Deutsche Bibelgesellschaft

Römer 14,(1-6)7-13 | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres | 17.11.2024

Einführung in den Römerbrief

1. Verfasser

Paulus diktierte dem Sekretär Tertius den Brief (vgl. 1,1 und 16,22: eigener Gruß des Tertius; keine Mitverfasser).

Paulus befindet sich an einem entscheidenden Punkt seiner langjährigen Missionsarbeit: Er will im Westen des Imperiums missionieren und plant eine Reise nach Spanien. Im Zusammenhang dieser Reise zu neuen potenziellen Missionsgebieten stellt er sich den römischen Christus-Gläubigen brieflich als Apostel der Nichtjuden vor und kündigt einen Aufenthalt in Rom an, bei dem er die römischen Christus-gläubigen Gemeindeglieder an seiner Evangeliumsverkündigung teilhaben lassen will. Außerdem hofft er auf Unterstützung bei seinen Reiseplänen. Zuvor will er aber die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, die die kleinasiatischen und griechischen Gemeinden aufgebracht haben, persönlich nach Jerusalem bringen, so dass sich sein Rombesuch noch verzögern wird.

2. Adressaten

Paulus schrieb den Brief an die „Berufenen Jesu Christi“, an „alle Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen“ in Rom (1,6f.).

Er spricht die Christus-gläubigen Adressaten nicht als „Gemeinde“ an (so in 1Kor 1,2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ). Die Exegeten schließen daraus, dass es in Rom in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden – oft als Hausgemeinden oder auch als „Gemeinden in römischen Mietblocks“ bezeichnet – gegeben habe. Wichtig ist,

  1. 1.dass es sich bei den Adressaten nicht um Mitglieder einer paulinischen Gemeindegründung handelt,
  2. 2.dass die Christus-gläubigen Römerinnen und Römer ganz überwiegend sogenannte Heidenchristen waren, d.h. nicht zum „Volk Israel“ gehörten,
  3. 3.dass sie nur zu einem kleinen Teil Paulus persönlich bekannt waren (vgl. die Grußliste in Kap. 16), so dass der Römerbrief an eine wenig homogene, Paulus überwiegend unbekannte und ihm nicht verpflichtete Leserschaft gerichtet ist (Wischmeyer, Römerbrief, 445-447).

Daraus erklärt sich der sehr sachlich-theologische Gesamtduktus, der auch den ethischen Teil B des Briefes (Röm 12-14) bestimmt.

3. Entstehungsort und Entstehungszeit

Paulus schreibt nach Rom wohl im Jahr 56 aus Korinth (Röm 16,23; 1Kor 1,14; Apg 20,4).

4. Wichtige Themen

„Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mission des Paulus“ (Wischmeyer, Römerbrief, 429).

Besonders wichtig ist die Auslegungsgeschichte des Röm. Keine Exegese kann ohne eine Reflexion auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegungsgeschichte des Briefes auskommen. Der Röm war seit Erasmus und den Reformatoren – vor allem Luther, Melanchthon und Calvin – der Grundtext reformatorischer Theologie. Die „Rechtfertigungslehre“ entwickelte Luther maßgeblich aus seiner Lektüre des Galater- und Römerbriefes und seiner Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ vom Genitivus objectivus her: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt bzw. Bestand hat, d.h. die Gerechtigkeit, die nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern aus dem Glauben kommt. Damit wurde Röm zugleich zum bleibenden Streitobjekt zwischen reformatorisch-protestantischer und katholischer Auslegung. Neuerdings muss die Christologie des Röm, die das Heil an den Glauben an Christus bindet, in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetzesverständnis neu diskutiert werden.

5. Aktuelle Fragen

Besonderes Interesse gilt in den letzten Jahren der religiös-ethnischen Identität des Paulus und einer damit verbundenen Distanzierung besonders von der christlich-theologischen Römerbriefinterpretation von Luther bis zu Barth und Bultmann. Wieweit ist Paulus auch nach seiner Beauftragung durch den erhöhten Christus (Gal 1,1.15) Jude (Röm 9,1-5) und Pharisäer (so Paula Fredriksen) geblieben? Diese Frage ist nicht nur für die Paulusinterpretation, sondern auch für die Rekonstruktion der Anfänge der christlichen Kirche von bleibender Bedeutung und wird exegetisch neu justiert werden müssen.

