus Furcht vor der Strafe (um des Zornes willen), sondern auch wegen des Gewissens. 6 denn deswegen bezahlt ihr auch Steuern (denn entrichtet auch Tribute!). Denn Gottes Gehilfen sind die, die eben genau darauf beharren (=Steuerpächter). 7 Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid – der Steuer(behörde) die Steuer, der Zoll(behörde) den Zoll, wem Furcht gebührt, Furcht, wem Ehre gebührt, Ehre.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
In diesem Text ist die adäquate Semantik vor allem von ἐξουσία und ὑποτάσσω wichtig; sie muss in der Exegese und sollte in der Predigt Beachtung finden. Die bekannten Lutherbegriffe: Obrigkeit und untertan sein / gehorchen, werden der griechischen Behördensprache nicht gerecht (s.u.). Außerdem erfordert sowohl die Ordnungs-Semantik (τάσσω = setzen, ordnen) als auch die Steuersemantik in V.5-7 sprachliche Aufmerksamkeit, besonders V.6 (Steuerpächter). Es fehlen die Herrschafts- und Imperiumssemantik, die auch in der Übersetzung nicht eingetragen werden darf. Anders der sogenannte Paralleltext 1Petr 2,13-17 (dort basileus / König und hegemōn / Statthalter): Diese politische Konkretion fehlt in Röm 13.
Die Imperative in 13,1.3.4.7 sind „Erinnerungen an das, was üblicherweise zu tun ist“. Sie gelten allen Menschen (V.1). „In Röm 13,8-10 setzt Paulus [dagegen] die Imperative im Rahmen seiner innergemeindlichen Paränese“. In 13,1-7 werden keine spezifisch „christlichen“ Ratschläge gegeben; diese beginnen in 13,8.
Wischmeyer, Staat und Christen, 241.
2. Literarische Gestaltung: Wie will der Verfasser sein Lesepublikum gewinnen?
Der Textaufbau ist klar. V.1a: allgemein formulierte ethische Forderung, V.1b-4: Begründungen, V.5: Zwischenfazit (διὸ) und weitere konkrete Begründung (Steuern), V.6f. weitere Konkretisierung.
Der Text ist kurz, präzise, lebhaft und stilistisch sehr sorgfältig gestaltet, in sich geschlossen und macht Eindruck durch
- Antithesen, Überordnung-Unterordnung, gut-böse, gehorchen-Widerstand leisten, Strafe-Lob,
- knappe, konkrete und persönlich zugespitzte Empfehlungen im Imperativ Sing. und Plur. (besonders in V.7),
- literarisches Mittel der sogenannten Diatribe = fiktives Gespräch mit einem Gemeindeglied in Frage, Antwort und Ratschlag (V.3f.) zur Klärung eines zur Diskussion stehenden Themas.
Paulus leistet rhetorische Überzeugungsarbeit. Zugleich werden sehr gewichtige und konkrete Aussagen zur staatlichen Gewalt gemacht, die vom „Schwert“, d.h. der Todesstrafe, bis zu den materiellen (Steuer und Zoll) und sozialen (Status: gesellschaftliches honour and shame-Modell) Aspekten staatlicher Ordnung reichen. Der vierfache Schluss-Ratschlag ist besonders wuchtig und nachhaltig formuliert und bildet zugleich die Basis für das Folgende: „Bleibt niemandem etwas schuldig – außer dass ihr einander liebt, denn wer liebt, hat alle Gesetze erfüllt“.
Wolter, 308f.
3. Kontext und historische Einordnung
Röm 13,1-7 ist ein Teiltext des ermahnenden (12,1: „Ich ermahne euch, Brüder“) Briefteils (12,1-15,13). Überschrift ist: „Das Gute und Vollkommene“ (12,2.9.17.21). Das „Gute“ wird ethisch ausbuchstabiert, zuerst für die Gemeinden in 12,3-16, zweitens in Bezug auf den Umgang mit „allen Menschen“ in 12,17-21. 13,1-7 enthält dann spezielle Anweisungen zum Umgang mit den ἐξουσίαι, d.h. dem staatlichen öffentlichen Raum. 13,8-14 vertieft die ethische Argumentation in doppelter Richtung: (1) auf Liebe als wichtigstes ethisches Kriterium und (2) auf die gegenwärtige Zeit, die Paulus im Horizont der anbrechenden (endzeitlichen) Heilszeit versteht. In 14,1-15,13 wendet er sich nochmals ethischen Problemen in den Gemeinden zu.