6. Besonderheiten

Röm ist der umfangreichste und thematisch anspruchsvollste Brief des Paulus. In mehreren ausführlichen thematisch zentrierten Textabschnitten behandelt Paulus entscheidende Themen seiner Missionsverkündigung:

Teil A In 1,16-11,36 legt er in mehreren Schritten sein „Evangelium“ dar, das „Juden und Nichtjuden (1,16) gilt.

  1. 1.In Kap. 1,17-4,25 entfaltet er die Heilswirkung des Evangeliums vor dem Hintergrund der Ungerechtigkeit von Nichtjuden wie Juden. 3,21-31 ist das christologische Herzstück dieser Heilsbotschaft.
  2. 2.In Kap. 5-8 entwickelt Paulus dann Einzelaspekte seiner Christologie.
  3. 3.Kap. 9-11 ist ein eigener thematischer Traktat zum Verhältnis von Nichtjuden und Juden, der mit der Perspektive der Errettung von Nichtjuden wie Juden schließt und damit auch das Thema von 1,16 zum Abschluss bringt (11,26).

Teil B Von 12,1-15,13 stellt Paulus in einer reich gegliederten Paraklese (ermahnende Darlegung der Verhaltensformen in den Christus-gläubigen Gemeinden) Grundelemente gemeindlichen Verhaltens dar (darin: 13,1-7 zur „Obrigkeit“; 13,8-10 Liebe als Gesetzeserfüllung; Kap. 14 Starke und Schwache in der Gemeinde).

15,14-33 gelten der aktuellen Planung, Kap. 16 enthält ausführliche Grüße.

Literatur:

  • Fredriksen, P.: Paul, the Perfectly Righteous Pharisee, in: The Pharisees, hg. J. Sievers and A.-J. Levine, Eerdmans 2021.
  • Kleffmann, T.: Der Römerbrief des Paulus, Tübingen 2022 (theologisch-systematische Kommentierung des Röm).
  • Wischmeyer, O. / Becker, E.-M. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 32021; darin. Wischmeyer, O., Römerbrief, 429-469. Dort S. 468f. weiter kurz kommentierte Literatur.
  • Wolter, M.: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8. EKKNF VI/1, Neukirchen-Vluyn 2014. Teilband 2: Röm 9-16. EKKVI/2, Neukirchen-Vluyn 2019.

A) Exegese kompakt: Röm 14(1-6)7-13

1Τὸν δὲ ἀσθενοῦντα τῇ πίστει προσλαμβάνεσθε, μὴ εἰς διακρίσεις διαλογισμῶν. 2ὃς μὲν πιστεύει φαγεῖν πάντα, ὁ δὲ ἀσθενῶν λάχανα ἐσθίει. 3ὁ ἐσθίων τὸν μὴ ἐσθίοντα μὴ ἐξουθενείτω, ὁ δὲ μὴ ἐσθίων τὸν ἐσθίοντα μὴ κρινέτω, ὁ θεὸς γὰρ αὐτὸν προσελάβετο. 4σὺ τίς εἶ ὁ κρίνων ἀλλότριον οἰκέτην; τῷ ἰδίῳ κυρίῳ στήκει ἢ πίπτει· σταθήσεται δέ, δυνατεῖ γὰρ ὁ κύριος στῆσαι αὐτόν. 5Ὃς μὲν [γὰρ] κρίνει ἡμέραν παρ’ ἡμέραν, ὃς δὲ κρίνει πᾶσαν ἡμέραν· ἕκαστος ἐν τῷ ἰδίῳ νοῒ πληροφορείσθω. 6ὁ φρονῶν τὴν ἡμέραν κυρίῳ φρονεῖ· καὶ ὁ ἐσθίων κυρίῳ ἐσθίει, εὐχαριστεῖ γὰρ τῷ θεῷ· καὶ ὁ μὴ ἐσθίων κυρίῳ οὐκ ἐσθίει καὶ εὐχαριστεῖ τῷ θεῷ. 7οὐδεὶς γὰρ ἡμῶν ἑαυτῷ ζῇ καὶ οὐδεὶς ἑαυτῷ ἀποθνῄσκει· 8ἐάν τε γὰρ ζῶμεν, τῷ κυρίῳ ζῶμεν, ἐάν τε ἀποθνῄσκωμεν, τῷ κυρίῳ ἀποθνῄσκομεν. ἐάν τε οὖν ζῶμεν ἐάν τε ἀποθνῄσκωμεν, τοῦ κυρίου ἐσμέν. 9εἰς τοῦτο γὰρ Χριστὸς ἀπέθανεν καὶ ἔζησεν, ἵνα καὶ νεκρῶν καὶ ζώντων κυριεύσῃ. 10Σὺ δὲ τί κρίνεις τὸν ἀδελφόν σου; ἢ καὶ σὺ τί ἐξουθενεῖς τὸν ἀδελφόν σου; πάντες γὰρ παραστησόμεθα τῷ βήματι τοῦ θεοῦ, 11γέγραπται γάρ·

ζῶ ἐγώ, λέγει κύριος, ὅτι ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ

καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσεται τῷ θεῷ.

12ἄρα [οὖν] ἕκαστος ἡμῶν περὶ ἑαυτοῦ λόγον δώσει [τῷ θεῷ].

13Μηκέτι οὖν ἀλλήλους κρίνωμεν· ἀλλὰ τοῦτο κρίνατε μᾶλλον, τὸ μὴ τιθέναι πρόσκομμα τῷ ἀδελφῷ ἢ σκάνδαλον.

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Übersetzung

1 Den aber, der schwach in Bezug auf den Glauben ist, nehmt an, ohne mit ihm über Meinungen zu streiten. 2 Dieser nämlich glaubt, alles essen zu dürfen, jener aber ist schwach und isst (nur) Gemüse. 3 Der, der isst, soll den, der nicht isst, nicht verachten, der aber, der nicht isst, soll den, der isst, nicht kritisieren – Gott hat ihn nämlich angenommen. 4 Du – wer bist du, dass du einen anderen Diener richtest? Sein eigener Herr wird entscheiden, ob er steht oder fällt (wörtlich: Er wird seinem eigenen Herrn stehen oder fallen). Er wird aber stehen, denn der Herr kann ihn stehen lassen. 5 Der eine nämlich bringt den einzelnen Tagen unterschiedliche Wertschätzung entgegen, der andere macht keinen Unterschied zwischen den Tagen. Jeder sei aber von seinem eigenen Urteil überzeugt. 6 Wer auf einen bestimmten Tag achtet, der tut es im Blick auf den Herrn, und wer isst, tut es im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott. Und wer nicht isst, tut es im Blick auf den Herrn und dankt Gott. 7 Denn niemand von uns lebt für sich selbst, und niemand stirbt für sich selbst. 8 Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn, wenn wir aber sterben, sterben wir für den Herrn. Sei es nun, dass wir leben, sei es nun, dass wir sterben – wir sind des Herrn. 9 Dafür nämlich ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er sowohl über Verstorbene wie über Lebende Herr sei. 10 Du aber: was richtest du deinen Bruder? Oder auch du: was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden, 11 denn es ist geschrieben: So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir soll sich beugen jedes Knie, und jede Zunge soll Gott bekennen (ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ καὶ ἐξομολογήσεται πᾶσα γλῶσσα τῷ θεῷ Jes 45,23LXX). 12 So wird nun jeder von euch über sich selbst Rechenschaft vor Gott ablegen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

In V.3 ist nach „isst“ „Fleisch“ zu ergänzen: vgl. V.21.

In V.5 bedeutet κρίνει ἡμέραν παρ’ ἡμέραν: „der eine hält Feiertage“ (παρα = im Vergleich mit, mehr als).

VV.6.7: Dativ bei κυρίῳ (und öfter) - abgeleiteter Dativ (dativus sociativus), bezeichnet die Beziehung oder Gemeinschaft. Wolter, Kommentar 360 nach BDR §188.1, interpretiert den Dativ allgemeiner als dativus commodi (Dativ des Nutzens).