Die Christus-gläubigen Vereinigungen in Rom sind stärker als die Städte im östlichen Reichsteil dem Imperium mit seinem umfassenden Herrschaftsanspruch, der sich in der Gestalt des Kaisers sehr konkret manifestiert, ausgesetzt. Der direkte Bezug von Röm 13 auf diese Situation der Adressaten wird in der Exegese unterschiedlich stark gewichtet. Auffallend ist in jedem Fall Viererlei: Erstens spricht Paulus nur im Römerbrief das bekannte Thema der politisch-administrativen Herrschaft an (anders als die Evangelien: dort wichtiges Thema). Das kann der römischen Adressatenschaft geschuldet sein. Zweitens umgeht Paulus aber die explizite Imperiumssemantik (anders 1Petr) und konzentriert sich auf die ökonomisch-gesellschaftlichen und administrativen Aspekte der römischen Herrschaft, wie er sie aus den Städten des Ostens kennt (vor allem Steuern und Zölle). Drittens überführt er die Herrschaftsthematik konsequent ins Ethisch-Eschatologische und nimmt ihr dadurch ihren ideologischen Eigencharakter. Viertens formuliert er erst in 13,8-10 seine eigenen ethischen Ratschläge und Positionen.
Sehr skeptisch Wolter, 328f.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Zwei Perspektiven sollten leitend sein, erstens die theologische: „Gott sitzt im Regiment“ („Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl“, Paul Gerhardt). Die Logik des Paulus ist nicht, das Imperium Romanum zu legitimieren – dass es Herrschaft gibt, setzt er mit allen antiken nichtjüdischen und jüdischen Schriftstellern voraus –, sondern deutlich zu machen, dass die Herrschaft unter Gott steht und die römische Gemeinde das Imperium daher nicht fürchten muss (vgl. διάκονος und λειτουργός in V.4.6). An diesem Punkt steht Paulus in der Linie des jüdischen Herrschaftsverständnisses.
Zweitens entwickelt Paulus selbstständig die ethisch-eschatologische Perspektive: Die Christus-gläubigen Gemeinden in Rom sollen „das Gute“ tun. Hier ist das innovative und konstruktive Element der paulinischen Ethik zu bedenken.
Wolter, 311f., weist zurecht darauf hin, dass auch der nichtjüdischen Tradition diese Vorstellung „nicht fremd“ war.
5. Perspektiven für die Predigt
Eine Predigt sollte neben den in (4) genannten Aspekten auch den Umstand ansprechen, dass Paulus, der rechtfertigt, dass die Regierung „das Schwert führt“, nach frühkirchlicher Überlieferung durch das Schwert hingerichtet wurde. Aspekte der Auslegungsgeschichte dieses Textes (ausführlich: U. Wilckens, Kommentar) in ihrer kontroversen Vielfalt (von Obrigkeitsgehorsam bis zu Widerstand und Revolution), die zu der großen Bekanntheit von „Röm 13“ geführt hat, können – müssen aber nicht – in die Predigt einbezogen werden: so das Ringen der „Attentäter“ des 20. Juli um den „Gehorsam“, Bonhoeffer.
Für eine aktuelle Predigt bedeutsam ist der nüchtern-rationale, angstfreie und deutlich distanzierte Umgang des Paulus mit dem Thema von Regierung. Röm 12-14 machen deutlich, dass für die Christus-gläubigen Gemeinden – ob im Zentrum des Reiches oder in den entfernteren Provinzen – immer das eigene Tun des Guten als Tun der Liebe primäre Bedeutung haben: Hier ist das Lebens- und Betätigungsfeld der Gemeinden in „der Zeit des Guten“.