2. Literarische Gestaltung: Wie will der Verfasser sein Lesepublikum gewinnen?

Paulus spricht von 12,1 bis 15,13 im Modus der Paraklese, d.h. der brüderlichen Ermahnung und freundschaftlichen Belehrung. Im Kontext der Paraklese (allgemeiner Ausdruck: Paränese), d.h. der Behandlung allgemeiner und grundsätzlicher Fragen des Verhaltens und des Miteinanders „der Glieder am Leib Christi“ (12,3-8), behandelt er zwei konkrete Themen: in 13,1-7 das Verhältnis der Gemeindeglieder zur „Obrigkeit“, in Kap. 14 ausführlicher das Verhältnis von „Starken“ und „Schwachen“ in den Gemeinden. Paulus hat das zweite Thema umfangreich und nicht immer logisch konzise, sondern eher argumentativ mäandrierend bereits in 1Kor 8-10 behandelt – wohl in einem konkreten Zusammenhang mit Spannungen in der korinthischen Gemeinde in Bezug auf das Essen von Fleisch, das aus paganen Opferhandlungen stammte. In Röm 14 ordnet und verallgemeinert Paulus noch einmal seine Argumentation. Ob das Gegeneinander von „Starken“ und „Schwachen“ im Glauben in den römischen Christus-bekennenden Gemeinschaften ebenso virulent wie in Korinth war, wissen wir nicht. Es ist aber auffallend, wie sorgfältig Paulus das Thema behandelt. Hier wird jedenfalls das Glaubensthema, das Röm 1-8 weitgehend theologisch beherrscht, konkret.

3. Kontext und historische Einordnung

a) Kontext: Kap. 14 gehört zum „ethischen“ Teil des Röm (s. zur Paraklese), der von 12,1-15,13 reicht. Wie der kurze Textteil 13,1-7 ist auch der längere Text 14,1-23 konzentriert und ohne Abschweifungen einem einzigen Thema gewidmet: „der Schwache im Glauben“. Das Thema wird in 14,1 überschriftartig formuliert und kommt in 14,23 zu einem präzisen Abschluss: „Alles was nicht aus Glauben (kommt), ist Sünde“. 15,1-13 liest sich als weiterführende ethisch-christologische Resonanz auf Kap. 14. Paulus gibt nun nach den längeren Ausführungen für die „Schwachen“ noch kürzere, christologisch unterlegte Verhaltensvorgaben für die „Starken“ (15,1-6) und beendet den ethischen Teil seines Briefes mit einer Art vorgezogener Schlussformel in 15,13.

b) Historische Einordnung: 1Kor 8-10 wirft Licht auf die Thematik von Röm 14. In Korinth geht es um die Frage, ob Gemeindeglieder Fleisch essen dürfen, das von „heidnischen“ Opferzeremonien stammt. Ein Großteil des auf den Märkten verkauften Fleisches war „Opferfleisch“, d.h. jenes Fleisch, das bei den Opfern übrigblieb. Außerdem bestand die Sitte, zu Mahlzeiten in Tempelrestaurants einzuladen. Paulus argumentiert schon in 1Kor folgendermaßen: „Keine Speise wird uns vor Gottes Gericht bringen“ – d.h. was wir essen, ist für unseren Glauben irrelevant. Relevant sind dagegen zwei Aspekte: erstens das eigene Gewissen, zweitens das Verhältnis zum Bruder in der Gemeinde. Das Gewissen: die „schwachen“ Gemeindeglieder haben Angst vor den Göttern (Paulus spricht im jüdischen Jargon von Dämonen) und beflecken ihr schwaches Gewissen, wenn sie (trotzdem) Opferfleisch essen. Die Brüder: die Christus-gläubigen Gemeindeglieder mit „starkem“ Gewissen versündigen sich, wenn sie die „schwachen“ Brüder zum Essen von Opferfleisch überreden, wenn sie auch Recht haben („die Erkenntnis“ haben, dass es keine Dämonen gibt). Soweit Paulus im 1. Korintherbrief.