Literatur
- Wilckens, U.: Der Brief an die Römer, EKK VI/1, 3 Bde., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978/1980/1982.
- Wischmeyer, O.: Staat und Christen nach Römer 13,1-7. Ein neuer hermeneutischer Zugang, in: Dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze, WUNT 173, Tübingen 2004, 229-242.
- Wolter, M.: Der Brief an die Römer (Teilband 2: Röm 9-16), EKK VI/2, Göttingen 2019, 306-329.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Wo mir die Exegese neue Einsichten erschließt:
Der Hinweis des exegetischen Teils, dass Paulus in seinem Brief an die christliche Gemeinde in Rom den Gebrauch „expliziter Imperiumssemantik“ umgeht und sich stattdessen auf Verwaltungsaspekte wie Steuern, Zölle oder Strafrecht konzentriert, erschließt mir den Text ganz neu. Ich muss mich erst lösen von dem unguten Klang von Obrigkeit und sich unterordnen, untertan sein und nicht widersetzen. Gegenüber einem Herrschaftssystem, das dem Kaiser Göttlichkeit zuspricht und von den Bürgern einen entsprechenden Kult erwartet, ist die sprachliche Zurückhaltung des römischen Bürgers Paulus beeindruckend. Nicht nur das, was Paulus diktiert (unterordnen, gehorchen), sondern auch das, was er nur zwischen den Zeilen mitteilt oder eben nicht zu Papier bringen lässt, ist von Bedeutung. Wer einmal in einem autokratischen Regime gelebt hat, weiß wie wichtig die Zwischenräume und Leerstellen im geschrieben und gesprochenen Wort sind. Beim Lesen des Textes sollte man also mit den ‚Klammern‘ lesen, die die Übersetzung von A verwendet und die bewusst machen, wo die gewohnte Übersetzung nach Luther uns zu leicht in die Ohren geht.
2. Thematische Fokussierung
Der Text und seine Entstehungsgeschichte erschließt mir eine Situation, auf der ich die Predigt aufbauen kann:
Die Entstehung des Textes kann ich mir geradezu plastisch vorstellen: Paulus ist unablässig unterwegs, zu Fuß oder mit dem Schiff, macht Halt in Kleinstädten und Metropolen. Wahrscheinlich ist er einer von wenigen weitgereisten Menschen seiner Zeit! Er kennt weite Regionen des römischen Imperiums, profitiert von befestigten Straßen, sicheren Häfen und seinen gesicherten Rechten als geborener Bürger Roms. Er pflanzt das Evangelium in den fruchtbaren Boden multiethnischer und -kultureller Gemeinwesen, denn die Juden und Griechen waren ja keine homogenen Sozialgebilde, sondern in sich dynamische Gruppierungen, die sich neu zusammenfanden um das Zentrum eines neuen Glaubens, den sie gemeinsam leben wollten. Paulus lernt auf seinen Reisen ständig neue Menschen kennen, findet Gesprächspartner:innen, schließt enge Freundschaften, setzt sich mit Kritikern auseinander und findet Gefährten wie Tertius, dem er seine Gedanken diktieren kann. Er scheint des mühsamen Reisens nicht müde zu werden und will bis ans Ende der Welt in Spanien gelangen. Vorerst aber soll ihn sein Weg nach Rom führen, ins Zentrum des Imperiums, von dem er viel gehört hat, unter anderem, dass es jüdisches Leben dort gibt, die Septuaginta gelesen wird, und auch Christinnen und Christen dort leben und arbeiten. Einzelne von ihnen kennt er, die meisten aber nicht. Sie leben in der Hauptstadt, kennen ihre Machtspiele und Intrigen, die Einflussreichen und Propagandisten, die Kriminellen, die Scharfmacher und Ordnungshüter, kurz: sie kennen sich aus in Rom, jedenfalls bessert als der Provinzler.
Wie sie wohl das gelesen haben, was er ihnen schreibt und wie er sich mit seinen 16 Kapiteln Römerbrief vorstellt? Wir wissen es nicht. Wir können nur erahnen, dass seine Worte einen Nerv getroffen haben müssen, denn der Brief erreichte schnell geradezu kanonische Geltung.