In Röm 14 tritt der Aspekt des Opferfleisches zurück. Wolter, Römerbrief Bd. 2, 346-369, weist nachdrücklich darauf hin, dass Paulus nicht die korinthische Situation auf Rom überträgt, sondern die Römer allgemein über das Verhältnis unterschiedlicher Lebensstile belehrt. Offensichtlich handelte es sich dabei um ein wichtiges Thema in den frühchristlichen Gemeinden, das neben Speisetabus auch Kalenderfragen (Röm 14,5) betraf und das Paulus wahrscheinlich in Variationen allen seinen Gemeinden beobachtete. Es bildeten sich in den Christus-gläubigen Gemeinden verschiedenen Lebensstile aus, deren Vertreter ihre Lebensstile für Teil ihres neuen Glaubens hielten – fälschlich, wie Paulus meint.

4. Schwerpunkte der Interpretation. Worauf es hier ankommt?

Zwei thematische Bereiche sind in Röm 14,1-12 wichtig: erstens die Frage der unterschiedlichen Lebensstile, die Paulus in Hinblick auf das Verhältnis zu Gott und Christus für bedeutungslos erklärt (Wolter, 369), da sie trotz ihrer sachlichen Unterschiedenheit jeweils Ausdruck der christlichen „Orientierung am erhöhten Herrn“ sind. Zweitens geht es um eben dies Motiv der Orientierung am erhöhten Herrn in VV.7.8. Paulus weist die Christus-gläubigen Gemeindeglieder fort von der Kritik an den Brüdern und hin auf ihre Beziehung zu Christus.

5. Theologische Perspektivierung

Der Text enthält mehrere theologisch relevante Impulse. Besonders wichtig:

  1. 1.die Vorstellung des „starken“ und „schwachen“ Glaubens und die Warnung des Paulus, beides gegeneinander auszuspielen – was immer wieder im Verlauf der Kirchengeschichte geschehen ist,
  2. 2.die Vorstellung, nicht sich selbst, sondern dem Herrn zu gehören (dazu den ausgezeichneten Exkurs bei Wolter, 361-363),
  3. 3.die Verpflichtung auf Selbst-, nicht Fremdkritik angesichts des Endgerichts, das das individuelle Handeln und Verhalten richten wird.

Eine Predigt wird wahrscheinlich nur eines dieser Motive vertiefen und konkretisieren können.

Literatur

  • M. Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 2: Röm 9-16).EKKVI/2, Göttingen 2019.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Ertrag der Exegese

Die Exegese öffnet die Augen für die Brisanz dieses Predigttextes zum vorletzten Sonntag nach Trinitatis.

Es geht um „Lebensstile“ – ein Stichwort, das den ganzen Raum moderner Debatten umfasst, darum, wie wir einerseits leben können und dabei unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft garantieren und uns andererseits in (Welt)Kirche und Gesellschaft nicht trennen in die Wohlhabenden und die Armen, die Traditionellen und die Modernen.

Wie in der Gegenwart diese großen Überlebensfragen der Menschen und Völker an Beispielen des alltäglichen Umgangs mit der persönlichen Lebensgestaltung abgearbeitet werden, so verhandelt auch Paulus am Beispiel der konkreten Lebensgestaltung (Beachtung von Feiertagen / Essensvorschriften) grundlegende Fragen in theologischen Argumentationsmustern, die die Fragen des Alltags in das rechte (Glaubens)Licht rücken.

Man kann die Vehemenz, mit der derzeit in Deutschland und Europa über Ernährung, Müllentsorgung, Mobilität und Automarken, Straße oder Schiene gestritten wird, phänomenologisch durchaus parallelisieren mit dem Streit damals zwischen den Gemeindegliedern.

Darum scheint es unumgehbar, den Text ab V.14,1 zu lesen und zu predigen.

2. Theologische Fokussierung

Im Grunde geht es um die Frage: Wie viel Macht räumen Menschen der Angst ein? Der Angst um ihr irdisches und ewiges Leben bzw. der Angst vor der Zukunft.

Die sogenannten „Schwachen“ in den christlichen Gemeinden haben die ungeheure Freiheit, in die der Glaube an Christus führen kann, (noch) nicht ergreifen können.