Auch wenn wir den Abschnitt aus Kap 13 also nicht unmittelbar mit den Augen der intendierten Empfänger:innen lesen können, lohnt es sich, dies zumindest zu imaginieren und von da aus die eigene Gegenwart zu entdecken. Noch gibt es zur Abfassungszeit keine systematische Verfolgung, Gewaltausbrüche hier und da, aber die Behörden werden eher als Instanzen zur Wahrung von Recht und Ordnung wahrgenommen, nicht als Willkürregime. Der Gehorsam gegenüber Gesetzen und Gerichten gilt für alle Menschen. Paulus und viele Christusanhänger konnten unter den Bedingungen des Imperiums weitgehend ihren Angelegenheiten nachgehen, Pläne umsetzen und in den Mietskasernen Gemeinden pflanzen, solange sie die öffentliche Ordnung nicht störten. Dabei müssen sie sich – vorerst jedenfalls – nicht durch Herrscherkult der Administration andienen.
Der Textabschnitt half den christlichen Gemeinden wohl dabei, sich einzurichten in einer Welt, in der es Gesetze gab und auf deren Behörden man sich verlassen konnte. Das gab ihnen Freiräume auszuloten, wie sie das, was sie eigentlich wollten, auch in die Tat umsetzen konnten, also das, was ab V.8ff geschildert wird: miteinander in Liebe umgehen, Liebe leben als Herz und Wirklichkeit des Gesetzes Gottes. Das ist das Ziel des Textes!
3. Theologische Aktualisierung
Was der Text anspricht, worauf man nicht verzichten sollte:
Der Abschnitt Röm 13,1-7 und seine Wirkungsgeschichte waren in den Post-68er-Jahren des 20. Jahrhunderts eines der Themen, über die theologisch und politisch Interessierte besonders kontrovers diskutierten. In der Kammer für Öffentliche Verantwortung arbeiteten unter dem Vorsitz der Ethikers Trutz Rendtorff namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Kirche und Wissenschaft an der sogenannten Demokratiedenkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ (1985). Sie mussten sich kritisch v.a. mit der protestantischen Auslegungstradition von Röm 13 auseinandersetzen, die aufgrund der ‚Obrigkeits‘-Semantik und ordnungstheologischer Tradition von einer „tiefen Skepsis gegenüber der modernen Demokratie bis hin zu ihrer grundsätzlichen Ablehnung“ (EKD S.16) geprägt war. Gerade im konfessionellen Zeitalter hatte sich v.a. im Luthertum ein „sehr positiv besetztes Bewußtsein von Über- und Unterordnung […], von Untertanen-Gehorsam und Treuepflicht gegenüber der ‚Obrigkeit‘“ (Wilckens, S.57) entwickelt und verfestigt, das noch bis in 1960er Jahre nachwirkte. Ein unmittelbare Anwendung von Röm 13,1-7 auf heutige Staatsformen wurde – nach dem Schrecken der NS-Zeit, dem Schicksal des Widerstands gegen NS-Unrecht und angesichts totalitärer Herrschaftssysteme – endlich in Frage gestellt. Röm 13 hatte keine Demokratie vor Augen, sondern eine auf absehbare Zeit imperiale Realität. So fehlt im Text das, was die Demokratiedenkschrift als wesentliche „Strukturprinzipien für die Ordnung von Herrschaft in der Demokratie“ festhält: „die Gewaltenteilung und die zeitliche Befristung von Herrschaft“ (EKD, S.27). Auf die Semantik von Obrigkeit und Untertansein verzichtet die Denkschrift und man sollte auf sie auch in der Predigt verzichten, gerade angesichts zunehmender Autokratien in vielen Ländern in der Gegenwart. Sprachsensibilität ist wichtig, gerade im Umgang mit gesellschaftlicher Wirklichkeit, ihrer gedanklichen und ideellen Konstruktion.
Auch wenn man aufgrund der Wirkungsgeschichte des Textes nicht um einen Ausflug in politische Ethik herumkommt, ist es aber wichtig zu beachten, dass Paulus keine Staatslehre entwirft, sondern es letztlich darum geht, dass alle Macht durch Gottes Souveränität begrenzt ist und das Handeln im Sinne des Liebesgebotes die Erfüllung der Herrschaft Christi ist. Keine Staatsmacht ist an sich gut. Gut ist allenfalls eine staatliche (und auch kirchliche!) Ordnung, die erlaubt, dass Gutes in ihrem Geltungsraum möglich wird.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Zwei Tage nach dem 23. Sonntag nach Trinitatis finden am 5. November 2024 in den USA die Wahlen des Präsidenten statt, aller Erwartung nach nicht nur eine Richtungswahl für die Vereinigten Staaten, sondern auch für die politische Weltordnung. Es wird deshalb auch in einem Gottesdienst im deutschen Sprachraum zu bedenken sein, wie sich Christen und Christinnen einrichten in einer Welt, in der Herrschaftsansprüche autoritär durchgesetzt und Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Neben dem Evangelium (Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist…) sollte dem Wochenspruch Aufmerksamkeit geschenkt werden: „Dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und ewige Macht!“ (1 Tim 6,15b.16a.c). In Entsprechung zu Röm 13,8 wäre es angebracht, neben dem Friedenslied 430 (Gib Frieden, Herr, gib Frieden) auch das Taizé-Lied „Ubi Caritas“ anzustimmen. Wo Gott ist, ist auch Raum für Liebe.
5. Anregungen
Es wird nicht verkehrt sein, die Predigt mit einem Gebet zu beschließen. In seinen Politischen Gebeten hat der Pfarrer und Politiker Hans Roser (S.141f.) ein Gebet „Am Wahltag“ formuliert, auf das sich zurückgreifen ließe:
„Allmächtiger Gott, du Herr allen Geschehens / unter den Staaten und in ihnen.
Wir danken dir, daß wir Gottesdienste halten / und dich öffentlich anrufen können: / Erhalte uns diese Freiheit.
Wir danken dir, daß wir auswählen können / unter Personen und Parteien: / Erhalte uns diese Macht.
Wir danken dir, daß wir auch als Kirche Gehör finden: / Erhalte uns diesen Einfluß. […]
Herr, Christen sind in den unterschiedlichen politischen Lagern. / das macht uns die Wahl schwer.
Wir bitten dich, laß uns nicht vergesse, / daß du ein Gott der Vielfalt bist / und nicht der Einheitlichkeit. / Nur so bleiben wir tolerant. […]
Wir bitten dich, stärke die Gewissen, / daß die Regeln der Fairneß eingehalten werden. / Nur dies entspricht Menschen, / die fähig sind zur Wahl. / Und die würdig sind, gewählt zu werden. […]
Herr, nicht alle können erfolgreich sein. / Wir bitten dich, hilf ihnen, / auch ihre Niederlage zu ertragen. / Denn auch dahinter ist deine gnädige Führung verborgen. […]Deshalb bitten wir dich, allmächtiger Gott, / gib denen, die hierzu berufen sind, / ein gutes Gewissen zur Politik.“
Literatur
- Kirchenamt im Auftrag des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1986.
- Roser, H.: Politische Gebete. Ein evangelischer Beitrag, München, 19782.
- Wilckens, U.: Der Brief an die Römer. Teilband 3: Röm 12-16. EKK VI/3, Neukirchen-Vluyn 1982.
Autoren
- Prof. em. Dr. Dr. h.c. Oda Wischmeyer (Einführung und Exegese)
- Prof. Dr. Traugott Roser (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500069
EfP unterstützen
Exegese für die Predigt ist ein kostenloses Angebot der Deutschen Bibelgesellschaft. Um dieses und weitere digitale Angebote für Sie entwickeln zu können, freuen wir uns, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen, indem Sie für die Bibelverbreitung im Internet spenden.
Entdecken Sie weitere Angebote zur Vertiefung
WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon Bibelkunde