Im Horizont des 1Kor gelesen - so lerne ich - weigern sie sich, Opferfleisch auf den Märkten zu kaufen bez. Einladungen in Tempelrestaurants anzunehmen. (Als Predigerin kann man sich das richtig ausmalen, wie schick das gewesen sein muss, in einem Restaurant in Nachbarschaft eines paganen Tempels, einen Lammbraten oder ein Zicklein zu bestellen. Danke an die Exegese für solche Konkretionen aus dem soziokulturellen Hintergrund).

Der Grund für die Weigerung damals ist die Angst vor der Macht der Götter, denen sie den Rücken gekehrt haben. Die sogenannten „Schwachen“ räumen ihren alten Göttern noch einen Panikraum in ihren Herzen ein, während die sogenannten „Starken“ im wahrsten Sinne des Wortes zugreifen und verstanden haben, dass „nichts unrein ist aus sich selbst“.

Es mag für viele von uns, die wir in den postkolonialen Debatten um die Relativität des eigenen Standpunkts wissen und die wir mit dem Fortschreiten der Aufklärung auch die Welt von Geistern und „Dämonen“ entzaubert haben, befremdlich klingen, dass es gerade der Glaube an den auferstandenen Christus sein soll, der uns die Angst nimmt und Freiheit verspricht. Aber könnte man nicht in diesem Christusglauben, wie ihn der Apostel versteht und vorträgt, einen massiv aufklärerischen Zug sehen?

Unsere Erklärungen, was unrein sei oder nicht, sind unsere menschlichen Zuschreibungen! Und wer über die Fragen der rechten Lebensführung das letzte Wort behält, das liegt bei einem Dritten. Wer Recht hat und wer Unrecht hat in den theologischen Debatten über das richtige Leben, diese Frage wird von Paulus in die Zukunft und auf den göttlichen Schiedsrichter verschoben.

Und an dieser Stelle endet die Analogie mit den modernen Streitigkeiten um die Lebensführung. Auch hier und heute geht es um Angst und auch hier geht es um Zukunft, aber der Streit heute ist so erbittert, weil immer weniger Menschen auf einen Schiedsrichter hoffen, der unsere Prioritäten an den rechten Platz rückt. Als Schiedsrichter gerieren sich heute unterschiedliche Apokalyptiker – auch aus den Wissenschaften - die uns Angst machen, ratlos und hilflos.

Paulus kann aus der Perspektive eines letzten Gerichts, das das Thema des Sonntags ist, einen wunderbaren Rat geben: Man kann Standpunkte nebeneinanderstellen und dort unentschieden einfach stehen lassen. Beides sehen: in Liebe. Stehenlassen und nicht richten!

Können wir heute andere Lebensstile und Meinungen, andere Einsichten und Perspektiven einfach stehen lassen? Der Druck im Kessel unserer säkularen Gesellschaften entsteht durch das Fehlen einer dritten Dimension. Bei uns überwiegen heute auf allen Seiten die Predigerinnen der Angst mit einem hochmoralischen Anspruch und dem Habitus des Überlegenen.

Man könnte natürlich argumentieren, dass wir Menschen keine Zeit mehr haben, in Fragen des Lebensstils irgendetwas stehen zu lassen. Glaubt man den Apokalyptikern, geht es um Leben und Tod. Aber was ist dann der Unterschied? Für die „Schwachen“, für die Paulus spricht, geht es auch um Leben und Tod und das Einhalten von Regeln und das Beachten der Feiertage.

Die Starken aber lassen sich nicht von der Angst regieren.

Sie wissen – vielleicht wäre das sogar die Pointe der Predigt – sie wissen, dass sie sich nicht selbst gehören, dass sie mit der Taufe in dem Christusraum Wohnung genommen haben, der die Grenzen zwischen Tod und Leben aufhebt.

Deshalb ist ihnen die Angst vor dem Tod genommen. Deshalb ist ihnen die Liebe zugewachsen, die unterschiedliche Meinungen und Lebensstile gelassen stehen lassen kann.

Weil ihnen die Zukunft gehört und Gott sei Dank am Ende ein anderer, ein Dritter darüber bestimmen wird, wer Recht behält und wer nicht. Und da steht dann nicht der Lebensstil in Frage, sondern der Glaube und die Liebe.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dr. h.c. Oda Wischmeyer (Einführung und Exegese)
  • Prof. em. Johanna Haberer (Praktisch-theologische Resonanzen)

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